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Berl.Festspiele

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Vokal – instrumental

Das 5.Musikfest Berlin – die ersten vier Tage

Dauer insgesamt: 02.-20.09.2011

Wolfgang RihmEr ist gleichsam die thematische Klammer dieses Musikfests: Wolfgang Rihm. Im kommenden März wird er 60. Unter dem Schlagwort „postmodern“ sorgt er seit über dreißig Jahren für Neues auch in den tradierten Konzertprogrammen. Mal großformatig als Aufriss eines Straussschen Heldenlebens, wie hier in „Verwandlung 3“, mit dem das Philadelphia Orchestra unter Charles Dutois grandios den offiziellen Auftakt zu diesem Musikfest gab, mal verhalten verinnerlicht mit nur wenigen gezielten Ausbrüchen, wie in seiner Requiem-Version „Et lux“. Das Huelgas Ensemble, begleitet vom Minguet Quartett, blendete damit am Vorabend des Musikfests in der Gethsemane-Kirche zurück auf den Ursprung der Musik, die menschliche Stimme, und die Wiege der Mehrstimmigkeit in den Mess-Kompositionen des 15.Jahrhunderts.

Die Koordinaten dieses 5.Musikfests Berlin bestimmen zwar kalendarische Daten, diese werden aber auch inhaltlich gedeutet. Im Oktober begeht man den 200.Geburtstag von Franz Liszt, dessen Musik durch den Missbrauch der Nazis lange verpönt war. Inzwischen erkennt man deutlicher auch die zukunftsweisenden Momente dieses mit seinem Schwiegersohn Richard Wagner als „Zukunftsmusiker“ gepriesenen oder angefeindeten Komponisten und Pianisten. Winrich Hopp, der findige Programmtüftler des Musikfests, will Liszt denn auch vor allem reklamieren als den Komponisten im 19.Jahrhundert, der das Klavier als gleichsam universelles Schlagwerk-Instrument entdeckte und ihm bis dahin ungekannte Seiten abgewinnen konnte – im Gegensatz zu Wagner, der seine Ästhetik aus dem Atem der Stimme, des Gesangs entwickelte.

In solchen Kontrasten und Überschneidungen ist das Programm aufgebaut. Und für das andere Ende des Bogens soll auch Luigi Nono stehen, der die Instrumental-Musik mit seinem ins Mikrotonale vorstoßenden „Prometeo“ gleichsam zur vox humana, zur menschlichen Stimme, auffächerte. Eine Hommage wird ihm am Schluss des Musikfests gewidmet sein. Wolfgang Rihm hat viel mit Nono zusammengearbeitet und dabei einiges gelernt für die Verfeinerung seines instrumentalen Komponierens – wie in einer Matinee mit dem Klarinettisten und Komponisten Jörg Widmann deutlich wurde. Widmann spielte da von Rihm „Stücke für Klarinette in A“, die ganz aus dem Atem des Instrumentalisten erklingen sollen; und Widmann kontrastierte sie mit dem eigenen 3.Streichquartett, das umgekehrt der als gepflegte Unterhaltung geltenden Gattung rauere Töne einschreibt. Und ähnlich kontrastierend, um das Gegensatzpaar instrumental-vokal kreisend, auch das Klavierrecital von Pierre-Laurent Aimard.

Bei Aimard lernte man den späten Liszt kennen, über dessen Sich-vor-Tasten in neue Regionen des Ausdrucks Richard Wagner eher abschätzig als Geklimpere zu sprechen pflegte. „La lugubre gondola“, die schaurige Gondel, nannte Liszt ein Stück, das 1885, zwei Jahre nach Wagners und kurz vor dem eigenen Tod entstand, und das vorausweist auf Debussy. Erweitert um andere Lisztsche Gelegenheits-Kompositionen und gemischt mit Sonaten von Alban Berg und Alexander Skrjabin, wird an der Harmonik oder Tektonik der Blick Liszts in die Moderne klarer. Aber zumal auch im Kontrast zu einem Albumblatt Richard Wagners, das der seiner nicht nur heimlichen Geliebten Mathilde Wesendonck widmete. Obwohl diese Züricher „Tristan“-Zeit Wagners radikalste war, ist diese Musik noch ganz dem schwelgerischen „Lohengrin“-Ton verhaftet.


Kleinmeisterlich

Die 10.MaerzMusik befasste sich mit „Klang-Bild-Bewegung“

18.-27.03.2011

Unhörbar leise beginnt das. Vier Cellisten sitzen hinter röhrenartigen Gazevorhängen, spielen Flageoletts am Steg. Auf die Gaze werden dann, immer mehr sich verdichtend, Punkte und Streifen projiziert. Die Geräusche werden fast ohrenbetäubend laut. Auf der Projektion erkennt man kristallartige Gebilde. Dann schwindet alles wieder ins Nichts. Eine Installation von Justè Jamulytè: „Sanduhren“.

"Tiere sitzen nicht"Eröffnet worden war das Festival mit einer Raummusik. Rebecca Saunders hatte in „Chroma XV“ kleine Gruppen von Musikern und Solisten in den Räumen des Café Moskau verteilt. Nähe und Entfernung von Klängen sollen ergehbar werden. Vor hundert Jahren hatte das Eric Satie schon ausprobiert in seiner „Musique de ameublement“. Die Provokation von einst wird hier zum Raumdesign. Einen „Instrumentenpark“ hat Enno Poppe entwickelt mit seiner Bühnenmusik für 200 Instrumente, bei der Klangerzeuger der verschiedensten Art zum Einsatz kommen vom leeren Benzinkanister bis zum Kontrabass. Unterstützt auch von Synthesizern älterer Bauart und mit Beleuchtungs-Akzenten szenisch aufgepeppt, geriet das in den Proportionen etwas unausgegoren. Und auch der wohl witzig gemeinte Titel „Tiere sitzen nicht“ entstammte eher dem Nonsens-Bereich.

„Klang-Bild-Bewegung“ ist das Motto der 10.MaerzMusik. Man will die neue Musik gern aus ihrer vermuteten Erstarrung befreien. Manches gerät dabei zur Mogel-Packung, wenn etwa in einem als „szenisch“ angekündigten Konzert des Ensembles „ascolta“ die Musiker unmotiviert sich gegenseitig vom Instrument schubsen, zum Opernglas greifen, oder durch Lichtwechsel Pseudodramatik erzeugt wird. Auch das finnische „Plus Ensemble“ mit Perttu Haapanens Monodram „Nothing to declare“ hatte kaum Relevantes zu bieten: Ein grimassierend-chargierender Sänger, der sich mit absurdem Theater von vorgestern abmüht, dazu drei Musiker in gelben Anzügen mit Notenaufdruck, die sich hin und wieder von ihren Sitzen erheben und Kartons über die Köpfe stülpen.

Bei Bernhard Lang weiß man, was man erwarten darf: musikalische Kleinstformeln, ins Unendliche repetiert und leicht variiert, gemischt mit elektronischem Sound, der, anfangs fast hypnotisierend wirkend, dann aber doch zur sanften Brise sich ausfächelt. Da ist „Licht-Zeiten“ von Michael Wertmüller und Lillevan, eine Live-Musik-Show mit Video, von härterem Zuschnitt. Der Ort, ein ausgedientes Kraftwerk an der Spree, der „Trafo“ – er wirkt wie eine Kathedrale. Wertmüllers Musik ist vom Jazz und der Sinfonik Kurt Weills beeinflusst. Die mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Video-Einzelbelichtung der jeweils agierenden 12 Musiker indes ist eher ein Witz. Design ersetzt hier die Frage nach dem Sein, wie so oft bei dieser MaerzMusik.

Nein, der stärkste Jahrgang war diese Jubiläums-Zehnte nicht. Und unklar ist, wie es mit dem Festival weitergeht; die Festspiele bekommen im Herbst einen neuen Intendanten. Was jedenfalls heuer als großes Plus angepriesen wurde, die Vernetzung gleichgerichteter Veranstalter im „Réseau Varèse“, erwies sich als allenfalls Kosten-Bremse. Neue Konzepte förderte sie nicht.Schon das Festival-Motto „Klang-Bild-Bewegung“ deutete eher auf Ratlosigkeit. Multimediales gehört zur Musik seit mindestens dem vergangenen Jahrhundert.

Immerhin, es gab neue Musik-Untermalungen zu alten bis sehr alten Filmen. Aber die MaerzMusik will ein Festival „aktueller Musik“ sein. Und mit ihrem Namen bezieht sie sich ja immerhin auch auf Kurt Schwitters. Da wäre die Wiederaufführung eines Werks von Mauricio Kagel von anno 1975, „Mare nostrum“, über die Entdeckung, Befriedung und Konversion des Mittelmeerraums durch einen fremden Stamm, vermutlich zeithaltiger gewesen als all die hier präsentierte video-logisierte Kleinmeisterei.


Auf den Spuren der
Nachkriegs-Avantgarde

Das 4.Musikfest Berlin widmete sich Pierre Boulez und Luciano Berio

02.-21.Sept. 2010

Es ist wie ein Eintauchen in die jüngere Vergangenheit, Spurensuche in Sachen neue Musik. Und Pierre Boulez, inzwischen 85 Jahre alt, ist einer ihrer letzten lebenden Repräsentanten. Nicht nur als Komponist war er präsent bei diesem Musikfest Berlin, sondern auch mit dem von ihm vor 33 Jahren gegründeten IRCAM, dem Institut für musikalische Recherchen und Akustik, und persönlich als Dirigent. Wie etwa mit „….explosante-fixe…“, einer Musik zwischen ekstatischer Erregung und einer an Wagners „Tristan“ erinnernden Klanglichkeit.

„….explosante-fixe…“ ist eine Art Huldigung an Igor Strawinsky, dessen Musik für Boulez ebenso prägend war wie die der Schönberg-Schule. Und wie meist bei Boulez, der ursprünglich nach dem Willen des Vaters Mathematiker hätte werden sollen, liegt dem Stück ein literarischer Text als Bezugspunkt zu Grunde. Allerdings handelt es sich um keine direkte Textkomposition wie etwa bei „Le Soleil des eaux“ nach René Char. Ursprünglich war das eine Hörspielmusik zu einem ökologischen Lehrstück über die Verunreinigung von Wasser durch eine geplante Gipsfabrik. Die Erst-Fassung datiert von 1948, hier in der „üppigeren“ Fassung von 1965.

Was überhaupt auffällt an dieser Musik der 1950-iger und -60iger Jahre sind die großen Apparate, für die sie entstand. Kaum ein Komponist heute würde noch wagen, für derart große Live-Ensembles zu schreiben; den Part muss nun meist die Elektronik übernehmen. Ein Luciano Berio, der zweite große Name dieses Musikfests – im gleichen Jahr 1925 wie Boulez geboren, 2003 in Rom gestorben –, Berio bewegte in einigen seiner Werke Musikermassen von Mahlerschem Umfang, etwa in seiner Mahler direkt auch zitierenden „Sinfonia“. Oder er mischte in „Coro“ geschickt menschliche Stimmen und Instrumente, wobei jedem von 40 Vokalsolisten je ein Instrumentalist zugeordnet ist.

Das aus den 1970-iger Jahren stammende Werk zeigt aber auch schon den Einfluss der damals aufkommenden Pattern Music, ständig wiederholte rhythmische Muster, die durch ihre Repetition einen inneren Sog ausüben. Im Unterschied zu dem eher hermetischen Boulez war der Italiener Berio sehr viel offener gegen äußere Einflüsse. Anders als Boulez, der in seinen frühen Jahren als musikalischer Leiter der Schauspieltruppe von Jean-Louis Barrault ausgedehnte Reisen außerhalb Europas unternommen und die jeweilige indigene Musik studiert aber in seinem Werk weitgehend verleugnet hatte, war Berio auch hier sehr viel zupackender. Nicht nur hat er in „Coro“ Texte aus sehr entfernten Kulturen zwischen Polynesien und Europa verarbeitet. In seinen „Folk Songs“ von 1964 adaptierte er ganz direkt Lieder aus seiner und seiner Frau, der Sängerin Cathy Berberian, näheren und ferneren Heimat: Von Sizilien bis Aserbaidschan.

Einmal mehr glänzte das Musikfest durch seinen Facettenreichtum in Programmierung und Interpretation. Mit fast drei Wochen scheint es allerdings etwas auszuufern. Und auch massentauglich ist ein solches Programm nicht, trotz eingestreuter Abende mit Musik von Bach oder aus dem späten Mittelalter. Und als verbindendes Glied gab’s da noch Strawinsky, der von manchem Apologeten der Nachkriegs-Avantgarde gern als deren Antipode stilisiert wurde. Für Pierre Boulez war er das nie, sondern eine der Wurzeln der Moderne.


Jenseits-Welten

Die „MaerzMusik“ Nr.9 fragt nach dem morgen

19.-28.03.2010

Rithaa „Utopie [verloren]“ stand über der neunten Berliner „MaerzMusik“. Themen für Festivals sind praktisch. Sie signalisieren ein konzeptionelles Dach für die vielen unterschiedlichen Konzerte und Performances. Und über Utopie nachzudenken lohnt sich, auch wenn es wenig opportun scheint heute und es Völker gibt, für die Zukunft ein Fremdwort ist – und die dabei vollkommen glücklich sind.

Ganz direkt instrumentiert wird das Festivalthema in Thomas Kesslers letztes Jahr in Weimar uraufgeführtem Orchesterstück „Utopia“, das jedem Musiker die Modulierung seiner Stimme an einem Laptop erlaubt. Mittelbarer ist das bei Klaus Huber angedacht in seinem religiös motivierten „Erinnere dich an Golgatha…“, einem an zarten Flageolett-Tönen reichen Kontrabass-Stück, gespielt vom Zürcher Collegium Novum. Um ihr Thema griffig zu bebildern, setzte die „MaerzMusik“ aber vor allem auf Musiktheatralisches. Aus Basel zeigte man mit viel Beifall Beat Furrers soeben uraufgeführtes „Wüstenbuch“ in Marthalers serialisierter Inszenierung. Daneben (aus Salzburg 2008) Salvatore Sciarrinos „Luci miei traditrici“ („Meine trügerischen Augen“) über des Renaissance-Fürsten und Komponisten Carlo Gesualdo da Venosa Eifersuchts-Mord unter Furrer am Pult und in dem szenisch nur bemühten Arrangement von Rebecca Horn.

Politisch korrekt buchstabierten die Komponistin Lucia Ronchetti und der Szeniker Michael von zur Mühlen das Thema. „Der Sonne entgegen“ heißt ihr ästhetisch eher zwiespältig stimmendes Opus. Man sieht eine mit viel Video-Material unterlegte tour d’horizon aktueller Themen von der Migranten- bis zur Klima-Problematik. Zwischendurch gibt es gut gemeinte Vorträge, eine Pseudo-Talkshow, mündend in einen appellartigen Aufschrei, der den Zuhörwilligen freilich endgültig abschalten lässt, zumal im ersten Drittel aber mit klanglich bemerkenswerten Akzenten. Um die Stalinsche Kulturpolitik kreisen die „Telegramme“, die William Kentridge als Studien für seine New Yorker Inszenierung von Schostakowitschs Oper „Die Nase“ in einem Zeichentrickfilm kompiliert hat. Ein Sprecher rezitiert dazu live ZK-Dokumente. François Sarhan, selbst der Rezitator mit Flüstertüte, hat eine „elektrisch“ klingende aparte Musik unterlegt, die das Iktus-Ensemble auf „strohig“ trockenen Streich- und Zupfinstrumenten mit Blechblas-Trichtern und einem Synthesizer spielt.

Mit arabischen Trauerritualen befasst sich die in Berlin lebende Schweizerin Mela Meierhans in „Rithaa“, dem zweiten Teil ihrer „Jenseitstrilogie“. Zusammengetan hat sie sich dafür mit der palästinensischen Sängerin, Komponistin und Ud-Spielerin Kamilya Jubran. Zwei Alphörner und eine hackbrettartige Santur gehören zum exquisiten Instrumentalensemble. Entstanden ist eine multimediale, manchmal jazzig swingende Mischung aus westlicher und nahöstlicher Moderne. Wie schwebend improvisiert klingt das, wenn Kamilya Jubran singt zu ihrer Ud. Beeindruckend auch die eingeblendeten Filmaufnahmen mit einem professionellen ägyptischen Klageweib, wie sie im steinigen Sand die Hände kreisen und den Staub auf ihr Kopftuch rieseln lässt. Und doch schien der erste Teil von Meierhans‘ Trilogie über innerschweizer Totenrituale packender.

Für mich der Höhepunkt des Festivals waren die Lieder, die der nun 80-jährige Dieter Schnebel zu nachgelassenen Gedichten von Ingeborg Bachmann komponierte. Schnebel gehörte ja zur ersten Generation der jungen „Darmstädter“ Komponisten, der sich dann allerdings vor allem von John Cage beeinflussen ließ. Die Texte stammen aus Bachmanns Zeit nach der Trennung von Max Frisch, als die Dichterin sich in psychiatrischer Behandlung in Berlin befand und neues Leben suchte bei einem Schwarzen in Afrika. Zeilen aus Märchen („Schneewittchen“) und Wagners „Tristan“ durchwehen die Gedichte. Schnebel nutzt die Wagnerschen Harmonien als glitzernde Edelsteine einer imaginären Jenseitswelt. Er bindet sie ein in einen mal balladesken mal Litanei-artigen Sprechgesang mit auch Lauten asthmatischen Röchelns einer an den Rand des Lebens gedrängten Frau – nicht nur „mild und leise“, wie der Titel sagt, interpretiert von der Sopranistin Susanne Otto.


Rückblick auf ein Jahrhundert der Extreme

Das musikfest berlin 09

03.-21.09.09

So die Erwartungen zu düpieren – das wagte sonst keiner. Klassizistisch-heiter wie einen Frühlingsausflug lässt Dmitri Schostakowitsch seine Neunte Symphonie zum Ende des Zweiten Weltkriegs beginnen. Kein Pomp, kein Bombast, kein Stalin-Sieger-Kult. Stattdessen gleichsam Figuren wie Marionetten an den Fäden des Generalissimus im Großen Vaterländischen Krieg, die zu ihm aufblicken sollen in einer gigantischen Inszenierung. Und dahinter immer die Grimasse der Unterwerfung.

Die Rache Stalins folgte. Auf dem Gründungskongress des sowjetischen Komponisten-Verbands 1948 musste Schostakowitsch, der in seiner Siebenten Symphonie nicht nur die Leiden der von den Nazis ausgehungerten Stadt Leningrad betrauerte, Selbstkritik üben. Er verstummte. Und erst nach dem Tode des Diktators konnte Schostakowitsch in seiner Zehnten Symphonie triumphieren. Die zeigt Stalin als den brutalen, selbstherrlichen Verbrecher, ist gleichsam ein Tanz auf seinem Grab und mit der Hoffnung auf mehr Freiheit.

Das symphonische Werk von Dmitri Schostakowitsch als komponierte Biografie steht im Mittelpunkt des Musikfests Berlin. Spitzenorchester aus Deutschland, England – von dort allein fünf –, aus Holland und Amerika sind eingeladen, keines allerdings aus Russland. Anlass sind die runden Gedenktage: 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Bundesrepublik, 70 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Daneben gibt es eine kleine Abteilung mit Haydn, dem Jubilar dieses Jahres, „Erfinder“ des Deutschlandlieds und der großen Symphonik. Und erinnert wird an Iannis Xenakis. Als Kind kam er aus Rumänien nach Griechenland, ging dort zur Schule, lernte die Antike lieben, war aktiv im antifaschistischen Widerstand. Der Verhaftung entkam er nur durch die Flucht nach Frankreich. Massenphänomene wurden für ihn von zentraler Bedeutung auch für seine kompositorische Arbeit. Als (im ersten Beruf) Architekt und zeitweiliger Mitarbeiter von Le Corbusier faszinierte ihn zudem die Erforschung des Raums. Eines der Schlüsselwerke, „Nomos Gamma“, das Gesetz der Drei, gemeint der Drei-Dimensionalität, erklang zum Auftakt des Festivals mit im ganzen Raum verteilten Musikern.

Glänzend disponiert zeigte sich das BBC-Symphonieorchester unter David Robertson. Aber auch das Concertgebouworkest Amsterdam unter Mariss Jansons und das London Philharmonic unter Kurt Masur ernteten mit der Schostakowitsch-Zehnten bzw. -Siebenten wahre Beifallsstürme. Als arg in die Jahre gekommen erwiesen sich Karlheinz Stockhausens „Hymnen“ am Festival-Vorabend mit den durchaus hintersinnigen elektronischen Aufspaltungen des Deutschlandlieds und anderer Nationalgesänge, trotz der luxuriösen Vorführung in der fast leer geräumten Philharmonie.

Erstaunlich, wie gut das Publikum mitspielte. „Leicht“ zu rezipieren ist ein so mutig nach rein inhaltlichen Kriterien programmiertes Festival nicht, auch wenn die von dem Historiker Habsbawm fürs Programm entlehnte Leitlinie etwas zu kurz greift. Das 20.Jahrhundert ist zwar eines der Extreme mit seinen mörderischen, ideologisch motivierten, industriell organisierten Vernichtungs-Kriegen. Die aber sind keine Erfindung erst des 20.Jahrhunderts. Bereits im Amerika der Civil Wars wurden sie erprobt und dann in Europa eifrig kopiert und „perfektioniert“.


Neues von Radio Jerewan

Die „MaerzMusik“ widmet sich „Russland und den Eurasischen Schwellen“

20.-29.März 2009

Sie sind leise, so leise, dass man sie kaum hört: Understatement, Verweigerung, Protest? Schwer haben sie im Glas-Innenhof des festungsgesicherten Jüdischen Museums anzukämpfen gegen das Surren der Air Conditioning. Meist gewinnt die Luft-Aufbereitungs-Anlage. Die Streicher – ein Geiger und ein Cellist – streichen vorzugsweise am Korpus ihres Instruments. Vom Akkordeon hört man kaum mehr als einen Hauch. Beim Klavier wird nur an den Saiten gezupft. Lediglich die Klarinette ist – instrumentenbedingt – gelegentlich mit „klingenden“ Tönen zu vernehmen. Und dann wird’s bei dieser Matinee des „Moscow Contemprorary Music Ensemble“ doch noch etwas polterig mit auf den Boden stampfenden Füßen und minimalistischen Figuren.

Etwas deutlicher sind die Signale bei der folgenden Diskussion: Ja, es geht aufwärts mit der Neuen Musik in Russland. Es gibt zwar eigentlich kein Geld, aber es findet sich doch immer mal welches. Das Moskauer Kulturministerium spendiert auch hin und wieder Bares, aber das bleibt meist hängen in der quirligen Hauptstadt. Eine Gruppe von jungen Komponisten um Dmitri Kourliandski hat sich, als die neue Musik 2000 am Boden lag, zur „Structural Resistance Group“ STRES zusammen gefunden, eine Art Selbsthilfe. Seit vier Jahren organisieren sie Konzerte, Festivals. Auch in der Provinz. In Petersburg veranstaltet eine andere Gruppe ein Festival, das auf den lateinischen Namen „pro arte“ hört. Die Stücke werden gefiltert über Ausschreibungen im Internet. So können auch Komponisten aus der Provinz sich Gehör verschaffen. Am Ende gibt’s Anerkennungspreise.

„MaerzMusik“, das Festival für „aktuelle Musik“ der Berliner Festspiele – in diesem Jahr hat es sich mit einem Schwerpunkt der Szene Russlands und einiger angrenzender ehemaliger Sowjet-Republiken gewidmet. Die Komponistinnen und Komponisten, von denen da Werke aufgeführt wurden, haben sich über Studien und Stipendien im Westen bekannt gemacht, bringen gleichwohl ihre eigenen Erfahrungen mit: Petros Ovsepyan etwa aus Baku, der in seinem Stück „Crossed“ auch einen Granitsteinblock behämmern und mit dem Meißel streichen lässt, als staubende Erinnerung an die vielen Denkmale zuhause; Jamilia Jazylbekova aus Kasachstan, die mit ihrer „Nuit de Mars“ dem Frühlingsbeginn symbolisch huldigt; Artjom Kim aus Uzbekistan, der mit seiner „Prozession II“ und den Musikern des „Nieuw Ensemble“ ein religiöses Einkreisungs-Ritual inszeniert gegen wohl staatliche Bevormundung, einen elektronisch verstärkten brummelnden Kontrabass.

In der zweiten Hälfte dieses Festivals unter dem Motto „Reduktion-Struktur-Dekonstruktion“ wird noch erinnert an die Musikszene der Antipoden, das Amerika von John Cage bis Steve Reich und George Crumb. Zu Beginn gab es mit den exzellenten Solistinnen Salome Kammer und Carolin Widmann György Kurtágs „Kafka-Fragmente“, wunderbar ausgesparte Miniaturen, in einer freilich eher kunstgewerblichen szenischen Einrichtung. Fürs Musiktheater haben die „MaerzMusik“-Macher noch immer kein Gespür. Den Auftakt gestalteten „Les Percussions de Strasbourg“ mit einem 70-minütigen Stück von Hugues Dufourt für sechs Schlagzeuger und 150 Instrumente, „Erewhon“, ein in seiner Virtuosität dann doch leicht leer laufendes Stück – und ein bisschen wirklich wie Radio Jerewan.


Spirituell

Das vierte Musikfest Berlin

04.-20.Sept. 2008

Die Augen auf ...Das Vogelkonzert aus Olivier Messiaens „Éclairs sur l’Au-Delà…“, den „Gedanken über das Jenseits“ erklang mit dem Deutschen Symphonie Orchester unter Ingo Metzmacher. 1992 zum 150.Geburtstag der New Yorker Philharmoniker entstand es und wurde uraufgeführt erst einige Monate nach dem Tod des französischen Komponisten. Im Dezember vor hundert Jahren wurde Messiaen in Avignon geboren. Die Spiritualität des Ortes hat auf ihn zeit seines Lebens gewirkt. Die „Éclairs“ schrieb er einige Jahre nach seinem bekenntnishaften Opernwerk über den heiligen Franziskus. Messiaen war einer der wesentlichen Ideengeber der jüngeren Komponisten-Generation nach dem zweiten Weltkrieg. Sein Werk stand im Mittelpunkt des diesjährigen Musikfests Berlin. Vor allem auch seinen frühen und frühesten Stücken konnte man hier begegnen. Sie zeigen – wie das „Tombeau“ auf den Tod seiner Mutter – dass vieles von seinem Stil wie die metallenen Mixtur-Klänge, die zu breitem Mahlstrom sich ausweitenden Hymnen schon bei dem Messiaen der 30iger Jahre vorgeprägt ist.

Flankiert wurde Messiaen von zwei anderen spirituell orientierten Komponisten, Anton Bruckner zum einen und Karlheinz Stockhausen, der heuer 80 Jahre alt geworden wäre, zum anderen. Mit „Stimmung“, einer Komposition aus den politisch zerrissenen 1970iger Jahren, als Stockhausen sich von seiner technizistischen 60iger-Jahre-Phase mit den immer neuen Versuchen elektronisch-serieller Kompositionen abwandte, wurde erinnert an einen wesentlichen Zug in Stockhausens Denken. „Stimmung“ ist der Versuch von sechs Sängern, auf einander und gleichsam improvisatorisch auf ihr Inneres zu hören. Der meditative Charakter mit auch entsprechend garniertem Äußeren wirkt heute freilich trotz der erotischen Eindeutigkeiten doch schon etwas angestaubt.
Ergänzt wurde die Stockhausen-Abteilung unter anderem mit einer der Inkunabeln der neueren Musik, den „Gruppen“ von 1957, einem für den frühen Stockhausen ungewöhnlich klangsinnlichen Werk, in dem Stockhausen versuchte, die tradierte Hierarchie zwischen den Klanggruppen der Orchester und auch die zwischen Orchester und Dirigent aufzuweichen. Für die optimale Aufstellung der drei räumlich getrennt agierenden Orchester waren Berlins Philharmoniker und Sir Simon Rattle sowie die zwei „Unter“-Dirigenten Daniel Harding und Michael Boder in einen Hangar des Flughafens Tempelhof ausgewichen.
Die „Gruppen“ mit ins Programm zu nehmen, hatte Musikfest-Leiter Winrich Hopp bei seinen Gesprächen mit Stockhausen vor dessen Tod letzten Dezember freilich Mühe, den Meister zu überzeugen.

HOPP: Er hätte lieber ganz neue Sachen gehabt. Ich hab dann schon drauf beharrt, ich will die „Gruppen“ haben. Und ich hab‘s immer wieder beim Stockhausen erlebt, wenn man ihm klar gemacht hat, warum man etwas will, dann war er am Ende auch richtig dabei.

Immerhin ein ganz neues, das letzte aus seiner Produktion, wurde ad hoc in einem Konzert der MusikFabrik NRW ins Programm integriert, das Streichtrio „Hoffnung“ mit zweimaligem von allen drei Musikern unisono zu sprechenden „Dank“ an Gott für „das Werk“ à la Bachs „Soli Deo Gloria“, einem b-a-c-h-Zitat und erstaunlich redundant kreisenden Verzierungen in allen Stimmen.

Erstmals in diesem Jahr hat das aus den Berliner Festwochen hervorgegangene „Musikfest“ ein eigenes Gesicht gefunden. Ob es dazu unbedingt einer Parade europäischer Spitzenorchester bedarf steht dahin. Das Wichtigste ist sicher eine klug vernetzte Programmplanung, wobei man sich auch kompaktere Laufzeiten durchaus denken und wünschen kann.


Wanderungen – jenseits

Auftakt zur „MaerzMusik“ Nr.7

07.-16.März 2008

Nomi und MusikerDer Mann hatte eine ungewöhnliche Stimme bei schrillem Aussehen: Zierlich, androgyn, mit gegelter Krönchen-Frisur und in futuristischen Kostümen wirkte er wie ein Außerirdischer. Ein Kult-Star der New-Wave-Bewegung, aber eigentlich Konditor aus dem Bayerischen Allgäu. Über Essen und Berlin kam er nach New York, posierte mit Filmschlagern, Marlene-Dietrich-Songs, Rock ’n Roll und zurück zu Purcell. In dem „Song Play“ von Olga Neuwirth und Thomas Jonigk ist die Figur gespalten in den Countertenor Andrew Watts und den Schauspieler Marc-Michael Bischoff. 1983 verstarb er, Klaus Nomi alias Sperber, kaum 40jährig an Aids.

Szene: Die gute Nachricht, gegenüber stehe ich und erwarte Sie dort, wo ich schon immer gewesen bin – am anderen Ufer.
OTTINGER: Was Olga Neuwirth und Jonigk da gemacht haben - das ist ja eigentlich eine Art Requiem. Ich habe es also überhaupt nicht als eine Personality Show gesehen. Sondern ich glaube was sie daran interessiert hat, das ist eine extreme Figur, die auftaucht und etwas anders macht, was damals so nicht gemacht wurde.

So Ulrike Ottinger, die das als eine hoch stilisierte Vanity-Schau mit vielen Fotos mittelalterlicher und barocker Gevatter-Tod-Darstellungen unterlegt hat. Auch das kleine Orchester, auf der Drehscheibe platziert, spielt in Kostümen, halb Todesgerippe, halb Zirkus-Clown mit buschigen Federn. Der Sänger prunkt in einem roten Kostüm der Shakespeare-Zeit, der Schauspieler kommt im spacig weiß-schwarzen Outfit daher, zwischen Oskar Schlemmer und Raumschiff Enterprise. Auch die Musik changiert zwischen schräg aufbereiteten Nomi-Songs und barocken Zwischenmusiken als gleichsam Karussell des Todes.

Der doppelte Klaus „Wanderungen“ ist das Thema der diesjährigen „MaerzMusik“, des Festivals der Berliner Festspiele für „aktuelle“ Musik, wie es bewusst unscharf heißt und eindrucksvoll mit dieser Jenseits-Wanderung begann. Gewandert wird ansonsten auf der iberischen Halbinsel, aber auch nach Mexiko oder ins Australische Outback, wo der Geiger John Rose über 50.000 km Viehzäune erkundet hat und als Live-Video-Installation zum Klingen bringt – auch wenn es heute gewiss anstößigere Grenzbefestigungen gibt als diese.

In einer Sprechpartitur für Solosopran und flüsternde Stimmen lässt Lucia Ronchetti Marcel Prousts „Albertine“ erstehen. Wie eine verlassene Ariadne erscheint Albertine in einer Muschel aus Blechteilen mit ihren Erinnerungen, Sehnsüchten, Obsessionen. Die inneren Stimmen als gleichsam Echo sitzen im Auditorium um sie herum. Oder Altmeister Mauricio Kagel versammelt in „Motetten“ für acht Celli höchst ironisch alle möglichen musikalischen Sprechformeln.

Klangsinnlich die „LinguoFarinCampanología“ des Madrilenen Llorenç Barber. Er arbeitet mit Becken und einem transportablen Glockenturm. Durch Manipulation mit Mund, Zunge, Mundhöhle bekommen die Becken und Glocken einen schwebend-sphärischen Klang – ähnlich wie bei einer Maultrommel. Es ist Musik mit allereinfachsten Mitteln, ohne technischen Aufwand, dafür mit einem Höchstmaß an persönlichem Ausdruck: Das, was es heute neu zu entdecken gilt.


Odyssee zu neuen Sternen

Das JazzFest Berlin 2007

31.10.-04.11.07 (über die beiden ersten Tage)

Er gilt als neuer Shooting Star, der Finne Kalle Kalima. In Helsinki und Berlin hat er an den Musikhochschulen studiert. An vier Abenden darf er dem JazzFest Berlin mit seinem „Omnibus“-Projekt den Stempel des immer noch ein bisschen „Avantgardischen“ aufdrücken. Zurückgezogen hat man sich dafür in einen Club seitlich des Ku‘Damm, ins „A-Trane“. Vier Musiker sitzen da am ersten Abend auf der Bühne. Ein Saxofonist, ein Akkordeon-Spieler, einer am Kontrabass und eben Kalle Kalima an der E-Gitarre. Sie begeben sich auf eine Odyssee zu Stanley Kubrick.
Alle vier mühen sie sich, ihren Instrumenten unvertraute Klänge zu entlocken. Kalima tastet seine E-Gitarre schon mal mit merkwürden Fühlern ab, und die Saiten beginnen plötzlich ganz anders als gewohnt zu vibrieren. Oder er klemmt eine Wäscheklammer auf den Steg, und der Klang trocknet gleichsam aus. Das Akkordeon fiept in den höchsten Lagen oder brummelt in den Tiefen, der Kontrabasskörper dient auch schon mal als Resonanzboden für Trommelschläge, das Saxofon – und manchmal werden gleich zwei bespielt – gerät mit gestoßenen Attacken wie in Atemnot.
Das JazzFest Berlin macht sich klein, und will doch groß sein, indem es in die Hinterhöfe und Nischen leuchtet. Zum Teil aus finanziellen Gründen, zum Teil aber auch aus Prinzip. Das Neue, sagt JazzFest-Leiter Peter Schulze, mischt sich abseits des Rampenlichts. So gibt es große Namen nur selten. Im Haus der Festspiele, dem Stammquartier, aber etwa den Posaunisten Ray Anderson. Er tritt auf in einem Trio „BassDrumBone“ – wie der Name schon sagt mit Kontrabass und Drums als Partnern.
Etwas ganz Besonderes hatte Schulze sich ausgedacht für den Auftakt des letzten von ihm programmierten Festivals mit „Chaabi“-Musik. Chaabi ist eine Mischung aus jüdischen und arabischen Elementen, entstanden in der algerischen Kasbah. Eine Art Volksmusik. Sie spiegelt Migration, Integration und Exil. Die Juden brachten im 19. Jahrhundert ihre Musik aus Andalusien nach Nordafrika. Dort mischte sie sich mit der Arabiens und hatte ab den 1930er Jahren ihre große Zeit. Sie verschwand, als nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 immer mehr Juden auswanderten, sich zerstreuten meist nach Frankreich.
Jetzt haben die alten Männer sich wieder neu gefunden, einige junge sind dazu gekommen: Ein Orchester von 37 Männern, keine Frau. Doch eine Frau, eine Dokumentarfilmerin, brachte sie zusammen aufgrund einer Recherche zu dieser verschütteten musikalischen Tradition. Eine wilde Mischung aus Gitarren, Mandolinen, Banjos, Kniegeigen, Hackbrett, Klavieren, Schlagwerk und einem Rundgesang, bei dem fast jeder mal Solist mal Chorist sein darf, sieht und hört man da nun auf der Bühne.
„El Gusto“ nennt sich die Gruppe. Ihr Wieder-Zusammenkommen hat etwas von Nostalgie aber auch von Hoffnung. Abdelmadjid Meskoud, ihr führender Kopf, sagt in einer Diskussion am Rande, man wolle mit dieser Neuformierung der Truppe auch protestieren gegen die Politik – eine falsche Politik, die einen Keil treibt zwischen Juden und Arabern. Dass sich mit dem gemeinsamen Musizieren die Verhältnisse umkehren lassen, glaubt niemand. Und die jüdischen Musiker wagen sich auch noch nicht wieder zurück nach Algerien. Man trifft sich in England, in Frankreich. Aber es ist ein Zeichen – wie etwa auch Daniel Barenboims West-Ost-Diwan-Orchester.


Technik-Paradiese

„Stifters Dinge“ zur Eröffnung von „spielzeit europa”

05. Okt. 2007

Stifters Monster-DingGegen Ende treten die wie zu einer Fels-Steilwand übereinander getürmten Klaviere dann doch noch richtig in Aktion. Ferngesteuert spielen sie, was Heiner Goebbels am besten kann und woher er auch kommt, Jazziges. Die Brücken, auf denen die Klaviere montiert sind und die wie Schlitten über drei mit Wasser gefüllte Becken gleiten, sind dann nach vorn gefahren, nah ans Publikum. Später gleiten sie wieder zurück. Aus den Wasserbecken steigen Bläschen auf und Nebel wie matt blubbernde heiße Quellen. Der technische Aufwand dieser 70-Minuten-Show ist gewaltig. Computer-gesteuert werden hier Klaviersaiten gestrichen und geschlagen, Blasrohrklappen betätigt, Steine bewegt, Leinwände ausgefahren. Man darf staunen über soviel Technikgeist. Und der künstlerische Ertrag?
Stifters Dinge“ nennt Goebbels sein jüngstes Opus: ein Klavierstück ohne Pianisten, ein Theaterstück ohne Schauspieler, eine Performance ohne Performer, wie es schnittig im Werbetext heißt. Stifter wird auch zitiert, sogar in einer längeren Passage. Man muss sich Zeit nehmen für diesen Dichter des Biedermeier, der minutiös das Kristallisieren von Eis zu beschreiben wusste und bei dem die „Dinge“ – das Unbekannte, das Fremde, die Natur – ein besonderes Interesse hervorlockten. Dann wieder ertönt eine Stimme eines Papua aus Neuguinea, aufgenommen vor hundert Jahren von einem Forscher. Oder Claude Levi-Strauss erzählt, warum es keine Paradiese mehr gibt. Oder es tropft Wasser aus dem Bühnenhimmel in die Becken drunter und dazu ertönt – natürlich – Bach.
Es gibt auch Momente, in denen man das Gefühl hat, vom Stifterschen Geist etwas vermittelt zu bekommen: wenn etwa die drei Leinwände so immer wieder anders voreinander verschoben werden, dass sie das von hinten einstrahlende Licht in unterschiedlicher Dichte durchlassen – wie wandernde Wolken. Oder man sieht eine kleine weiße Tafel – Bildschirm-groß – im Raum gleiten. Und es werden Ausschnitte darauf sichtbar aus einem Jagdgemälde aus dem 15.Jahrhundert, das ins Dunkel projiziert wird. Reiter, Hunde, Pferde werden durch die Reflektion beleuchtet: Wie unter einem Mikroskop, einer Lupe. Heiner Goebbels hat dafür auch eine Theorie, und die erläutert er so:

GOEBBELS: Das Theater soll weniger Mitteilung über die Realität machen – davor hat schon Heiner Müller gewarnt –, sondern es soll sich als eigene Realität behaupten: für eine künstlerische Erfahrung, und die hat z.B. bei „Stifters Dinge“ auch etwas mit einer Entschleunigung zu tun, die uns eine andere Aufmerksamkeit ermöglicht.

Mit „Stifters Dinge“ eröffnen die Berliner Festspiele ihre herbstliche Theater-Schau „spielzeit europa“. Diesmal will sie, ausgehend vom Living Theatre der 1968-iger ff Flower-Power-Jahre, nach den einstigen und neuen Paradiesen forschen. Das im Fall von „Stifters Dinge“ ist ein sehr künstliches und kann die Grenzen zum Kunstgewerblichen nie ganz vermeiden. Da waren das Maschinentheater der Futuristen und die musiktheatralischen Material-Erforschungen eines Mauricio Kagel in den 1960-iger / 70-iger Jahren sehr viel ehrlicher, bescheidener, glaubwürdiger - und interessanter. Goebbels und sein Bühnenausstatter Klaus Grünberg haben viel Zeit investieren, viele Apparate und Maschinen bauen, die Software entwickeln lassen können für ein richtiges Tournee-Wunder-Theater. So viel Luxus ist selten geworden heute. Vielleicht ist das ja das Paradies, nach dem hier eigentlich geforscht wird.


Kopflage

Die sechste „MaerzMusik“ erklimmt die Alpen

16.-25.März 2007

MaeMu 2007Das Beste hob man sich auf für den Schluss. Jenes Stück der Schweizer Komponistin Mela Meierhans mit dem seltsamen Titel Tante Hänsi – Ein Jenseitsreigen, in dem sie grübelt über Leben und Tod. Erzählt wird in auf Übertiteln übersetztem innerschweizer Dialekt, wie man umging früher mit den Toten: Wie man versuchte, langsam von ihnen Abschied zu nehmen im häuslichen Kreis; welche Vorkehrungen man traf, dass sie nicht als „Untote“ wiederkehren; wie man ihrer zu gedenken hatte. Auch was die Frauen tun konnten, wenn sie Kinder nicht wollten; oder wie man Totgeborene in den Sarg von „regulären“ Toten mit hinein gab, um ihnen als Ungetauften eine Bestattung zu ermöglichen; wie man im Winter Tote auch schon mal bis zur Schneeschmelze kühlte, und was passieren konnte, wenn man vergaß, wo sie gelagert waren.
Geschnitzte Totemfiguren verstärkten in diesem Klangtheater optisch den Eindruck. Kontrastiert werden von Meierhans die Erzählungen mit den barschen Anordnungen, wie der Tod heute klinisch clean zu verwalten ist. Und sie untermalt dies mit einer modernen Tonsprache von Alphorn, Akkordeon, Klarinette und Stimmen. Eingebettet darin sind originale Intonationen des Jodlerklubs Wiesenberg aus der Innerschweiz, dessen Bergbauern, Förster, Handwerker mit Händen in den Hosentaschen – damit durch die erhöhte Körperspannung auch die hohen Kopflagen besser kommen – auftraten, den Leichenumtrunk mimten und vom Publikum am Ende mit Beifallsstürmen für ihr enormes Können belohnt wurden.
Festival für „aktuelle“ Musik nennt sich die Berliner „MaerzMusik“ im Untertitel. Nicht speziell auf zeitgenössische „neue“ Musik ist sie abonniert. Auch aktuelle Strömungen in den musikalischen Zwischenbereichen will sie aufgreifen. In diesem Jahr war das der Alpenraum unter dem Motto „Alpenmusik-Stadtmusik-Turmmusik“. Im Zentrum standen Komponisten aus der Schweiz, aber auch aus Österreich, Italien, Slowenien und Deutschland. Untersuchen wollte man das Wechselspiel zwischen Ländlichem und Städtischem, Bergwelt und Urbanität, Naturklängen und Geräuschkulisse.
Im Festspielhaus konnten die Besucher das Alpenpanorama erklingen lassen. Georg Nussbaumer hatte im Foyer aus Radar-Stimmgabeln, wie man sie mal zum Blitzen von Verkehrssündern nutzte, ein Gipfel-Relief im Maßstab 1:33.000 gehängt. Im Bühnenturm hatten Klaus Lang und Claudia Doderer zur Eröffnung ein Environment installiert, fichten, bei dem man im Liegen die Klänge eines fast unsichtbaren Orchesters von Brucknerschen Weiten auf sich einwirken lassen konnte. Vermitteln wollte das etwas von dem, was die Alpen wohl früher mal bedeuteten und wie es Georg Simmel in einem Essay vor hundert Jahren beschrieb: „das Chaos“, die „ungefüge Masse des Gestaltlosen“, aber auch das zum Himmel aufragende „Transzendente“. In eine ähnliche Richtung zielte auch der durch sein „Orgien Mysterien Theater“ bekannte Hermann Nitsch. In einer Orgel-Soiree baute er einen Klangraum aus sich dehnenden ungefügen Clustern.
Walking in the limits nennt der Komponist und Textautor Heinz Reber ein Stück, das in der Volksbühne uraufgeführt wurde. Es ist eine authentische Geschichte, die Beziehung eines Schweizers mit einer Ostberlinerin in Mauerzeiten. Minimalistisch in Szene gesetzt, ziehen Fetzen von Erinnerung an einem vorüber. Gezeigt wird der Blick aus einem Hotelturm am Alexanderplatz. Draußen endlose Bänder von Autokarawanen. Bilder huschen vorbei, Gedanken, Sätze. Zwei Figuren stehen zwischen Schleiern, auf die in wechselnder Intensität die Stadtlandschaft projiziert wird. Die Schleier bewegen sich unmerklich auf verschlungenen Bahnen, geben Blicke frei, verhüllen. Eine dritte Figur tritt hinzu und zwei Geigerinnen. Die spielen mit einem Kontrabassisten eine schemenhafte Musik wie Chiffren. Allmählich entleert sich die Bühne, die Erinnerungen verflachen, verebben. Ende einer Freizeit-Liebe im Hotelzimmer.
In die Historie zurück blendete auch Georg Klein. Er hatte auf einem Grenzturm der früheren Berliner Sektorengrenze eine Video-Installation eingerichtet, wo er die Turm-Symbolik als Machtfaktor demonstrierte. Einen besonderen Gag hatte sich Moritz Gagern ausgedacht. Um das Festivalmotto ins hauptstädtische Ambiente zu übersetzen, lud er die Besucher auf 207 Meter Höhe ein ins rotierende Restaurant des Berliner Fernsehturms. Oben angekommen, konnte man da beim Blick nach draußen die nächtliche Stadt unter sich kreisen sehen, beim Blick nach innen glitten die Musiker an einem vorbei. Die waren ringsum platziert mit dem Rücken zum festen Kern des Turmrestaurants. So wechselten ständig die räumlichen Perspektiven. Babylonische Schleife nannte Gagern seine Charles Ives variierende Anordnung von Musik im Stadt-Raum.
Dazu gab es eine Filmreihe, ein Schulprojekt, Abstürze – und auch ganz „konventionelle“ Konzerte. Die jetzt in Wien lebende, in ihrer Bedeutung aber doch wohl überschätzte Israelin Chaya Czernowin stellte erstmals den Gesamtzyklus ihres Triptychons Maim für großes Orchester vor, eine vor allem durch erratisch „blökende“ Bläserchöre wirkende Musik aus der Zeit nach dem September 2001. Erstmals in Berlin zu hören war das Genfer Ensemble Contrechamps mit der vorzüglichen jungen Sängerin Mélody Louledjian und den witzig-leichtfüßigen Tracasseries von Claire-Mélanie Sinnhuber im Programm. Das Zürcher Collegium Novum legte mit Mischa Käsers City 1 ein feinsinniges Stadtgeräuschband aus. Und es gab Konzerte von Ensembles, die auf neue Weise umgehen mit der Schweizer Folklore, wie etwa das Basler Duo „Stimmhorn“. Es nähert sich dieser Tradition leicht ironisierend, mischt Alphorn, Akkordeon und Jodler mit Fernöstlichem, entdeckt so in der heimischen Folklore Klangqualitäten auch für ein weltläufiges Publikum von heute.


Resonanzen

Das zweite Klangkunst-Festival „Sonambiente“

01.Juni – 16.Juli 2006
sonambiente1980 hat der Galerist René Block in der damaligen Westberliner Akademie der Künste eine Ausstellung organisiert „Für Augen und Ohren“, die dem Zwischenbereich von visuellen und akustischen Phänomenen in der Kunst seit dem frühen 20.Jahrhundert nachspürte. 1996 dann folgte „Sonambiente“, eine Ausstellung, die die neuen Räume des neuen Berlin untersuchte. Jetzt nach zehn Jahren unternimmt man einen neuen Versuch in einer Stadt, in der die Brachen schon vielerorts zugebaut sind, neu gebaute entstehen. Bis Mitte Juli dauert das von Akademie der Künste und Berliner Festspielen organisierte und vom Hauptstadtkulturfonds und der Allianz-Kulturstiftung finanzierte Festival. Die Eröffnung der Ausstellung war am 1.Juni in der neuen Akademie am Pariser Platz, die Eröffnung des Performance-Programms am Tag drauf im Haus der Berliner Festspiele.

Watte stopft Lara Stanic in ihre Flöte immer wieder. Die ist per Kabel mit ihrem Computer verbunden. So moduliert die Künstlerin die Abspielgeschwindigkeit der gespeicherten Klänge. Reaktion von Körper und Maschine sind Thema der jungen Performerin in „FluteSpeaking“. Ihre Aufführung eröffnete das vor ästhetischen Abstürzen freilich nicht ganz gefeite Begleit-Programm zu der sechswöchigen Klangkunst-Ausstellung „Sonambiente“ in Berlin.
Zum zweiten Mal nach zehn Jahren wollen die Ausstellungsmacher gleichsam immateriell den Wandel der Stadt erkunden. Sehr informativ ist der von Helga de la Motte kuratierte begleitende Katalog. Die Besucherwege führen zwischen Ostbahnhof und Festspielhaus auch in quasi exterritoriale Zonen wie die zu DDR-Zeiten erbaute, auf ihre Erneuerung harrende Polnische Botschaft Unter den Linden. Aber nicht nur die Stadt hat sich mittlerweile stark gewandelt, auch die Klangkunst selbst. Die Grenzen zur Videokunst haben sich verflüssigt mit den neuen digitalen Medien.
Von der Klangkunst im strengen Sinn, bei der mit den Materialien selbst Klänge erzeugt werden, gibt’s in dieser Ausstellung nur wenig. Etwa wenn Katja Kölle das Mezzanin der neuen Akademie der Künste mit losen Holzplatten auslegt und man beim Darüberlaufen das Klappern auf dem Betonfußboden hört. Am gleichen Ort im Foyer hat Kris Vleeschouwer eine imposante Installation „Glass Work“ aufgebaut: meterhohe lange Regale, voll gestopft mit leeren weißen Flaschen. Immer wenn in einen kilometerentfernten Recycling Container Leergut eingeworfen wird, kracht auch vom Regal eine Flasche splitternd hernieder. Ein Heimtheater aus alten Phonographen, Lautsprechern und Megaphonen haben Janet Cardiff & George Bures Miller montiert. Computergesteuert werden alte Platten abspielt vermischt oft mit 5-kanaligem Surroundklang. Inspiriert ist diese „Oper für einen kleinen Raum“ [„Opera for a Small Room“] von John Cages mit den gleichsam Ready Mades der alten Oper spielenden „Europeras“.
Ganz auf Mittel der Videokunst setzt im alten Gebäude der Akademie Candice Breitz. Sie hat eine Wand aus sechsmal fünf Monitoren aufgebaut mit dreißig Sängerinnen und Sängern, die das Playback für einen Soul Song einsingen und je auf eigene Art das Gesungene in Gebärdensprache umsetzen. Auf der Seite gegenüber hat Robert Jacobsen eine neue Variante seines „Skulpturellen Theaters“ installiert mit einem Sänger per Mini-Screen auf einer beweglichen Halterung, von dem man nur den Mund sieht und aus zwei kleinen Lautsprechern hört. Weiter hinten im Raum sind Schaufelarme, die in Wasserschüsseln tauchen. Oder mobileartige Skulpturen, die sich um die eigene Achse drehen. Die Frage, was das Ganz bedeuten könnte, beantwortet Jacobsen mit einer Gegenfrage:

JACOBSEN: Empfinden Sie ein bisschen Freude und Überraschung an Klängen, die sich organisieren? An kinetischen Skulpturen, die in verschiedenen Zyklen spielen? Es ist natürlich eine sehr schwierige Frage, was sagt uns das Ganze…

Klang am eigenen Körper spüren kann der Besucher bei Lynn Pook und Julien Clauss. Im tesla, dem Medien-Labor an der Parochialkirche, haben sie Liegen aufgebaut, auf die man sich schnallen lassen kann. Brust, Kniekehlen, Arme und Finger werden mit Kissen verbunden, in die kleine Lautsprecher eingenäht sind. Über die Adern und Knochen im eigenen Körper wird der Schall transportiert als Impuls. Im Obergeschoss hat Carsten Nicolai einen rauchgeschwängerten Dunkelraum gebaut. Aus einem Video Beamer lässt er Strahlen in kaleidoskopischen Mustern auf eine gegenüberliegende Wand projizieren.
Eine Station weiter ins Foyer des Allianz-Gebäudes am Ost-Bahnhof hat Ulrich Eller einen „Resonanzbehälter“ gestellt, einen 15-türigen Blech-Schrank, aus dem die ins Leere laufenden Drähte sich verknotend heraushängen. Nur wenige der gezeigten Objekte reagieren auf den Ort, an dem sie gezeigt werden, so genau. Das Gebäude, obwohl nagelneu, steht ungenutzt leer.


Bereichert euch!

Die MaerzMusik V setzt auf China

16.-26.März 2006

Die Rotgardistin als KuekenBei den Berliner Festspielen widmet man sich schon immer gern dem interkulturellen Dialog. Zum fünften Mal wird hier die „MaerzMusik“ veranstaltet, diesmal mit einem besonderen Akzent auf Japan und China. So durfte der chinesische Komponist Cong Su eine Computeroper komponieren, Welt im Quecksilberlicht, die sich dem China von Mao bis heute widmet. Basis sind Gedichte des in der Kulturrevolution geschmähten, dann nach Neuseeland emigrierten Lyrikers Gu Cheng. Der endete im Exil tragisch, brachte erst seine Frau, dann sich selbst um. Dreiteilig hat Librettist Michael Schindhelm die Texte geordnet. Regisseur Chen Shi-Zheng, bekannt geworden durch seine Inszenierung des Paeonien-Pavillon, gelingen am besten die Reminiszenen an die letzten Tage der „Viererbande“ mit den Massen-Aufmärschen, den Siegesparaden und Erniedrigungen gedemütigter Intellektueller. Mao leuchtet da von einer rot gefärbten Breitwand, angehimmelt vom später als Verräter abgestempelten Lin Biao. Und der Mao-Gattin Jiang Qing Ballett vom Roten Frauen-Bataillon schwebt Gewehr bei Fuß über den Bildschirm. Später tanzt es grau verblasst auch kopf. Maos neue Welt zeigt der Regisseur mit einer aus dem Ei schlüpfenden Rotgardistin, Dengs Nach-Mao-„bereichert-euch“-Periode kündet er an mit einer umgestürzten Büste, aus deren Kopf die bunten Wunderdinge des Kapitalismus purzeln. Den Selbstmord des Dichters symbolisiert er mit einem riesigen Beil. Ganz überzeugen kann dies schon bis nach Brisbane verkaufte Multi-Media-Spektakel aber nicht. Zu flüchtig bleibt vieles, zu sehr an der Oberfläche.
Eher enttäuschend auch eine, wenn auch musikalisch ungleich dichtere, szenische Aufbereitung von Fragmenten aus dem Tagebuch einer Japanischen Hofdame vor tausend Jahren. Peter Eötvös’ Stück As I Crossed a Bridge of Dreams für Rezitator, Blechbläser und Stimmen taucht die Aufzeichnungen der Lady Sarachina in eine Musik, die wie ein innerer Hallraum ist für Gedanken zwischen Tag und Traum. Die szenische Einrichtung von Cornelia Heger mit drei beweglichen Bilderrahmen als Bühnenelementen, japanisierenden Kostümen und einer standardisierten Gestensprache wirkt dagegen steril und kraftlos. Noch immer nicht hat man in der Leitung der Berliner Festspiele ein sicheres Qualitätsgefühl entwickelt fürs Musiktheater. Dabei wird es immer mehr zum zentralen Punkt der Anstrengungen um die neue Musik. Und mit M.M. der in Berlin lebenden Japanerin Makiko Nishikaze, die sich österlich mit der biblischen Figur der Maria Magdalena befasst, ist noch eine weitere musiktheatralische Performance geplant.
Anschieben will man mit diesem Festival auch weiter den direkten Dialog. Junge Komponisten aus Bejing, Shanghai, Accra, Kairo, New York und Berlin waren eingeladen, sich zunächst über Internet und dann auch vor Ort leibhaftig auszutauschen. Da staunten die ägyptischen Komponisten etwa, dass neue Musik nicht bei Strawinsky oder Bartok endet. Die Ghanaischen bedauerten, dass mit ihren Instrumenten mikrotonale Stimmungen nicht möglich seien, ernteten zugleich Bewunderung für die phänomenale Gestaltung rhythmischer Muster. Eine Komponistin mit jüdischem Hintergrund stellte verwundert fest, wie sehr arabische den eigenen Tonsystemen ähneln. Und der aus Anatolien stammende Taner Akyol, der vor zehn Jahren nach Berlin kam um zu lernen, für sein Saiten-Instrument, die Baglama, zu komponieren, sprach von den Minderwertigkeits-Komplexen, mit denen er der westlichen Musik einst begegnete – und wie er umlernte: dass man „erst mal seine eigene Kultur sehr gut lernen“ solle und dann mit den Füßen auf der eigenen Erde stehend „rausgehen kann und sein Feld verbreiten“.
Was man bei dem Workshop in Vorbereitung des Weltmusikfests in Stuttgart im Sommer insgesamt gelernt habe, bilanzierte Workshop-Leiter Oliver Schneller: dass es kein absolut „Neues“ gibt: und das als Europäer zu respektieren sei sehr wichtig. Andererseits: Die eigene Identität findet man am ehesten in der Fremde. „Dort wird man ständig gezwungen, seine Positionen zu definieren, herauszufinden, stimme ich überein mit dem, was ich sehe, oder wo situiere ich mich selbst in diesem Kunst-Diskurs.“


Suche nach eigenem Profil

Das neue „Musikfest Berlin“

31.August bis 13.Sept. 2005

Nicht nur „Luxus-Klassik“ wolle man präsentieren, meinte bei der Vorstellung des neu formierten Festwochen-Programms deren Künstlerischer Leiter im Frühjahr. Es war kaum mehrt als ein Feigenblatt. Einige Spielzeiten lang hatte man versucht, ein eigenes auf Avanciertes hin konzipiertes, auch Szenisches mit einbeziehendes Programm zu machen. Die frühere Kooperation mit den Berliner Philharmonikern war durch den damals neu etablierten Intendanten Franz Xaver Ohnesorg gekappt worden. Der wollte ein eigenes Orchesterfestival gestalten. Dazu kam es nicht. Und das von den Festwochen angebotene, über zwei Monate im Herbst vertröpfelte Programm goutierte das Publikum nicht. Jetzt fanden beide Veranstalter wieder zusammen. Die Philharmonie ist wieder Zentrum der Aufführungen. Die Philharmoniker steuern zum nicht sonderlich originellen Schwerpunktthema „Janácek“ eine konzertante Jenufa unter ihrem Chef Sir Simon Rattle bei. Und auch das Publikum meldet sich zurück an der Kasse. Gleichwohl ein rechtes Gesicht hat dieses neu formatierte „Musikfest Berlin 05“ bislang nicht. Zwar ist für kommendes Jahr eine interessant klingende Eigenkreation auf der Basis von Debussys Martyre de Saint Sébastian avisiert. Der Reigen der Ur- und Erstaufführungen im heurigen Programm wirkte noch eher zufällig.
„Große“ Namen bei den Gastspielen und den Komponisten wollte man vor allem präsentieren. Das forderte auch der Geldgeber Bund. So lud man sich fürs Eröffnungskonzert das London Philharmonic Orchestra unter Kurt Masur. Und der Beethovenschen „Neunten“ schaltete man die Deutsche Erstaufführung eines etwa halbstündigen Stücks von Sofia Gubaidulina vor. The Light of the End ist eine durchaus effektvoll gemachte Partitur, in der die Komponistin sehr viel mehr, als man es von ihr kennt, aus sich heraus geht. Wirbelnde Glissandi kontrastieren da mit scharfen rhythmischen Attacken und münden in einen fragend offenen Schluss. Auf herbere Kontraste zielte ein Abend mit dem englischen Geiger Andrew Manze, Chef von „The English Concert“. Mit wunderbar luzidem Ton interpretierte er Violinsonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber. Und die japanische Geigerin Hiromi Kikuchi brachte von György Kurtág acht Miniaturen unter dem Titel Hipartita zur Uraufführung. Erneut erweist sich Kurtág hier als Meister der kleinen Form. In wenigen Strichen gleichsam weiß er charaktervolle Portraits zu zeichnen: zwischen heiter-clownesk und brav vor sich hin trottend, den Interpreten zugleich in höchstem Maße fordernd.
Ein Selbstläufer der Abend mit dem Chamber Orchestra of Europe, dirigiert von dem als englischer Superstar gehandelten und insbesondere von Sir Simon Rattle geförderten Thomas Adès. Beethoven, Strawinsky und ein eigenes neues Werk hatte er auf dem Programm. Dabei wirkt sein Dirigierstil alles andere als elegant. Aber man erkannte gut, was ihn an der Klassik und klassischen Moderne reizt. So klingt Beethoven bei ihm überraschend rhythmisch akzentuiert, wenn auch etwas pauschal. Auch in Strawinskys Pulcinella betont er vor allem die harschen Schnitte und Kontraste. Sein eigenes Stück, ein Violinkonzert mit dem Titel Concentric Paths, wie das Kurtág-Stück ein Festwochen-Auftrag, geht ähnliche Wege. Ganz unterschiedlich sind die drei Sätze angelegt. Mit schwirrenden fast impressionistischen Klängen prunkt der erste, von diffus gestreuten dumpfen Akkord-Schlägen geht der zweite aus, eher formelhaft-spielerisch wirkt der letzte Satz. Der Solist (Anthony Marwood) hat keine ausgeprägte Rolle, er verschwindet fast im orchestralen Kleid. Lediglich im zweiten Satz, einem sich streckenden Lamento, kann er sich etwas emanzipieren.
Beim Publikum kam das Stück gut an. Und mit diesem Abend konnten das Musikfest und der seinen Dienst schon wieder quittierende glücklose Leiter André Hebbelinck immerhin doch einen eigenen Akzent setzen. Ansonsten erlaubt der schmale Etat ja wenig mehr als ein Mitmarschieren im internationalen Gastspielbetrieb. Und das ist und bleibt das wesentliche Handicap: ein eigenes Profil entwickeln können die Festwochen so nicht.


Re-Mix

Die Berliner MaerzMusik Nr. 4 blickte vor allem nach Brasilien

03.-13.März 2005

Gedacht war das so schön. Eine exotische „location“, Anreise privat, per Bus oder per Schiff. Ein exotisches Stück: 48 Musiker, bewaffnet mit susaphonartig um den Körper gehängten Schläuchen, die um das Publikum herum als eine Art Resonanzkörper ihre seltsamen Instrumente zum Schwingen bringen. Doch die Wirkung ging unter im organisatorischen Chaos. In der fein herausgeputzten Halle des einstigen aber in Teilen noch arbeitenden VEB-Kabelwerks Oberspree wartete der eine Teil des Publikums frierend auf den anderen auf dem Eiswasser anschwimmenden. Benedict Masons Musik im Raum, geplant als einer der Hauptevents des „MaerzMusik“-Festivals, brachte ganz andere Emotionen zum Schwingen.

Dabei hatte die „MaerzMusik“, das Festival für „aktuelle“ Musik der Berliner Festspiele, ohnehin sich in der Hauptsache südlicheren Zonen gewidmet, der zeitgenössischen Musik Brasiliens. Zu bewundern war da etwa Tato Tabordas Ein-Mann-Orchester Geralda. Allerlei Streich-, Schlag- und elektroakustische Instrumente stehen dem Musiker zu Gebote. In einem Gerüst, wie in einem Cockpit sitzend, bedient er insgesamt 70 Klangquellen. "Tato arbeitet auch sehr viel mit brasilianischen Gesten und Rhythmus, dieser Musik von Straßenmusikanten. Es ist eine sehr bildhafte, eine sehr schöne Musik." So Silvia Ocougne, Mitkuratorin des Festivals im Festival, Musica Brasileira Descomposta. Gemeint ist ein Spielen mit den Mitteln populärer brasilianischer Musik, die gleichsam „de-komponiert“ werden. "Das ist ein Versuch, nicht einfach kritisch, ein bisschen mit Abstand auf die brasilianische Musik zu gucken und zu versuchen dann eigene Wege zu finden."
Wie etwa Walter Smeták. In den 30-iger Jahren musste der in der Schweiz geborene tschechische Cellist emigrieren nach Brasilien. Er begann dort die lokale Musik zu studieren und auf selbst gebauten, teils wie Skulpturen wirkenden Instrumenten zu improvisieren. Es ist eine ganz einzigartig nord- und südamerikanische sowie europäische Strömungen integrierende Musik. Vierteltönig mikrotonal beginnend auf Gitarren, greifen die Musiker dann aber auch zu ganz anderen Instrumenten. Teilweise elektronisch verstärkt, bekommt das fast den Charakter einer Jam-Session. Als Re-Mix versteht sich Musik generell in Brasilien. Sie ist wie das Land: eine Mischung europäischer, afrikanischer und indianischer Kulturen. "Dieser Mix ist in der Kultur drin. Man bestrebt immer, eine bestimmte Kultur zu kopieren. Man schafft es nicht. Deshalb schafft man vielleicht neue oder andere Wege." Am bekanntesten hierzulande noch Heitor Villa-Lobos, anfangs ein sehr innovativer Komponist, der nach einem Aufruf 1922 zu mehr National-Bewusstsein sich zu interessieren begann für „Choro“. "Choro bedeutet: Heulen", erläutert Silvia Ocougne. "Es ist Musik zum Heulen. Choro waren am Anfang Mazurken, Polkas, die von einerbestimmten Besetzung gespielt wurden."

Hans Joachim Koellreutter, ein ebenfalls vor den Nazis geflohener deutscher Komponist, machte in den 30-iger Jahren bekannt mit Schönberg und Webern. Es ist der strenge akademische Stil zum Teil noch heute. Jüngere Komponisten indes experimentieren mit einer Art Post-Techno. Chico Mello etwa hat mit Destino das Oito („Schicksal um Acht“) eine Parodie auf die in Brasilien besonders beliebten Fernseh-„Telenovelas“ geschrieben. Die Bestandteile einer solchen Kurz-Seifenoper versucht Mello in immer neuen Wiederholungen herauszupräparieren. Das Geschehen auf der Bühne – eine Familie wartet auf die verschwundene Tochter – wird per Live-Video verdoppelt. Das hat durchaus komische Momente zumal im kreischenden Singsang der Tante. 90 Minuten allerdings können lang werden. Beim Musiktheater vertun sich die Berliner Festspiele noch immer. Zu Ende ging die „MaerzMusik“ am Sonntag Abend mit der Aufführung von Dieter Schnebels Sinfonie X in einer neuen, auf über drei Stunden Dauer erweiterten Fassung. Es ist eine Art „opus summum“, anknüpfend an Mahlers „Lied von der Erde“. Schnebel wird am Montag (14.03.05) 75 Jahre. Das Ende der Aufführung um Mitternacht leitete über in eine Gratulationscour.


Zonen des Übergangs

Mit einer Uraufführung, Interzone, wurden die Festwochen 2004 eröffnet

02.Sept. 2004

InterzoneMerkwürdig gezierte vogelartige Stimmen hört man. Dazu gezeigt werden Bilder einer Stadtlandschaft: Wolkenkratzer-Schluchten, Fassaden von Fenstern wie Bienenwaben, leere Parkhausauffahrten, Menschen in langen Kaftanen am nächtlichen Strand oder der Arm, die Hand eines Tänzers wie schwebend im Raum. Das alles erst in ruckartig zusammen geschnittenen, dann in wie zu Farbklecksen verschwimmenden Bildern. Projiziert werden die mal parallel, mal abwechselnd auf ein kaleidoskopisches Oktogon von Leinwänden über den Köpfen der Musiker. Interzone heißt das etwa 80minütige Werk von Enno Poppe nach einem Libretto von Marcel Beyer und mit den Videos von Anne Quirynen. Was den jungen Komponisten besonders interessiert hat bei dieser Konstellation?

POPPE: Das Verändern, das Gleiten, das Gleitende – ganz konkret gesagt die Tongestaltung. Die Singstimmen haben immer diesen eiernden Tonfall. Das ist zunächst mal dies Opern-Vibrato, das wird Bestandteil der komponierten Singstimme. Das beginnt zu eiern.

Literarische Vorlage für Interzone waren Texte von William S. Burroughs, entstanden in den 50iger Jahren auf der Überfahrt nach Tanger. Notizen, aus denen dann sein Roman Naked Lunch entstanden ist. Die Beschreibung eines Mannes bei der Bienensuche auf dem Weg in die Berge. Die Bilder entstanden überwiegend in Chicago, der Heimatstadt von Burroughs. Sie zeigen Übergangszonen divergierender Kulturen. Streng vermieden sind alle weiteren anekdotischen Anspielungen. Die Autoren versuchen von dem zentralen Begriff bei Borroughs auszugehen.

POPPE: Dieses Amerikanische, dieses Großstadtmäßige – es gibt ja bei Borroughs diesen Begriff „Interzone“, der bei ihm eine Art Zwischenreich, eine unidentifizierbare Lokalität beinhaltet. Der kann sehr viel bedeuten. Ich denke, mit den amerikanischen Stadtbildern ist das gut illustriert.

In einer Art Zwischenzone des Übergangs, der Selbstfindung navigieren auch die Berliner Festwochen, die mit diesem Auftragswerk eröffnet wurden auf der Hinterbühne des Hauses der Berliner Festspiele. Vor allem mit Zeitgenössischem, produziert oft mit großem technologischem Aufwand, versuchten sie sich nach der vom damaligen Philharmoniker-Intendanten Franz Xaver Ohnesorg herbeigeführten Trennung der Programmplanungen zuletzt neu zu profilieren. Festspiele-Intendant Joachim Sartorius:

SARTORIUS: Das eine ist, dass wir mehr unser eigenes Haus bespielen wollen und wir hier auch die Probemöglichkeiten haben für doch außerordentlich komplizierte Dinge wie dieses Interzone. Das Zweite ist, dass ich von Anfang an gesagt habe, dass ich interessiert bin, junge Künstler zu fördern und die Suche nach neuen ästhetischen Sprachen mitzufördern.

Zwar sind auch eher traditionelle Konzerte heuer eingeplant mit einer Gegenüberstellung etwa von Werken der überwiegend in Paris lebenden finnischen Komponistin Kaija Saariaho mit solchen von Claude Debussy. Und über drei Abende verteilt erklingen sämtliche Klavierstücke, Nummer 1 bis 17, von Karlheinz Stockhausen. Im kommenden Jahr allerdings will man dann einen wieder anderen Kurs steuern. Ran an Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker. Mehr Glanz hatte ja Kulturstaatsministerin Christina Weiss für die vom Bund in der Hauptstadt finanzierten Festwochen eingefordert.

SARTORIUS: Wir wollen dann ein Festival machen, das aus den kleinen Formaten hier etwas herauskommt. Auch mit etwas mehr Geld. Und versuchen, relativ groß dimensionierte Ensemble-Werke und bedeutenden internationale Orchester nach Berlin zu holen. Und dann in einem noch kürzeren Zeitraum, ich würde sagen 1.-12.September. Außerordentlich komprimiert, konzentriert. Das Programm im nächsten Jahr sieht nicht schlecht aus, es beginnt mit London Symphony Orchestra, es hört mit New York Philharmonic auf. Und es ist jede Menge Großes dazwischen. Also damit, das weiß ich, bespielen wir den Glanzfaktor. Aber wenn man so viele Festivals hat, die noch was ganz Anderes vorhaben, wie z.B. die MaerzMusik, dann finde ich das auch okay, dass man so ein Festival macht.


Autoerotisch - zwischen den Stühlen

Die MaerzMusik widmete sich vornehmlich Charles Ives

18.-28.März 2004

Ives (Etienne Delessert) Halbhoch hängen vor wassergrünen Blindfenstern in einem schwarz ausgeschlagenen runden Raum fünf Liegen. Darauf Spieler, die akustisch untereinander vernetzt sind. Ein Computer registriert ihre Hirnströme. Gesteuert wird das System durch die Wahrnehmungen der Spieler und die Geräusche der Besucher im Raum. Brain study heißt diese Performance-Installation von Julian Klein. Sie war das sozusagen „Hirn“ des Festivals und tickte unter der Hauptbühne des Hauses der Berliner Festspiele. Eine andere auch als Performance vorgeführte Installation war zu besichtigen im Hamburger Bahnhof. Code Switching von Ana Maria Rodriguez, Melita Dahl und Ute Wassermann ist eine psycholinguistische Studie, die kleinste stimmliche wie optische Regungen eines Gesichtsausdrucks als Material verarbeitet.
Festival für „aktuelle Musik“ nennt sich die von den Berliner Festspielen nun schon zum dritten Mal veranstaltete MaerzMusik im Untertitel. Seit Anbeginn war man bestrebt, Publikumschichten auch aus benachbarten Bereichen der zeitgenössischen Kunst für die neue Musik zu interessieren. In diesem Jahr lud man Schüler verschiedener Schultypen und Altersklassen ein, ihre Improvisationen oder Gemeinschaftswerke vorzuführen, bei denen sie etwa mit professionellen Künstlern als Mentoren nach Modellen von Cage und Stockhausen mit sichtbarem und hörbarem Eifer und Spaß Klänge, Geräusche, Videos verknüpften. Geplant waren auch Performances mit Hunden und Vögeln als Hauptdarstellern, aber so ganz parierten die divenhaften Tierchen nicht.
Säulenheiliger des Festivals war der amerikanische Komponist Charles Ives, der vor 50 Jahren starb. Für viele Jüngere, zumal in Amerika, war und blieb er eine Leitfigur. Etwa für John Cage, aber auch für die europäische Avantgarde der späten 60iger Jahre. Techniken wie Mikrotonalität, also Quantelung der Tonskala in kleinstmögliche Schritte, Musik im Raum, Collage, Montage heterogenster Elemente – vieles hat Ives vorweg probiert. Der strenge Neu-England-Puritaner, von Haus aus Mathematiker und Mitbesitzer einer Versicherung, praktizierte in seiner Ästhetik Offenheit und zugleich politisch-moralische Verantwortung, äußersten Individualismus und zugleich Verpflichtung auf ein Gemeinwohl.
So manchem lebenden Komponisten wie Frederic Rzewski, früher einer der vehementesten Vertreter einer politisch engagierten Musik, macht ihn das auch verdächtig. Rzewski hält Musik für eine „autoerotische Tätigkeit“, die mit Moral und Politik wenig zu tun habe. Zwiespältig war denn auch das bei den Diskussionen gezeichnete Ives-Bild. Ives, so Wolfgang Rathert, Leiter des Symposions, sei ein Komponist „zwischen den Stühlen“. Einerseits befangen in einem dem 19.Jahrhundert verhafteten Romantizismus mit seinen utopischen Vorstellungen von Politik und Demokratie, andererseits ist seine Musik ein „Modell für eine andere Welt“, eine „nicht-hierarchische, freie, selbst bestimmte Kunst“.
Eine ganz Reihe von Komponisten waren aufgefordert, musikalisch Ives’ Werk zu kommentieren. Eines seiner Hauptwerke, die sehr aufwändige und darum selten gespielte IV.Sinfonie, erklang in einem Konzert des SWR-Sinfonieorchesters Freiburg/Baden-Baden unter Sylvain Cambreling. Entstanden in den Jahren 1910/16, spiegelt sie zumal im zweiten Satz mit ihren kaleidoskopisch ineinander verschränkten Ebenen in sich divergierende amerikanische Wirklichkeit auch von heute: fröhliche Marschmusik neben frömmelnd Choralhaftem. Und ähnlich das Formprinzip der von Ives Verehrern immer wieder zitierten Concord-Sonate, exzellent gespielt am Klavier von Heather O’Donnell, und das zweite Streichquartett. Immer wieder entdeckt man hier diese sphärenhaften Einbrüche einer anderen Welt.
Aber auch die Vorbehalte, wie sie Pierre Boulez einst am prägnantesten formulierte, einer zu wenig durchgeformten Musik werden nachvollziehbar. Und was das Festival in seiner dritten Ausgabe insgesamt anlangt - so ganz ist nicht von der Hand zu weisen, was in Bezug auf Ives und dessen Haltung zur Politik gesagt wurde. Man muss wohl eben viel Autoerotik entwickeln, wenn man bequem zwischen den Stühlen sitzen will.


Loopings im Re-Mix

Das MaerzMusik-Festival, 2.Ausgabe

13.-23.März 2003

Regenzeit im März. Wer immer zu einer der MaerzMusik-Veranstaltungen im Haus der Berliner Festspiele strebte, durfte des Installations-Künstlers Paul DeMarinis Liebes-Erklärung ans Wasser genießen. Mit einem Schirm stellte man sich unter eine der sechs vor dem Haus installierten Duschen, um die mit Gene Kellys Musicalhit Singing in the Rain (aus Ein Amerikaner in Paris) modulierten Regentropfen auf die Regenschirmhaut tropfen hören zu können. Massiver ging’s zu bei der Eröffnung im Hause. Da lud der inBerlin lebende Walisische Komponist Richard Barrett ein zu einer Reise in die schwarzen Löcher des Weltalls. Auf stahlrohr-geschweißten Hockern und Bänken saß man bei Dark Matter in dem tentakeligen Environment des Norwegers Per Inge Bjørlo und hörte die aus einer Art Raumfahrtkanzel dirigierten, teils hinter Stahlkäfigen geschützten Musiker des australischen Elision-Ensembles. Dem derzeit in Berlin lebenden Komponisten geht es, wie er sagte, um eine „vertiefte Wechselwirkung von Musik und Raum“. Der Zuhörer/Zuschauer freilich wähnte sich überwiegend verloren in Barretts schwarzen Löchern.
Zum zweiten Mal seit der Übernahme der Berliner Festspiele durch den Bund gab es nun MaerzMusik, das von Matthias Osterwold programmierte Zehntagefestival für „aktuelle Musik“. Ein ganzes „Geflecht von Themen“ habe man aufzubauen versucht mit vielen „Brückenschlägen, Verbindungen, Bezügen“. So präsentierte man als weiteren Versuch eines Brückenschlags zwischen Musik und Szene im Hebbeltheater Roland Pfrengles Bühnen-Raum-Installation An sich – Bilder / Stille. Auch hier geht es – theoretisch – um die Wechselwirkung von Gehörtem und Erlebtem. Auf der Bühne agieren dazu eine Kontrabassflötistin, eine Sängerin und eine Tänzerin, im mit einer Art Segel quer überspannten Parkett eine Pianistin und zwei weitere Perkussionisten. Die Sängerin, sonst nur der traditionellen indischen Musik verbunden, musste sich hier in einem „Neue-Musik-Rahmen“ bewähren. Einige interessante Klangwirkungen förderte das durchaus zu Tage. Ansonsten erdrückte auch hier der theoretische Überbau die schmale musikalische Basis.
Einer der Festival-Schwerpunkte im Konzertbereich galt, von übergeordneten politischen Erwägungen zunächst diktiert, der Musik der Baltischen Staaten. Stücke von erstaunlicher Vitalität bekam man da zu hören. Etwa wenn die Musiker des Gaida Ensembles Vilnius mit Jaura von Jurgis Juozapaitis oder einem Compas genannten furiosen Stück von Remigijus Merkelys brillierten, oder wenn Bläser des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Berlin im Schauspielhaus die Sinfonia des Litauischen Komponisten Vykintas Baltakas intonierten. Eher müde dagegen mit „Apartment House London“ eine Erinnerung an die Fluxus-Bewegung. Das Vernageln von Klaviertasten in George Macunias#13 (for Nam June Paik) war noch der originellste Programmteil. Von eruptiver Kraft dagegen im Kammerkonzert des Elision-Ensembles in der Kleinen Philharmonie die Interrupted Cycles des Norwegers Jon Øvind Ness mit ihren rhythmisch durchdringenden repetitiven Mustern. Und wunderbar elegisch die Passage von Lars Petter Hagen, ebenfalls gebürtig in Norwegen. Inspirieren hat er sich lassen von Daniel Libeskinds Gedächtnis-Architektur.
Eine eigene Abteilung des Festivals widmete sich den Zwischenbereichen von Avantgarde, Klangkunst und Klubkultur. „Sonic Arts Lounge“ nannte sich das Spätprogramm. Minimalistisch, fast im Bereich des Unhörbaren sind die Mittel, mit denen etwa die in Los Angeles lebende „DJane“ Marina Rosenfeld arbeitet an ihren Vinyl-Plattenspielern. Der Soundpegel im Publikum lag da meist höher, als das was aus den Lautsprechern tönte. Massiver mit wummernden Bässen geht’s zu bei Frieder Butzmann. Der hatte einen Gruß ans „Generalbasszeitalter“ sich ausgedacht. Für eine „barocke Party“ hat er Samples aus schon etwas betagterer Musik zusammengestellt, die er zerhackt, spreizt, mischt. Dass man Musik in jenen Zeiten „auch nicht so wie im 19.Jahrhundert im Konzertsaal genossen hat“ sondern in Räumen, „wo man auch getrunken und gegessen hat“, ist für Butzmann allerdings auch nur eine periphere Begründung.
Mit der „Sonic Arts Lounge“ wollte man erinnern auch an Versuche mit Live-Elektronik in den 60-iger Jahren. Durch die Re-Mix-Bewegung im Pop hat das Feld neue Aufmerksamkeit gefunden. In einem Symposion beugte man sich über die Erscheinungen. Musik über Musik – so neu ist das nämlich nicht. Johann Sebastian Bach etwa hat durch Umarbeitungen sich die Musik seines Zeitgenossen Antonio Vivaldi angeeignet. Strawinsky filterte aus der Adaptation des spätbarocken Kollegen Pergolesi seine Pulcinella-Suite. Karlheinz Stockhausen etablierte mit seiner Telemusik eine neue Art von Weltmusik. Kompliziert wird es, wenn urheberrechtlich geschützte Werke „remixt“ werden sollen. Die Bearbeitungsrechte ab der Kleinsten geschützten Einheit, der Melodie, liegen beim Autor. Christian von Borries, der sich mit seinen ironisch-provokant „Musikmissbrauch“ genannten Auftritten schon manch blutige Nase geholt hat, spricht lieber von „Replay“ mit „Aliassen“, einem Begriff aus der Computerbranche. Wo immer er im Kopf eines Komponisten den elektronischen Sampler am Werk wähnt, greift er ein in die Zeitstruktur, will das verstärken mit eingeschobenen Loops.
Eingeladen zum Festival war indes auch der Altmeister dieser Technik, Robert Ashley. Celestial Excursions heißt ein Werk, das er zur Uraufführung mitgebrachte aus New York. Auf der Bühne im Hebbeltheater sitzen dazu fünf Darstellerinnen und Darsteller an kleinen Tischchen in der Diagonale. Vornweg der Autor, hinten erhöht ein Pianist auf einem Podium. Daneben eine Tänzerin/Darstellerin, die sich von einer großen Kleiderstange bedient mit immer neuen Kostümen. Ihre Aktionen werden per Live-Kamera vervielfältigt perspektivisch auf eine Leinwand dahinter. Mit seinen „himmlischen Exkursionen“ will Ashley eine Imitations-Technik des „Jagens“, wie er es nennt, exemplifizieren. Die Texte, die da quasi-rezitativisch in einer Art geläutertem Rap-Gesang gesungen werden, bettet er ein in live modulierte Tonband-Loops. Inhaltlich handelt es sich um Lebensbeichten von Außenseitern und Obdachlosen. Was da entsteht, ist ein freilich fast schon wieder magisch zu nennender Andachts-Raum.
Insgesamt freilich kam Andacht bei diesem zweiten Anlauf mit dem Nachfolge-Festival für die einstige „Musikbiennale“ kaum auf. Zumal im besonders attraktiven musik-szenischen Bereich konstatiert man bei den Machern eine gewisse Blauäugigkeit. Aufwand und Ertrag klaffen seltsam auseinander. Schöne Konzepte sind halt noch keine gelungene Aufführung. Offiziell freilich war man’s zufrieden, auch wenn in den eher traditionell strukturierten Konzerten viele leere Reihen gähnten.


Landschaft mit entfernten Verwandten

Heiner Goebbels’ erste Oper als Dt. Erstaufführung

07.Feb.2003, Berlin, Festwochennachlese

Bilder, Bilder, Bilder - aus verschiedenen Zeiten und Ebenen. Lebende Bilder mit Musikern, die auch Tänzer, Darsteller sind (Mitglieder des "Ensemble Modern"). Die Bilder waren zuerst in der Fantasie, sagt der Komponist Heiner Goebbels. Zum Beispiel aus dem Mittelalter: Figuren in Halskrausen wandeln palavernd durch gotische Spitzbögen. Ein Schauspieler (David Bennent) erklimmt einen Tisch als Giordano Bruno und räsoniert über Hierarchien, über Minima und Maxima, die Balance der Gegensätze.

GOEBBELS: Es gibt andere Bilder von einer abgehalfterten Cowboygruppe, die in Hillbilly-Manier einen Wildwestsong singt. Es gibt Bilder, die eher an fernöstliche Tempel gemahnen lassen, auch wenn andere Zuschauer sagen, das sieht aus wie in einem Biowaffenlabor.

"Oper" nennt Heiner Goebbels seine Landschaft mit entfernten Verwandten, uraufgeführt im Oktober 2002 in Genf,  jetzt als Deutsche Erstaufführung im Haus der Berliner Festspiele. Oper – das ist für den 50-Jährigen: Zusammenspiel von Sprache, Musik, Gesang, Licht, die komplexeste Form des Theaters. Und zugleich auch das, was er nicht möchte: ein Tummelplatz von Inszenierungs-Clichés. Aus denen will er heraus. Und doch spürt man die Mühe, wie er als sein - à la Stockhausen - eigener Regisseur Spannung in die Bühnen-Vorgänge zu bringen versucht und das produziert, was er vermeiden will: als eigentlich Nur-Komponist mit letztlich szenischen Laien.

GOEBBELS: Ich wollte eigentlich eine Oper machen, die nicht so klingt wie eine Oper, die auch nicht so aussieht wie eine Oper. Es ist sicher Musiktheater. Es gibt aber genauso Szenen, die wären eigentlich Sprechtheater. Von daher ist es ein Stück, wo man nie so genau weiß, wo man drin sitzt.

Texte verschiedenster Herkunft sind hier ineinander montiert. Sie kreisen um die Themen Krieg, Kampf der Kulturen, Balance von Schönheit und Schrecken.

GOEBBELS: Man findet es auch bei Poussin schon sehr stark, da wird auf der linken Bildhälfte jemand von der Schlange ermordet. Rechts gehen Jugendliche ausgelassen baden und kriegen von all dem nichts mit. Und solche Gegenüberstellungen in ein und derselben Szene oder kurz nacheinander – die wird man an dem Abend immer wieder finden.

Warum braucht Goebbels überhaupt Texte, wo es ihm eigentlich um Bilder geht und man manchmal den Eindruck hat, die Texte sollen eine mögliche Leere der Bilder füllen?

GOEBBELS: Gute Frage! Was ich ihr entnehme: dass Sie spüren, dass ich gegenüber Texten ein großes Misstrauen mitbringe und diese Texte deswegen auch immer wieder ausblende, oder immer wieder mit Texten konfrontiere, die gar nichts damit zu tun zu haben scheinen. Ich brauche Texte, ich brauche sogar was da verhandelt wird, aber ich brauche nie nur das. Es ist nie so, dass Texte nur mitteilen. Und ich glaube, dass jede Form von einer politischen Performance nur dann gelingen kann, wenn sie das auch immer wieder unterbricht.

Überraschend Goebbels’ Antwort darauf, was denn das besondere Neue sei an dieser seiner "Oper" im Unterschied zu seinen bisherigen Musik und Szene verbindenden Arbeiten.

GOEBBELS: Es ist auch ein Kostümschinken. Ich habe noch nie mit 300 Kostümen gearbeitet. Und das war bei dieser Arbeit nötig, um die Vielzahl von Bildern evozieren zu können. Und das war logistisch beim Komponieren ein ganz schönes Problem. Man musste immer überlegen, da die Musiker auch die Darsteller sind, auch die Sänger und Tänzer: Ist derjenige gerade im Orchestergraben, zieht er sich um, kann der überhaupt das Instrument von rechts nach links tragen? Also es ist logistisch eine ziemlich komplexe Angelegenheit.


Festwochen 2002

Mit Engelszungen: zum Abschluss Stockhausen

13.Nov. 2002

Helikopter hat er fliegen, Kriege führen, Parlamentsschlachten schlagen lassen für seine sieben Tage aus LICHT. Nun lässt Karlheinz Stockhausen Engel prozessieren, und das meint er auch so. Sieben Gruppen sind aufgeboten, sechs zu sechs Frauen und/oder Männern, dazu ein Gesangs-Quartett. Jede Gruppe repräsentiert einen der Tage. Jede Gruppe singt in einer anderen Sprache. Jede Gruppe ist eigens gewandet. Die Montagssänger singen in Hindi und tragen lindgrüne Gewänder; ihr Tag ist der des Wassers. Die des erdigen Dienstag singen chinesisch und tragen hellrot. Die Mittwoch-Sänger, die Sänger des Lebens, tragen zitronengelb und singen spanisch. Hellblau ist der Donnerstag, geweiht der Musik, und man singt englisch. Arabisch klingt’s am Lichttag, dem Freitag, mit der Farbe orange. Für Samstag, den Tag des Himmels, ist die Sprache Kiswahili und die Farbe dunkelblau reserviert. Die Quartettgruppe der gleichsam Erzengel wandelt in Gold, und singt zum Tag der Freude auf Deutsch: ‚Freut euch, Gott liebt uns, jubelt! Gott lenkt uns, Gott hört uns, singet, danket, Gott hilft uns’, so die an den frühen Gesang der Jünglinge anschließenden Schlussworte.
Wirklich gesungen wird hier allerdings fast nicht. Vokal Geräusche produzieren, mit der Zunge schnalzen, Kichern, gelegentlich sogar auch Psalmodieren sind die Aktionen, die den Sängern abverlangt werden. In ihren knallbunten kuttenartigen Gewändern mit einer antennenartigen lila Blume am rechten  Schulterblatt, die sie am Ende am Altar ablegen, wallen sie wiegenden Schritts wie mittelalterliche Mönche durch die Gänge und über die Emporenstege der Berliner Heilig-Kreuz-Konzert-Kirche in Kreuzberg. Dabei müssen sie auch seltsame, von Heiligenbildern und Heiligenskulpturen abgeguckte Posen mit ihren Händen vollführen, wie: die Handflächen öffnen, die Zeigefinger strecken, Daumen und Zeigefinger zum O rollen, oder die Handkanten wie für einen bevorstehenden Schwertstreich in Habachtstellung bringen.
Die Gestensprache ist wie immer bei Stockhausen in seinen musiktheatralischen Ergießungen die schwächste weil unprofessionelle Schicht in seinen Werken. Aber das ist ja mit Regieanweisungen von vielen Komponisten so. Umso frischer die musikalische Sprache. Dabei lenken die Gruppen weitgehend sich selber durch einen Vorsänger, der allerdings optisch verbunden ist mit einem zentralen Dirigenten, der die Gruppen synchronisiert. Den Grundklang liefern dabei in Reihen zu je acht Sängern um das Publikum herum im Carre gruppierte Choristen. Über elektronische Tongeber empfangen sie per Minikopfhörer die Frequenzen. Die prozessierenden Engel nehmen die Töne ab von einer Stimmgabel, die sie wie Kettenschmuck um den Hals hängen haben.
ENGEL-PROZESSIONEN ist die zweite Szene des SONNTAG, dem Schlussstück von Stockhausens 7-teiligem, monumentalem LICHT-Zyklus. Uraufgesungen wurde das 35-Minuten-Teilopus wenige Tagen zuvor im Concertgebouw Amsterdam mit dem perfekten Niederländischen Rundfunkchor. Die zweite Aufführung jetzt bildete den Abschluss einer Stockhausen-Reihe der Festwochen - kleine Wiedergutmachung für Stockhausens politischen Ausrutscher und die Folgen im Vorjahr? Zugleich war dies der Abschluss der Festwochen überhaupt, ein kleiner Höhepunkt wenigstens nach 2 ½ eher müde dahin plätschernden Monaten, für die man den Begriff Festwochen gar nicht mehr in den Mund nehmen mag.
Konzentration war einst versprochen von Joachim Sartorius und seinem Team bei Amtsantritt. Ein Kurzsprint. Es wurde ein Marathon, und die Durststrecken bis zum nächsten "Event" dehnten sich immer länger. Über elf Wochen verteilten sich die Programm-"Inseln", ins kaum noch Wahrnehmbare diffundiert, atomisiert. Was darf man erwarten von Festwochen? Zum Beispiel die theatralische Realisierung von Werken der Größenordnung wie Stockhausens LICHT-Zyklus. Liegt’s am mangelnden Geld; liegt’s am Festspielhaus, das man bespielen muss und mit dem wenigsten, was eingeladen wurde, doch bespielen kann, dass man das nicht tut? Als bloßes Begleitprogramm zum laufenden, finanziert aus nur anderen Schatullen, macht die Institution in der Stadt jedenfalls wenig Sinn. Der Diskussionsbedarf nach diesem "verpufften" Jahrgang ist dringend. Und wenn’s der Sache nützt, auch mit Engelszungen.