02.Juli 1927 - 25.Jan.1996
Sie war umstritten mit ihren Arbeiten. Im Schauspiel als Intendantin des Berliner Ensembles (1971-77), als Regisseurin im Musiktheater. Bayreuth rief sie nie. Aber an allen Bühnen Europas war sie zuhause, scheute sich auch nicht vor kleineren Häusern, wenn dort ein interessantes Angebot lockte. In Berlin war sie nach der Wende tabu. Strauss, Mozart, Wagner, Weber waren ihre meist inszenierten Komponisten. Erst in ihren letzten Jahren ließ man sie auch ans italienische Repertoire: Verdi, Puccini. Und immer wieder Uraufführungen - nicht nur die Werke ihres Ehemanns Paul Dessau, auch von jüngeren Komponisten. Manches blieb Projekt, wie B.A.Zimmermanns Soldaten, angedacht für drei Bühnen. Mozarts Figaro - ein Wunschstück. Auch Henzes Bassariden, zuletzt geplant gewesen für Dresden. Ihre letzte vollendete Produktion: Rolf Liebermanns Freispruch für Medea im September 1995 in Hamburg. Musterhaft ihre Sorge um den Nachwuchs: zuerst mit Meisterschülern an der Akademie der Künste der DDR, dann nach Ende der DDR mit Meisterkursen, die sie in Cottbus gab. In die Karten gucken ließ sich Ruth Berghaus ungern. Überhaupt blieb sie Journalisten gegenüber reserviert. Die drei größeren Interviews, die ich mit ihr führen konnte, waren abgetrotzt gegen große Widerstände. Schließlich aber erlaubte sie mir doch auch sogar Mitschnitte bei Proben - 1992 in Stuttgart zu Brecht/Weills Mahagonny.
Ruth Berghaus probt an der Stuttgarter Staatsoper Mahagonny, 1992. Brecht/Weills Oper wird da zur Parabel auf die Wende. Gezeigt wird der Untergang künstlich-utopischer Paradiese als Stranden einer Arche im Hurrikan der Weltgeschichte.
Proben bei Ruth Berghaus - das war wie eine Lektion in Zeitgeschichte, eine Schule des Lebens. Ihr Hinweisen auf Widersprüche - bewusst machen wollte sie damit, dass etwas auch immer ganz anders sein, sich verändern kann; und dass, wenn der Darsteller das zeigt, sein Spiel mehr Kraft bekommt, Deutlichkeit, Körperlichkeit - missverstanden oft als "Verrätselung".
Geboren wurde Ruth Berghaus 1927 in Dresden. Ihre künstlerische Ausbildung erhielt sie zunächst in Ausdruckstanz und Tanzregie bei Gret Palucca. Das Gefühl für "räumliche Spannungen", den Blick für "nichtnaturalistische Bewegungsabläufe" verdankt sie ihr. Bei Brecht lernte Ruth Berghaus die Trennung der Ebenen, die Eigengesetzlichkeit der Künste. Brechts Mutter Courage wurde ihr prägendes Erlebnis. 1954 heiratete sie Paul Dessau, dessen Werke fürs Musiktheater sie inszenierte. Schlagartig berühmt wurde sie mit ihrer Choreografie der Schlachtszenen in der Brecht-Bearbeitung des Coriolan 1964 am "Berliner Ensemble". Nur sechs Vorstellungen überlebte ihre 1967 mit Heiner Müller, Andreas Reinhardt und Achim Freyer erarbeitete Strauss-Elektra an der Berliner Staatsoper - ihr erster Versuch episierenden Musiktheaters. Rhythmisierung, Musikalisierung, Formalisierung - das waren die Prinzipien der Arbeit von Ruth Berghaus. Verdeutlichen wollte sie: strukturelle Zusammenhänge von Kunst und Wirklichkeit. Strikt vermieden wurde pure Nachahmung.
Nach der Wende geriet sie
ins Fadenkreuz der politischen Tugendwächter (West). Vergessen, verdrängt,
dass sie nach sechs Intendantenjahren 1977 vom Berliner Ensemble sich
trennte im Zwist; dass sie immer weiter aneckte mit ihren Arbeiten; dass sie
1979 mit dem Tod Paul Dessaus ihren politischen Rückhalt verloren hatte in
der DDR.
Den
Weg an die Spitze eröffnete ihr 1980 die Einladung von Michael
Gielen und Klaus Zehelein an die Frankfurter Oper.
Beginnend mit Zauberflöte wurde hier Theatergeschichte geschrieben,
sieben Jahre. Zu Kultveranstaltungen avancierten ihre ganz (inklusive
Bühnenbild) selbst entworfene Entführung (1981), die denkwürdigen
Berliozschen Trojaner (1982), der Wagnersche Centenar-Parsifal
(1982) und krönend der Ring (1985/87). Aber auch in Paris mit
Wozzeck (1985), in Brüssel mit Lulu (1988), in Wien mit dem
Schubertschen Fierrabras (1988; gemeinsam mit Claudio
Abbado) feierte sie Triumphe. Zuletzt versuchte sie gelegentlich
auch wieder Schauspiel, bezog den Tanz - nach einer grandiosen Neudeutung
von Henzes Orpheus-Ballett
in Wien (1986) - stärker ein, suchte an der Zürcher Oper neue
Ensemble-Kontinuität u.a. mit einem ahnungsvoll verdüsterten neuen
Freischütz (mit Nikolaus Harnoncourt am Pult). Ihre
Leipziger Fledermaus, von ihr selbst noch konzipiert, von einem Schüler
realisiert und am Tag vor Totensonntag [1995] erstaufgeführt, wurde ihr Vermächtnis,
eine "danse macabre" ihrer Biografie. Zugleich eine Liebeserklärung an den
Lebens-Partner Theater - diesen androgynen Vampir, der Leben aussaugt und
spendet, diesen Raubtierkäfig mit Männern, intim und ohne Tabus, diese
Wolfsschlucht ohne Entrinnen.
Ruth Berghaus hat, aufbauend auf Felsenstein und Brecht, das Musiktheater
verändert wie niemand vor ihr: durch Genauigkeit, durch mitunter
sarkastischen Witz, durch einen Willen zum Ausdruck - für manche manchmal
des Ausdrucks zu viel. Ein Kraftwerk ist erloschen. Eine Theaterepoche geht
zu Ende - nach dem Tod auch von Heiner Müller: die der Theatermacher mit der
Ästhetik der kämpferischen Zwanziger Jahre im Tornister, mit den Erfahrungen
des Kriegs und des Nachkriegs-Sozialismus. Eine Lücke ist entstanden, ein
Maßstab fehlt. Ruth Berghaus hat oft das Publikum gespalten, manchmal auch
ihre Mitarbeiter. Immer ging’s ihr um "die Sache“, ums Theater, um die
Politik, um die Texte. Die wollte sie mit ihrem herausfordernd hellsichtigen
Lesen umsetzen, von ihnen zeigen "was drin ist" - und das in einer
künstlerischen Form, die mehr ist als bloßes Abziehbild von Realität.
Die Urnenbeisetzung - ihre letzte Inszenierung: Keine Musik. Keine Reden. Nur der Trauerzug. Stumm. Das Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte, an der Seite ihres Ehemanns Paul Dessau, bedeckt mit einem Teppich roter Rosen, ausgerichtet gen Osten. In der Diagonale schräg vor ihr die letzte Ruhestätte von Helene Weigel und Bert Brecht, hinter ihr die des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. 70 Minuten dauerte das Defilee der Trauergäste. Jeder konnte ans Grab treten, Abschied nehmen, darunter Anja Silja, unvergessen Marty in der damaligen Inszenierung von Janáčeks Sache Makropulos (1982) in Frankfurt, Hilmar Thate, Claus Peymann, Jürgen Flimm... Anschließend traf man sich, auf ihren Wunsch, zu einem "vergnügten Zusammensein" in ihrem Haus am zugefrorenen Zeuthener See...
...befragt zu Ruth Berghaus und was er von ihr an Durchsetzungsfähigkeit fürs Theater gelernt hat. Als ihr "Schüler" wollte Konwitschny nicht gelten, als einer ihrer legitimen "Erben" darf er gelten, zumindest was die Brecht-Linie anlangt. Bühnenästhetisch geht er andere Wege. Arila Siegert, durch die gemeinsame Herkunft aus der Palucca Schule, gilt ihr da als sehr viel näher stehend.
Ich habe bei ihr nie eine
Oper mitgemacht als Assistent oder Praktikant. Ich habe vier Schauspiele
als Assistent mitgemacht am BE. Und das, was ich als unschätzbaren Wert
betrachte, das waren mehr allgemein menschliche und Fachdinge. Zum
Beispiel dass sie hasste, wenn jemand lax arbeitete, wenn der sich nicht
vorbereitet hatte, wenn der flau - wenn es nicht um Leben oder Tod ging
einfach.
Und auch Paul Dessau war für mich ganz wichtig, der von jetzt auf gleich ins
Schreien geriet über eine Mischung von Unbedarftheit, Gemütlichkeit oder
all diese Schlafigkeit, wie Lenz sagte: Schlafigkeit ist das
Schlimmste in der Welt. Und da wurde die Berghaus fuchsteufelswild. Und
da ist mir der Schreck oft in die Glieder gefahren, auch in eigener
Sache, wenn man ein bisschen müde kam.
Und dann auch die Dimension,
die letztlich solche Arbeit für unser Leben hat - also was will man
eigentlich auf dem Planeten: will man sich nur ein schönes Radio kaufen
und ist es dann am besten, wenn man um fünf nach Hause geht, oder gewinnt
man Genuss am Existieren, wenn man solche Stücke durchdringt und wenn man
ringt darum, wie kann ich das umsetzen, wie wird das eine Ästhetik, wie
wird das ein Sein an einem Ort in einer ganz bestimmten Zeit, dass man da
nicht was wiederholt, was schon lange gemacht wurde.
Damit geben sich ja viele
zufrieden. Bei manchen ist es sogar so, dass sie es überhaupt nicht
reflektieren, dass sie das einfach so machen, vollkommen geistlos Dinge
übernehmen. Das muss was Besonderes sein - das ist einfach ein Anspruch,
den man hat oder nicht hat. Ich glaube, da bin ich sehr stark geprägt.
Auch dass mich so eine große Unruhe, so eine existentielle Not
überfällt, wenn ich merke, das funktioniert noch nicht richtig, ich habe
die Menschen da noch nicht hingebracht, wo sie hin müssen, dass das so
wird wie ich das will.