Es gibt vereinzelte schöne Bilder. Zu Beginn etwa, wenn aufs Stichwort M-A-R-X die Gebeine in den Bühnenboden bedeckenden Särgen rappeln und die Toten der Commune ff wieder auferstehen. Oder wenn später ein Lenin-Double die vereinigten Volks-Gedenkchöre jubilieren lässt zur Feier des Roten Oktober. Es gibt bedrückende Momente am Schluss, wenn den Beteiligten eines Streiks in Italien allmählich die Puste ausgedrückt wird und die Wände ihres Betonkäfigs sie zu zerquetschen drohen.
Was aber diese Doppellehrstunde in Sachen Revolutionen von gestern uns heute soll – es bleibt dunkel. Natürlich kitzelt der Grusel, wenn alte Barrikaden in Gedanken noch mal errichtet werden, oder wenn die vereinigten Mariannen von Paris ihre Herrschenden im Kasperle-Theater veralbern und die dann später ihren preußischen Erobern den Stiefel lecken müssen. Oder wenn die Kubanischen Damen der Gesellschaft von den Moncada-Stürmern beim Kaffeekränzchen aufgescheucht werden.
Aber die zum Liebe-Machen Verklumpten im Gorki-Teil dieses Revolutions-Almanach zu sehen kurz nachdem man die fatalen Folterbilder aus dem Bagdader Gefängnis Al Ghureib mit den feixenden SoldatInnen und den zu Fleischbergen geschichteten Gefangenen gesehen hat, berührt denn doch recht merkwürdig. Und die immer wieder, wenn auch variantenreich, gereckten Fäuste, sind ja auch eher ein Zeichen der Ohnmacht als der Ermutigung.
Im April 1975 wurde Luigi Nonos Revolutions-Requiem für die Frauen Al gran sole carico d’amore (Unter der großen Sonne, mit Liebe beladen) in Mailand uraufgeführt. Der Titel stammt aus einem Rimbaud-Gedicht. Eher schlicht oratorisch war das in der Inszenierung von Juri Ljubimov. Die Luft knisterte, als Claudio Abbado ans Pult seines Orchesters in der Piccola Scala trat. Moskau hatte wieder mal Schwierigkeiten gemacht bei der Ausreise des Regisseurs. Die Bühnenarbeiter nutzten die internationale Aufmerksamkeit, um selbst ein bisserl „sciopero“ zu machen (zu streiken) für bessere Arbeitsbedingungen.
Es war damals ein Stück notwendiger Erinnerungsarbeit für die anstehende gesellschaftliche Neubesinnung. Heute, 15 Jahre nach Zusammenbruch dessen, was sich sozialistische Hoffnung nannte und in dem Stück immer wieder beschworen wird, wirken die Plakate schal. Auch wenn Regisseur Peter Konwitschny gegen Schluss ein rotes Ché-Guevara-Plakat mit der rückwärtigen Aufschrift „selbständig denken“ wie beim Abendmahl das Brot in kleine Bröckchen zerteilt verteilen lässt. Die Schnipsel werden dann in Büchern zum „Aufheben“ deponiert.
Dabei regiert Castro noch immer, sein eigenes Monument. Nach Hannover wird er kaum kommen, um sich diese Oper anzuschauen. Und auch Südamerika hat ja doch inzwischen etwas andere Probleme. Da mögen die Frauen zu Beginn noch so aufgeregt ihre von Helmut Brade entworfenen Glaushauswände mit Parolen bedecken. Überhaupt wird hier viel geschrieben – nie ein gutes Zeichen für kraftvolles Theater.
Bewundernswert dennoch das Engagement aller auf der Bühne und ím Graben mit Johannes Harneit am Pult. Schön, dass man einige der von Nono verwendeten Liedzeilen auch als Noten zum Nachlesen mit projiziert bekommt. Aber all die großen Plakate in kleine Geschichten zu verpacken – es trägt nicht, und schon gar nicht die zwei Stunden netto. Das Stück wirkt länglich heute und auch ziemlich geschwätzig.
Das Premieren-Publikum in Hannover klatschte dennoch begeistert. Man glaubte wohl, einer Weltsensation beigewohnt zu haben. Meine Nachbarin auf dem Parkettsessel hielt sich meist die Ohren zu und verschwand gänzlich in der Pause – trotz ausdrücklicher, natürlich schriftlicher Mahnung von der Bühne, doch bitte wieder zu kommen. Immerhin das Interesse für die Aufführung war erstaunlich. Zumindest bei der Premiere.
Zum Überbau geht’s hier nicht. Das Fachwerk vom „Machwerk“ wird besichtigt. Ganz schön aus- und aufgekratzt. Tamino – er nennt sich „Prinz“ – irrt darin etwas orientierungslos umher, plumpst in den Orchestergraben, wo General „Zacki“ das Sagen hat. Seine Untergebenen flüstern’s dem Jungen laut ins Ohr und der General selbst erhebt dräuend seinen Taktstock. Aber so recht kapiert klein Tamino nichts.
Einen Weg ins Offene versucht Regisseur Peter Konwitschny bei dieser seiner zweiten Stuttgarter Arbeit. Mozarts in den letzten Jahren als „Machwerk“ viel gescholtener Zauberflöte mit ihren zum Mitsingen geeigneten Popsongs will er auf den Theaterpelz rücken. Die Bühne von Ausstatter Bert Neumann ist ein helles Geviert, halbhoch wie (Bert) Brechtens Gardine. Die Königin der Nacht sitzt da wie eine im Suff versumpfte Partylöwin an einem Tischchen einer Kantine und weint in ihre Flasche, der entführten Tochter Pamina hinterher. Die drei Damen sind ihre Hostessen. Ihre engen Kostümmieder platzen schnell, wenn sie der jungen Männer (Tamino und auch des netten Handlungsreisenden in Sachen Vögeln, Papageno) ansichtig werden. Schlange, giftig? Ach was, ein gerollter Teppich krümmt und streckt sich da, und nichts wie her mit dem Ding!
Die Prinzessin, die der Prinz befreien soll – per Video wird sie ihm vorgeführt. Lady Di in originalen Aufnahmen vom Hochzeitstag lässt grüßen. Beim Verlassen der Kathedrale sind aus dem echten Prinzenpaar dann mit aufmontierten Köpfen Tamino und Pamina geworden. Der rote Teppich ist ja so geduldig. Und diese Prinzessin Pamina ist gewiss nicht geplagt von Bulimie. In schwarzen Jeans und T-Shirt versucht sie dem Mohren sich zu entwinden. Mit Papageno allerdings könnte sie auch ganz gut turteln. Und sie probiert’s auch gleich, ausgehungert wie sie ist und wo der angebliche Prinz nur ausrichten lässt, dass er sie lieb hat. Aber dafür tun, tut er nichts.
Lieber lässt der sich einwickeln von Sarastro und seinen halbseidenen Sektenbrüdern. In sauberen schwarzen Anzügen und übergezogenen weißen Talaren vertreiben sich die die Zeit in ihrer „Burg“. Immerhin polyglott. In Koreanisch spricht Herr Sarastro seine Weiheverse ins Mikrofon, live übersetzt über Lautsprecher von einer Frauenstimme, in Hebräisch antwortet sein Vormann, ebenfalls mit Live-Übersetzung. Vor einer silbrigen, die Bühne füllenden und wie eine Wasserfläche schimmernden Lamettawand sprechen sie ihre gesalbten Worte. So eingeschüchtert, obwohl die Türen in den etwas jenseitigen Kramladen reichlich baufällig sind, bleibt unserem braven Jüngling nur die Bitte um ebenfalls Aufnahme in den Orden. Also raus aus den weißen Jeans und rein in den schwarzen Anzug mit dem sackartigen weißen Talar.
Schwieriger gestaltet sich die Sache mit der jungen Dame. Pamina nämlich will partout nicht sich hier einschweißen lassen in Schwarz und Weiß. Den Geweihten schmeißt sie ihren Krempel vor die Füße – was die, des Zinnobers eben auch längst überdrüssig, als Aufforderung verstehen, dergleichen zu tun. Als Publikum einer Fernseh-Superstar-Show – oder so was Ähnlichem – finden sie sich auf der Tribüne in Plastikkorbsesseln wieder. Im Mittelpunkt Papageno, der noch nicht recht weiß, wohin (sexuell) sich orientieren. Ein Mütterchen Papagena – das wär’ nicht grad das Höchste der Gefühle. Und die niedliche Nackedei-Nixe, die ihm per Dia auf die flirrende Lametta-Wand als Appetit machendes Betthäschen annonciert wurde, ist die grauhaarige Dame aus dem Graben nun wahrlich nicht.
Eine Mitspielerin aus der Fernseh-Show in glitzerrotem Kostüm ist schließlich die Appetit machende Belohnung. Und die vielen kleinen Kinderlein, die dieser Papagena aus dem Bauch purzeln sollen, schlüpfen schon mal unter ihrem vorgehaltenen weißen Rock hindurch wie ein ganzer Prospekt von Orgelpfeifen: das Groopy-Personal der drei Knaben und der mal zu Serviererinnen, mal zu Putzmamsells mutierten drei Damen. Und am Ende grämt sich nur die nächtliche Partykönigin im Pelz verlassen auf dem Podest. Die Party ist aus, und sie hat buchstäblich nichts mehr, woran sie ihren Zorn ausbrüten kann. „Ende der Oper“ signalisiert die Laufschrift unter ihrem gläsernen Podest mit dem Hauptrequisit Teppich als eingeschreinter Reliquie eines Märchens aus längst vergangener Zeit. Das war’s.
Ohne die eher mutwilligen Brüche seiner letzten Inszenierungen (Falstaff, Meistersinger, Giovanni) bringt Konwitschny Mozarts Zauberflöte auf die Stuttgarter Staatsopern-Bühne. Und das ist gut so. Von einigen Schelmereien kann er aber doch nicht lassen, wenn etwa bei den Koloraturen der ersten Arie der nächtlichen Königin eine Videokamera erst in Gesicht, dann in den Mund, dann in die vulvagleiche Stimmritze der Sängerin fährt. Barbara Baier, koloraturensicher, ist diese ihr Leid im Suff ertränkende reife Frau. Den irrlichternden Sektenführer und Gegenspieler Sarastro gibt mit Stentorstimme Attila Jun. Alexandra Reinprecht ist die resolute Tochter Pamina – gar kein Kind von Traurigkeit. Der etwas desorientierte Tamino ist Johann Weigel. Aber zur Seite hat er ja den mit allen Superstar-Showwassern gewaschenen Papageno, Rudolf Rosen.
Lothar Zagrosek lässt einen ganz durchlichteten, fast zärtelnden Mozart spielen. Aufs Minimum reduziert ist das Orchester bei weit hochgefahrenem Graben (auch für die Aktionen dort). Jubel schon bei der (von mir besuchten) Generalprobe, der sich in der Premiere einige Buhs beimischten. Es gibt einige Ungereimtheiten in dieser Interpretation (Dramaturgie: Juliane Votteler), nicht zuletzt dass Konwitschny die altertümliche Schikaneder-Sprache in den Textstellen nahezu unberührt lässt. Und ob der hohe Anspruch einer Neuentdeckung dieser Mozart-Oper eingelöst wird, bleibt auch etwas fraglich. Neben der ebenfalls Stuttgarter Götterdämmerung gehört diese Zauberflöte gewiss aber zu Konwitschnys herausragenden Inszenierungen. Man darf nur hoffen, dass sie auch für spätere Aufführungen so frisch gehalten werden kann.
Kann man Alban Bergs Lulu heute noch spielen? Was ist noch aktuell an der Parabel vom männermordenden Vamp in einer Zeit, in der es sexuelle Tabus tabuisiert sind? Die Frage hat sich natürlich auch Peter Konwitschny und sein Team gestellt. Und eine Teilantwort gibt er gleich zu Beginn. Lulus Ermordung in der Londoner Dachkammer wird da als Eröffnungsszene vorweggenommen mit Schlange stehenden Männern rechts und den beiden Frauen links, die den offenen Vorhang zuziehend einander sich nähern und dann übereinander herfallen, bis einer ein Riesen-Schlachtemesser zückt und man des Rippers Freudenglucksen und Lulus Todesschreie hört aus dem Off. Das Sensationelle des Stücks wird gekillt und Distanz zu schaffen versucht, auch mit Bänkelsängern, die den Abend eröffnen, indem sie von hinten durchs Parkett nach vorn ziehen mit Wedekind auf den Lippen.
Für Teil zwei der Antwort muss man den Verlauf des Abends abwarten, und der wird teilweise doch recht lang, obwohl Konwitschny die zweiaktige Torsofassung gewählt hat. Als niedliches Püppchen im roten Kleidchen mit rotem Lolli im Mündchen erscheint Lulu im ersten Bild als Gattin des Medizinalrats. Der Maler, der sie sie porträtieren soll, bannt statt ihres Charakterkopfs den blutroten Lolli auf seine Leinwand – nicht nur mit Hintergedanken, er geht ganz handfest ran ans frische Fleisch auf der kreisrunden Silber-Liege, auf der die Höhepunkte dann jeweils mit den wechselnden Männern angesteuert, wenn auch dank ständiger Klingel-Störungen nur selten erreicht werden. Jeder darf hier mal. Auch Papa Schigolch bekommt nach dem ersten Trauerfall im Hause von seiner zur Frau gereiften Puppa einen gelutscht. Die wichtigsten Stellungen werden im Lauf des Abends mit wechselnden Partnern durch-dekliniert. Im wahrsten Sinn.
Die Männer „reißen“ sich um sie. Ebenfalls im Wortsinn. Die Puppe, als die Lulu lebensgroß ein Parallel-Leben führt zur fleischernen, teilen sich die Herren Schön und der Maler (mit Andy Warhol-Flachs-Mähne) im erbitterten Kampf. Für klein Alwa, der auch schon mal ran will, lässt Lulu sich Riesen-Ballonbrüste wachsen, damit der Kleine schon mal schnullen kann. Die Nase voll hat Lulu, als Dr. Schön auch noch, Nietzsche getreu, mit der Peitsche anrückt. Da dreht sie einfach den Spieß um und lässt die Männer nach selbiger tanzen. Die Puppe wird wie Schneewittchen in den Sarg gelegt. In der Türöffnung hängt plötzlich ein Toter. Die Rest-Männer werden abtransportiert in die Psychiatrie. Dort dürfen sie unter Anleitung von Schwester Lulu Lulu-Püppchen basteln. Auch Mutti Geschwitz wird dort im Erdboden versenkt. Und Alwa darf über das Ganze eine Oper dichten. Da hat sich Lulu schon im geblümten engen Kleid und Mütze auf dem Kopf aus dem Staub gemacht – ähnlich Bieitos Violetta kürzlich in Hannover. Lulus Todesschrei hört man als Remake aus dem Off.
Konwitschny lässt das in dem Raum spielen, den Hans-Joachim Schlieker schon vor Jahren für den gemeinsamen Wozzeck entworfen hatte, hier allerdings transparent gemacht als Guckkasten für Voyeure. Hinter diesem Kasten blickt man auf die Fickzellen, in denen blonde Damen ihre Reize zur Schau stellen und Pappfiguren davor auf einer Endlosschleife paradieren. Auch die Kostüme hat man von der Wozzeck-Inszenierung weiter geschrieben: alle Männer inklusive Geschwitz in schwarzen Fräcken. Grandios die Hauptdarstellerin, Marlis Petersen, die hier stimmlich und darstellerisch (inklusive Kopfstand) alles geben darf. Von den Männerdarstellern ragen der geschleckte Dr. Schön von Andreas Schmidt und der schmuddelige Schigolch von Hermann Becht heraus. Albert Bonnema ist der verträumte Alwa, der dann das klemmige Schön-Berg-Double mit Rechenschieber zum Komponieren und Riesenrotstift auf einem Riesen-Buch wie einem Fliegenden Teppich zum Dichten geben darf. Souverän dirigiert Ingo Metzmacher sein Philharmonisches Staatsorchester.
Der Humor, den Konwitschny dieser Oper angedeihen lässt, ist etwas arg grobianisch geraten. Wieder wird ein Störerpaar bemüht, um für eine Unterbrechung der Aufführung zu sorgen. Ganz witzig allerdings, wie es sich durch eine auf eine Filmleinwand projizierte Garderobe die Mäntel herausreichen lässt, um sei dann doch noch mal zurück zu reichen und ins Parkett abzutauchen. Es gab bei der Premiere einige Buhs. Manche Besucher gingen schon zur Pause. Die Konwitschny-Fans kamen so recht jedenfalls nicht auf ihre Kosten. Und die Frage, ob man diese Lulu nun noch spielen kann, soll, muss, beantwortet sich doch eher ex negativo. Zur Ver-Alwerung ist sie musikalisch vielleicht doch wohl etwas schade.
Was wäre die Welt ohne einen Mann wie diesen? Alle Frauen, die seine Wege kreuzen, zieht er magisch an – oder aus. Einer treu zu bleiben, wäre Verrat an den anderen, beteuert er, wann immer sein Diener ihn bittet, bettelt, anfleht, ultimativ auffordert, doch endlich sein Leben zurück zu schrauben aufs Normalmaß. Nein, stottert ihm Giovanni was vor, die Frauen aufgeben? Nie. Sie sind das Leben. Er liebt sie. Und sie lieben ihn. Wie Schokolade in der Sonne schmelzen sie hin vor ihm: Vor diesem Engel, vor diesem Nero, vor diesem Scheusal. Donna Anna, die vom väterlichen Stadtkommandanten und dem Ehemann in spe kurz Gehaltene; Donna Elvira, die gerade zwischen zwei Flügen seine Versprechungen umgehend testen will; Zerlina, das Mädel aus der Vorstadt, die gerade mit ihrem Masetto Hochzeit feiert zwischen Mülltonnen auf Papptellern und die den Liebkosungen Giovannis sich hingibt wie eine ausgetrocknete Blume. Und alle Freundinnen feiern mit beim Love-In. Den Zweisitzer im Schloss allerdings bewacht schon Elvira, die endlich ihren Quicky haben will vor dem nächsten Einsatz.
Don Giovanni, inszeniert von Peter Konwitschny in der Komischen Oper. Es ist Konwitschnys erster Mozart, und es ist die erst dritte große Opernarbeit des mittlerweile Promipublikum aus allen Ecken anziehenden Regisseurs in Berlin. Den ersten Versuch Konwitschnys machte der damalige Chefregisseur am Hause, Harry Kupfer, auf halber Strecke zunichte. Die Verkaufte Braut, von Konwitschny begonnen, legte Kupfer sich selber ins Bett. Erst später in Graz konnte Konwitschny die Oper nach seiner Facon inszenieren – und viele bangten an der Behrenstrasse ob möglicher Spätfolgen. Dann Luigi Nonos Intolleranza zum Amtsantritt Udo Zimmermanns an der Deutschen Oper – es war das falsche Stück zum falschen Zeitpunkt, kurz nach dem 11.September. Giovanni jetzt wenige Tage nach dem Kriegsbeginn in Irak – es ist ironischerweise eine Regenschirmspitze, mit der Giovanni den Stadtkommandanten, üblicherweise Komtur genannt, ins Jenseits befördert als sozusagen Geheimagent der Liebe.
Der das Gesetz repräsentierende Komtur, stattlich wie ein Schrank, sitzt allerdings immer wieder am Weg, wenn Giovanni auf Abenteuerpirsch geht. Er inspiziert auch schon das Treiben auf dem Schloss, wenn Giovanni mit den Gespielinnen und Gespielen Zerlinas ein bisschen de Sade mimt und sich am SM-Freiheitsbaum der Liebe auspeitschen lässt. Und er lässt sich ganz nett einladen zum Nachtmahl am Schluss, hakt sich bei Giovanni sogar unter und setzt sich freundlich zu Tisch. Den Teller mit dem duftenden Braten schiebt er aufmerksam dem darbenden Diener zu, der sich über das Essen her macht wie ein ausgehungerter Wolf, den Teller abschleckend von allen Seiten wie eine Katze heimlich unterm Tisch. Und alle, die Giovanni jagten, die mit Platzpatronen sich reihum und zum Teil mehrmals ins Jenseits beförderten, bis dann nur noch Anna übrig blieb, die sich erst mit Masetto und dann mit Elvira tröstet in einem Eckchen, und Octavio, der einen Brief Mozarts an seinen Vater hervorkramt, wie sehr er ihn doch liebe und um leben zu können, sich immer nur das Schlimmste vorstelle, inklusive den Tod – alle, auch die eisgrauen Kumpels von Masetto in ihren korrekten Anzügen, sind am Schluss wieder da.
Auch die Frauen stecken nun in solchem Einheits-Grau. Sie reißen dem Giovanni das Körperteil raus, das sie verantwortlich machen für all den Trubel, stecken ihn in einen ebenfalls grauen Dreiteiler, setzen ihn wie den alten Casanova in einen Großvatersessel und schieben ihm ein Stöckchen mit Silberknauf zwischen die Finger. Mit dem darf er nun die verlöschende Flamme des Kaminfeuers regulieren. Und langsam erstirbt das ganze Stück. Die Stimmen, die Orchesterinstrumente verebben, vertröpfeln wie in Haydns Abschiedssinfonie. Alles ist tot, wenn so einer wie Giovanni nicht mehr sein Leben lebt und liebt, der lebendige Widerspruch, das Salz in der Suppe. Vom Rang allerdings tönt’s wie mit inszeniert barsch in die Stille nach dem Sturm gleichsam vom Komtur-Stellvertreter: "So nicht, Herr Konwitschny!" Und es folgt ein Orkan von Buhs und Bravos, wie man ihn in dem Haus sehr sehr lange nicht mehr vernommen hat. Es war allerdings auch eine Aufführung von einer emotionalen Vehemenz, wie man sie hier auch sehr sehr lange nicht mehr erlebt hatte.
Dabei muss man durchaus nicht alles plausibel finden, was Konwitschny und seine dramaturgischen Mitarbeiter sich haben einfallen lassen: den großen Verschleiß an Wäsche etwa, oder auch die gifthaltigen Mozartkugeln zu Beginn. Da wird in einem stummen Vorspiel der kleine Wolfgang Amadé gezeigt beim Klavierüben, und wenn der Vater wegguckt, vergnügt er sich lieber beim Boogie Boogie, und die Mutter muss aus dem Hammerklavier steigen und den Kleinen schützen vor den Kantenschlägen des Vaters. Auch die von Jörg Koßdorff gebaute Bühne mit einer Art geschwungener Gasse auf der fast ewig rotierenden Drehbühne vermittelt über die fast ausschließlich auf die Personenregie konzentrierte Aufführung hinaus nichts weiter an Spannung, das alte Problem bei Konwitschny. Allerdings, dass Felsenstein in seine Probebühne sich eine Drehscheibe hat einbauen lassen, verführt auch etwas die Regisseure. Auch über die von Konwitschny eingebauten Brüche kann man durchaus geteilter Meinung sein. Insgesamt verliert Konwitschnys ungemein ehrlicher und zugleich Mozartisch leichter Umgang mit dem Stück doch im zweiten Teil merklich an Dringlichkeit.
Sinnvoll allerdings ist das Sichtbarmachen der immanenten musikalischen Brüche, wenn Mozart beim Fest auf dem Schloss drei Kapellen aufspielen lässt und das auch durch die räumliche Verteilung der Musiker im Parkett sinnfällig wird. Kess zupackend die zugleich fast schon fremd klingende deutsche Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze, bildhaft-flexibel der Duktus der Rezitative. Und grandios, was aus dem Graben tönt vom Orchester der Komischen Oper unter Kirill Petrenko: schon beginnend mit den fast penetranten Donnerschlägen der Ouvertüre bis hin zum knochenscharf ausgeleuchteten Profil der gesamten Partitur. Ein Ereignis auch der athletisch agile und vitale Giovanni von Dietrich Henschel in seinem weiten leuchtendgelben Seidenmantel (Kostüme: Michaela Mayer-Michnay). Ein Kabinettstückchen für sich der über die Leidenslitanei Buch führende Leporello von Jens Larsen; wie ein Zwilling ist er gekettet an sein Herrchen. Etwas blasser gezeichnet sind die Frauen: Bettina Jensen als die nachholebedürftige Anna, Anne Bolstad als die etwas hysterische Elvira, Sinéad Mulhern als die eher naive Zerlina.
Das Haus hat mit dieser Produktion jedenfalls erst mal wieder einen Kassenschlager. Gut beschirmt darf es in die allernächste Zukunft blicken. Und der abgehende Stadtregierende lässt auch seinen Schirm eingeklemmt schweben in der Tür: Komm' wieder…