Stretch-Übungen, Trinken, Schweiß trocknen, Handtuchfalten, auf dem Boden stampfen, Getränkeflasche ausgießen, sich formen zu einer Laokoon-Gruppe, Schenkel klatschen, rhythmisch mit den Füßen stampfen, aneinander an den Händen halten, auf Klanghölzer am eigenen Körper schlagen, schließlich auf ein Klanghölzchen am Geschlechtsteil schlagen, sich mit Armschleudern zum Reigen formen, Ablegen der Klaghölzer, Trainings-Klamotten abstreifen, sich drehen wie Puppen – Befreiung. Befreiung?
„Kat Válastur“ nennen sich die drei Frauen, „strong born“
ihre 70-minütige Choreografie. Übersetzt meint der Titel den Namen der
griechischen Prinzessin Iphi-genía, in Kraft geboren. Inspiriert haben
sich die Performerinnen vom Schicksal der Iphigenie in Aulis und einem
„Anastenaria“ genannten nordgriechischen Ritual. Die Forderung nach
einem Opfer werde hier verwandelt in einen „rebellischen Widerstand
dagegen“, so das Programmheft. „Die Bewegungen der drei Performerinnen
werden durch die an ihren Körpern befestigten Klangelemente und das
Zusammenspiel mit einer kreisförmigen Holzplattform bestimmt“, so
weiter. Außerdem gibt es noch eine Performerin am Schlagzeug. Ihre
Aktionen werden elektronisch abgemischt und verstärkt.
Die Arbeit
zeigt durchaus beeindruckende Elemente. Was ein bisschen fehlt, ist ein
perfekteres Timing. Die Episoden wirken stellenweise überdehnt.
Insbesondere am Schluss.
Fassungslos ist man von dem, was das Ballet national de Marseille mit „[LA] HORDE, Age of Content“ zu bieten hat. Es will die längst reale Wirksamkeit von Virtualität auf die Bühne bringen. Das beginnt mit einem fern gesteuerten Autogerippe, auf dem und um das herum erst ein Tänzer, dann die ganze Gruppe in hellen Hoody-Ganzkörperdresses brutale Kampfspiele ausführen. Sodann werden Cyberfiguren in den Raum geschickt, die auch Cybertänze (?) aufführen. Dann wird einzeln und in Paar-Gruppen Sex-Akrobatik in allen Variationen exekutiert. meist zu einer hämmernd-dröhnenden Soundkulisse mit pseudosakralen Frauenchören.
Und erst in den letzten ca. 15 der insgesamt 75 Minuten kann man einen allerdings sehr virtuosen Tanz zu hämmernder Minimal Music erleben. „So greifen verschiedene Vorstellungen ineinander, von Actionfilmen bis zu Musicals, von Social-Media-Choreografien bis zu Videospielen und der diskreten Kunst des Stunts“, heißt es im Programmheft. Der Beifall nach dem Schlussteil ist gewaltig (mit schwachem Buh), gezieltes Fishing for compliments. Die Teile davor mit ihrer auch sexistischen Brutalität könnte man sich getrost sparen. Und überhaupt: die Längen in dieser Performance sind leider auch sehr beträchtlich.
Ricardo Carmona ist der neue künstlerische Leiter der traditionsreichen Berliner Veranstaltungsreihe „Tanz im August“. Mit seinem Programm wollte Carmona den Blick mehr nach Süden richten, weg von der eurozentristischen Tanzszene. Das ist sicher sehr willkommen. Aber auch wenn ich nur einen kleinen Teil des Programms gesehen habe – etwas mehr künstlerischer Scharfblick wäre für die nächsten TiA-Ausgaben sehr willkommen. Und auch etwas mehr Professionalität bei der Organisation.
„Tanz im August“ – und das als Auftakt! Langweiliger hätte man sich’s kaum vorstellen können. Eine ältere Dame, die mal ihre Meriten hatte und beim nur in seiner Frühzeit kreativen Merce Cunningham arbeitete. Säuselnd zu Indianer-Melodie-Fetzen, bewegt sie sich wie eine Behinderte über die vergrößerte Tanzfläche des Hebbel-Theaters alias Hau1. Den Rumpf gen Himmel beugend und die Arme dazu ausstreckend, mal sich am Boden wälzend. Das und Ähnliches gut 20‘. Dann kommen fünf jüngere Tänzer*innen dazu, 2 Männer, 3 Frauen. Tun das Nämliche, einer der beiden Männer immerhin auch mit echtem Können. Eine Art Kontakt zwischen ihnen gibt es allerdings kaum. Es ist einfach anödend. Nicht auszuhalten. Nach 50‘ habe ich genug von dieser Vorstellung, die laut Programmheft noch eine knappe halbe Stunde weiter währen sollte. Die Dame heiß übrigens Deborah Hay, ihr „Stück“ nennt sie „my choreographed body … revisted“ (Uraufführung).
Man dachte, man hätte den Ausrutscher des Programms überstanden. Aber es kommt noch schlimmer. Noch eine Uraufführung: „Isadora Duncan“ von Jérôme Bel. Vielleicht hatte man sich da seltsamerweise eine Art Bio-Handlungsballett vorgestellt. Es wird eine Art Kinderschul-Veranstaltung für Historien-Bewusste. Der Abend (im ehrwürdigen Deutschen Theater) beginnt damit, dass eine kleine Frau mit rundem Gesicht auf die Bühne tritt und im bedeutsamen Tonfall verkündet, dass man aus ökologischen Gründen keinen Programmzettel gedruckt habe – beim TiA eigentlich immer nur ein Blatt Papier. Deswegen werde sie vorlesen, wer was warum macht. 10‘ Zeit verbringt sie damit. Sie erzählt, dass die 69jährige (wieder ehemalige Cunningham-)Tänzerin Elisabeth Schwartz einige Tänzchen und Bewegungsfiguren zeigt, die von der 1877 geborenen und mit 50 Jahren verstorbenen Ikone des modernen Tanzes Isadora Duncan überliefert sind. Wegen Flugscham, worauf man gern verweist, habe man aber nur per Video-Schaltung proben können. Eine Duncan-Nachfahrin habe geholfen.
Duncans Neuerfindung des Tanzes wird erklärt, dass man in ihrer Heimat Kalifornien zu ihrer Jugendzeit von der griechischen Antike geschwärmt habe. Und entsprechend sind die ersten Figuren, die sich Duncan ausdachte – als Opposition zum bis dahin geschätzten Spitzentanz. Vor allem Figuren mit sich weit himmelwärts öffnenden Armen und sich spreizenden Beinen, fließend, aber statuenhaft. Die Figuren und kleinen Tänzchen werden erst gezeigt, dann „trocken“ erläutert, was die einzelnen Figuren bedeuten sollen (Begehren-Suchen-Welt usw.). Dann nochmal wiederholt. Von Duncans Vermählung mit Gordon Craig, den sie in Berlin 1904 kennenlernte und bald wieder an einen anderen Mann verlor, wird erzählt; von dem zweiten Mann aus dem Singer-Nähmaschinen-Konzern, mit dem sie wieder ein Kind hatte, und dass sie dann beide Kinder bei einem Autounfall verlor; von der erst durch den Weltkrieg I unterbrochenen Schaffenspause und dann 1921 dem Aufbruch in die neue Sowjetunion, wo sie nach Skrjabin-Musik einen heroischen Tanz über zerbrochene Ketten, Maloche und Kampf in einschlägigen Posen kreierte. Das einzige an dem Abend etwas kraftvollere Stück.
Und zwischendurch gab’s noch eine Einladung ans Publikum, wer wollte mit der Tänzerin Schwartz einen kleinen Tanz einüben? Etwa ein Dutzend Frauen und Männer wagten sich auf die Bühne. Beifall. Aber verwunderlich ist doch, dass sowas als „Uraufführung“ von einem Jérôme Bel so völlig ohne Form bei solch einem Festival firmiert. Und es gab ja wie zu hören davon noch mehr. Aber darf man das überhaupt kritisieren? Überblickt man den heurigen Festspielsommer bis nach Aix, Bayreuth und Salzburg, fragt man sich schon, was Festivals überhaupt noch sollen. Höhepunkte künstlerischen Schaffens sind sie längst kaum mehr. Dass sie aber so ärgerlich sein können? Gibt’s wirklich keine besseren Festivalmacher, solche mit Qualitätsanspruch und Metier? Dann kann man sich den Zirkus doch ganz sparen; weinen würde wohl nur die Tourismus-Industrie. Und: Erinnern ist gut und wichtig. Aber es gibt wahrlich Spannenderes in der Tanz-Historie, als an was die Berliner TiA-Festivalleitung hier meinte erinnern zu müssen
Jubiläums-Ausgabe zum 30sten. Es gab mehr Geld und es wird auf vier weitere Jahre mehr Geld geben. 750.000€ Zuschuss kommen vom Senat und heuer noch mal 100.000€ extra. Da kann man sich auch größere Kompagnien leisten. Zum Auftakt das Ballett der Opéra du Lyon. Auch wenn der Premierenabend dank Flugschlamassel wohl etwas holprig geriet. Die von mir besuchte dritte Vorstellung immerhin lief glatt. Voller Saal, ein begeistertes Publikum.
Dreimal Beethovens Große Fuge op.133, höchst unterschiedlich choreographiert von drei renommierten Choreographinnen. Dreimal Beethovens Musik auch sehr unterschiedlich interpretiert, in der ersten Version etwas dröhnend in einer Orchesterfassung. Lucinda Childs zeichnete da für die Bewegungen verantwortlich. 12 Paare setzt sie ein. Die haben vor allem Grundschritte des klassischen Tanzes auszuführen von Arabesque bis Chassee. Viele Drehungen, Spreizungen, Läufe, schön anzusehen aber inhaltlich doch recht leer.
Die zweite Version von Anne Teresa De Keersmaker, die Musik gespielt vom Debussy Quartett. Keersmaker betont das Kraftvoll-Störrische dieses späten Beethoven. Zwei Frauen und sechs Männer praktizieren in etwa die gleichen Bewegungen: viel sich zu Boden werfen, abrollen, mit abgewinkelten Armen springen. Die Kleidung – Streifenanzug, weißes Hemd – wird Zug um Zug gelüftet. Man spürt die Anstrengung der Tänzer*innen schon beim Zusehen.
Die dritte Version: von der amerikanischen Choreographin Maguy Marin. Auch sie lässt die Musik von einem Streichquartett einspielen, dem Quartetto Italiano. Vier Frauen in roten Kleidern oder Rock-Bluse-Kostümen kommen da erst mit Verzögerung auf die Bühne. Sie betonen das Leiden hinter der Musik Beethovens, und die Leidensfähigkeit von Frauen, ihren gelegentlichen Masochismus, wogegen sie immer wieder aufzustehen versuchen. Diese gut 20 Minuten machen den stärksten Eindruck.
*
Eher künstlich wirkend, aber mit stupender Virtuosität der 10 Tänzer*innen, der „Autobiography“ überschriebene Abend der Company Wayne McGregor. Der inzwischen hochgerühmte englische Choreograph hat sich da Merce Cunninghams späte, der eigenen Kreativität nicht mehr trauende Idee einer computer-gestützten Bewegungs-Sprache zu eigen gemacht. Als Grundmuster benutzt McGregor die eigene DNA. Man kann das bei gutem Willen als autobiographisch interpretieren. Über die Art des Tanzes sagt es wohl nichts.
Immerhin – zu der unglaublichen Vielfalt, aber doch immer wieder nach gleichen Mustern verlaufenden Choreografie gibt es ein hochdifferenziertes Lichtkonzept aus LED-Strahlern an der Decke und Lasern an der Seite. Die Farben und Farbwechsel sind beeindruckend. Weniger beeindruckend die elektronische Musik von Jlin. Einmal gönnt sie sich immerhin ein paar ruhigere Minuten mit vorbarocken Klängen. Und überhaupt sind die ruhigeren Tanzpassagen die beeindruckenderen. Virtuosität ist nicht alles.
*
Aber auch ein Name sagt noch nichts über Qualität. Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, das lange nach dem Tod der früheren Chefin mit der Repetition ihrer einstigen Kult-Choreografien überlebte, hat nun einen Neuanfang versucht – wobei die das organisierende Chefin inzwischen geschasst wurde. Dieser Neuanfang ging schwer daneben. Was unter dem Titel „Neues Stück II“ daherkommt und den abschließenden Höhepunkt des diesjährigen TanzImAugust bilden sollte, war ein kläglicher Versuch, die immer noch stupenden Künste der einzelnen Tänzer*innen einzubetten in eine Geschichte.
Dreieinhalb Stunden dauert dies Martyrium. Und die wenigen echten
Tanzeinlagen sind die kleinen Highlights. An denen entlang muss man sich
hangeln, um den Abend zu überstehen. Dazwischen wird viel geredet,
besser: palavert, telefoniert, u.a. in Englisch, Deutsch. Vor allem wird
viel gestorben – und geraucht. Immerhin da gibt’s ja einen gewissen
Zusammenhang. Pina-Bausch-Gedächtnis-Rauchen könnte man den Abend von
Alan Lucien Øyen auch betiteln, der mit einem
scheinbaren Blick hinter die Kulissen beginnt und fast nie wirklich über
die Rampe kommt. Schade.
Es darf wieder getanzt werden. Nicht nur wie im „postmodernen“ Tanz à la Xavier le Roy stundenlang unter schwarzen Tüchern im Dunklen gehockt, vielleicht mal sich zur Seite gerollt werden. Am meisten getanzt wird noch bei Sasha Waltz in ihrer neuen Kreation „Kreation“, ihrer letzten als Chefin des nach ihr benannten Ensembles. Allerdings zeigt sich doch, dass die ersten euphorischen Kritiken arg übertrieben waren. Das Stück, das, über Beziehungen reflektierend, betont bedeutungsschwanger daherkommt, wirkt mit seiner eher improvisiert gemeinten, gleichwohl stereotyp-spastischen Bewegungs-Choreografie auf Dauer leer. Ausgeklügelt immerhin die Lichtregie. Am Ende im ausverkauften Haus der Berliner Festspiele knapper Beifall mit leisen Buhs.
Waltz war ein Schwerpunkt dieses „Tanz im August“. Ebenfalls das Thema Revolution – aus Anlass der hundertsten Wiederkehr der Oktoberrevolution. Aus Russland allerdings gab es nichts zu sehen. Bolschoi würde natürlich wenig passen – aber sonst gibt’s auch nichts Interessantes dort?
Frauen war ein anderer Schwerpunkt. So lernte man eine ehemalige Tänzerin aus dem Pina-Bausch-Ensemble kennen, die Italienerin Cristiana Morganti. Nicht mehr ganz jung und deswegen eher mit einer selfieartigen Talkshow über ihre eigene Biografie und das Leben, Proben und elegante Zigarettenrauchen mit Pina präsent. Nicht ohne Witz war das, aber auch etwas langschimmlig und arg selbstbezogen. Die wenigen Minuten Tanz, die sie den Zuschauern gönnte, zeigten indes eine ausgewiesene Könnerin – nicht selbstverständlich heute und bei diesem Festival. Dennoch einem Besucher im Hebbeltheater galt das alles als nur „Scheiße“, und er buhte anhaltend kräftig. Und selbst die Videoeinlage – Tanz im Tanz, projiziert auf einen fast durchsichtigen Plissee-Rock als „Höhepunkt“ am Schluss – konnte da nicht helfen.
Ein einsamer Höhepunkt: Rocío Molina mit ihrer Show „Caída del Cielo“ (Einsturz des Himmels). Flamenco ist die Basis ihres fulminanten Auftritts. Aber traditioneller Flamenco ist hier erst gegen Ende der fast 100 Minuten zu sehen als ein verhaltener Rückblick auf etwas, das einmal war: Widerstand gegen ein Besatzungsregime, das der Mauren. Es beginnt beim Himmels-Einsturz mit einem ohrenbetäubenden Heat-up ihrer fünfköpfigen Band, deren Mitglieder sie später auch mit Originalmusik und den typischen Klappgeräuschen begleiten. Dann sie im weißen Schleppenkleid am Boden kriechend wie eine Undine, sich aufzurichten versuchend. Mehrere Verwandlungen macht sie dann durch: im Torero-Outfit, mit Stock, im Morgenmantel, als gleichsam Schnecke eine Kriechspur auf den Boden malend; dann nach Reinigung der Füße und Hilfe beim Abtrocknen durch einen Begleiter mit einem braunroten Kleid tanzt sie originalen Flamenco, kommt schließlich im Baströckchen mit ihren nun zur Punkrock-mutierten-Band in der Gegenwart an.
Ein bisschen weniger Schauelemente hätte man sich vielleicht gewünscht und auch eine straffere Dramaturgie. Standing ovations dankten der eher untersetzt wirkenden Tänzerin. Ein Kraftpaket. Eine der wenigen bei diesem Festival, die ihr Metier aus dem FF beherrschen. Bewundernswert die Intensität ihrer Ausstrahlung, und mit welcher Präzision sie diesen Abend performte.
Nach langer Zeit mal wieder beim „Tanz im August“. Das Programm verspricht auch einige Highlights mit professionellen Gruppen. Zumal mit dem Cullberg Ballett. Sie haben ein Stück von Deborah Hay im Programm mit dem durchaus vieldeutigen Titel „Figure a Sea“. Figure meint nicht nur Figur sondern auch sich vorstellen, und das englische Wort für See meint ausgesprochen auch sehen. Man sieht in dem 60minütigen Stück zu einem minimalistischen Soundtrack von Laurie Anderson (in Berlin) 17 Tänzer*innen eher solistisch agieren. Gelegentlich finden sie sich zu Gruppen und Grüppchen, bleiben aber fast immer privat.
Die Figuren, die sie zeigen, sind wie abgebrochene Versuche sich zu
bewegen, eher in alltäglichen Verrichtungen, oft in der etwas
verschwurbelten Methode des späten Computer-affinen Merce Cunningham.
Hay war mal Tänzerin in seiner Truppe, hat aber auch mit
nicht-professionellen Tänzern gearbeitet, was man ebenfalls zu sehen
bekommt. Manchmal wird das Gegenüber in einer Art Kontaktimprovisation
avisiert oder gar fixiert. Oder man findet sich zu Paaren zu einer Art
Gesellschaftstanz. Oder man geht, jeder für sich, sinnierend,
reflektierend. Oder man steht einfach.
Postmoderner Tanz nennt sich
die Richtung, ist aber ziemlich bald ermüdend anzuschauen. Und man
bedauert etwas die hochprofessionellen Tänzer*innen des einst so
progressiven Cullberg-Balletts bei ihrer Unterforderung.
*
Eine Satire auf Amerika sollte wohl sein, was VA Wölfl / Neuer Tanz mit „von mit nach t: No 2“ insinuierte. Die Tänzer*innen treten vorzugsweise mit Bibel in der einen, Pistole in der anderen Hand auf, simulieren im Mittelstück in fünf Episoden die Ermordung des Robert Kennedy. Und das ist noch die plausibelste Szene, auch wenn die Darsteller*innen in Brautkleid – und bei dem endlichen Tod des Politikers – mit Engelsflügeln auftreten. Einer der Darsteller zeigt dabei mit einer 2 m langen Wasserwaage die jeweilige Schussrichtung der vier plus eins Kugeln, während die übrigen Darsteller*innen sich in Super-Zeitlupe in die jeweilige Position begeben.
Ansonsten viel Schi-Schi-Pop, eher eine Musik-Show mit auch Gesangs-Einlagen, denn wirklicher Tanz. Es beginnt schon mit lautem E-Gitarren-Gedröhne von hinten, während vorn eine Darstellerin mit einer Kollegin symmetrische Knick- und Beugebewegungen vollführt. Später wechselt das „Instrumentarium“ der Darsteller ein bisschen. Irgendwann, wenn die zunächst noch oben hängenden weißen Stoffwandungen der Bühne nach unten gleiten und den Raum begrenzen, werden zwei längs aufgeschnittene Hälften einer Autokarosserie hereingefahren. Eine wird an der Wand hochgezogen, gleichsam „erhängt“. Sic! Und seltsame Rituale mit Rezitationen auf einem Rüttler beginnen.
Der Schluss ist dann nicht enden wollend mit Post-Scripta. Besonders bemerkenswert eine schon vorher mal die Bühne gekreuzt habende kurios gewandete Japanerin in Bhutto-Dress, die schnarchende Röchel-Laute ins Mikrofon krächzt. Buhs überwogen am Ende die Publikumsmeinung zu dieser vor Leere strotzenden Schau: 75 sehr sehr lange Minuten. Und so manche(r) wanderte auch schon lange zuvor ab. Als Ausbund an „Avantgarde“ war dieser aus drei unterschiedlichen Teilen zusammengesetzte Abend von der Festival-Chefin Virve Sutinen bei der Programm-Pressekonferenz angekündigt worden. Na wenn das die Zukunft des Tanztheaters ist…
Ein Sohn algerischer Einwanderer in Frankreich auf den Spuren seiner Familie. Der Vater diente in der französischen Armee: Marokko, Algerien, Indochina. Der Sohn stößt bei seinen Recherchen in Vietnam vor allem auf Verdrängung. Man will nichts mehr wissen von der kolonialen und postkolonialen Vergangenheit. Man will das Heute genießen, den wirtschaftlichen Aufschwung. In ausgedehnten Interviews hat sich Rachid Ouramdane ein Bild zu machen versucht. Unter dem Titel „Loin …“ (weit) hat er das in eine Performance aus Texten, Musik, Videos und wenigen kurzen Tanzeinlagen gepackt. Eine spannende Reportage ist daraus nicht geworden, ein wichtiges Thema wurde wie Schulfunk formal verschenkt. Und betroffen macht allenfalls die Frage seiner Mutter, was das ganze in den Kriegen vergossene Blut gebracht hat außer mal einem kurzen Fünkchen Hoffnung.
Des spät berufenen Choreografen Ouramdane „Loin …“ steht neben Stücken wie „It’s in the air“ von Jefta van Dinther und Mette Ingvartsen. Da darf man 45 Minuten lang das Tänzer-Duo bewundern, wie sie auf zwei Trampolinen getrennt, parallel, gegeneinander oder kurz auch eng umschlungen zu zweit alle Varianten des Traums vom Fliegen erdnah durch deklinieren auf den Füßen, auf dem Rücken, auf den Knien, auf den Händen, auf dem Bauch, auf dem Po. Die Sensation wäre: auf dem Kopf. Oder da ist: VA Wölfl und seine ständig sich selbst anpreisende Truppe „Neuer Tanz“. Mit „…im linken Rückspiegel auf dem Parkplatz von Woolworth“ exerzieren sie die Parodie einer oft ohrenbetäubenden Pop-Show, zwischen Rock, Schnulze und Disco-Sound hinter einem Vorhang aus Dutzenden von Skeletten und mit minimalistischen Bewegungen wie beim Aerobic. Das ist zwar bewundernswert exakt aber inhaltlich so abgenagt wie die Knochen der weißen Skelette, die da im 90-Minuten-Tempo als Scheibenwischer an der Truppe vorbei fahren.
Aber dass es auch anders geht, zeigt etwa die Gruppe „Membros Cia. de dança“ aus dem Brasilianischen Macaé. In „Febre“ zeigen die acht Tänzerinnen und Tänzer mit hochvirtuosem Hip-Hop-Streetdance das gewaltbedrohte Leben auf den Straßen ihrer Heimat mit Drogen, Sex und Todesschwadronen. Ein artistisch wie thematisch höchst beeindruckender Abend.
„Tanz im August“ – zum zwanzigsten Mal findet das aus kleinsten Anfängen zum inzwischen größten in Deutschland heran gewachsene Tanzfestival in Berlin statt. Die Finanzen wurden aus Lottomitteln aufgestockt. Eine eigentliche Feierausgabe sollte es aber nicht werden, so Mit-Kuratorin Ulrike Becker.
In seinem Grußwort zur Eröffnung wünschte der Regierende Kultur-Bürgermeister Klaus Wowereit dem Festival denn auch weitere „Jahrzehnte“ des Bestehens. Zum Auftakt hatte man sich Akram Khan und seine Company eingeladen. „Bahok“ zu Deutsch „Kofferträger“ heißt ihr Stück, erarbeitet mit acht Tänzerinnen und Tänzern aus China, Korea, Spanien, Indien, der Slowakei und Südafrika. Die Tänzer sieht man anfangs sitzen in einer Art Transithalle. Sie starren auf eine Anzeigentafel, die Zeichen ausspuckt wie „DELAYED“, „RESCHEDULED“. Die Wartenden vertreiben sich die Zeit, indem sie einander ihre Biografien zu erzählen versuchen. Aber meist geht’s in diesem globalisierten Dorf wie dem Hebelschen „Kannit-verstan“. Einer beginnt zu tanzen. Ein anderer telefoniert. Alle haben ihre Soli, und sie tanzen in der Gruppe. Eine chinesische Tänzerin zitiert, was sie auf Spitze kann. Aber es bleibt ein Zitat. Eine andere fällt wie eine Schlafende in einen wunderbaren Scarabaeus-Pas-de-deux mit ihrem Partner. Am Ende steht auf der Anzeigentafel: „HOPE“, dann „HOME“.
Es ist ein Stück mit einigen furiosen Sequenzen, dem man aber auch anmerkt, dass der inzwischen zur Berühmtheit gelangte englisch-pakistanische Choreograf sich den internationalen Moden anzupassen versucht. Auffällig immerhin: Die Berührungsängste des zeitgenössischen zum klassischen Tanz scheinen geschwunden.
*
Zum Abschluss
Ein nur mit langhaariger Perücke bekleideter Mann sitzt anfangs einsam auf der Bühne. Die Beine hin und wieder spreizend und anmacherisch Richtung Publikum quäkend. Später sieht man eine ganze Gruppe von Männern so auf der Bühne agieren oder sie toben kreischend durch den Saal, versuchen das Publikum zu animieren, während Tänzerinnen miteinander sich balgen. Das Ganze wird „moderiert“ von einer Conferencière, die auch schon mal, pflatsch!, mit dem Hintern in eine Torte sich setzt und Orgasmus mimt. Oder die Männer ziehen sich umständlich an, versuchen Abzählreime. Hin und wieder wird auch getanzt. Als Versuch über die abhanden gekommene Zärtlichkeit „Un peu de tendresse…“ will der kanadische Choreograf Dave St.Pierre sein Werk verstanden wissen.
Was autobiografisch daher kommt, ist wohl ein Versuch, dem Tanz, der das Erzählen verlernt hat oder sich nicht mehr zu erzählen traut, wieder einen Ariadnefaden einzuspinnen. Die junge israelische Choreografin Zufit Simon macht das mit einfacheren Mitteln. Unter dem Titel „Meine Mischpuche“ stellt sie in einem Feld von hunderten wie im Zier-Beet aufgestellter Gips-Eier ihre Familie vor. Da wird freilich auch vor allem geredet, oder es werden mit dem Kullern lassen der Gips-Eier klickende Geräusche erzeugt. Bei dem Abend mit dem kongolesischen Tänzer Faustin Linyekula konnte man sich immerhin satt sehen an der Lockerheit dieses Tänzers, wie er aus den Hüften heraus den ganzen Körper schwingen lässt – das freilich kontrastiert mit einem deutschen Ballett-Tänzer, der dem zierlichen Afrikaner klassischen Spitzentanz beibringen will und dabei wie ein steifer Stock wirkt.
Die Jubiläumsausgabe des Berliner Festivals „Tanz im August“ glich
einer Berg- und Talfahrt. Und öfter fühlte man sich in einem tiefen Tal.
Da war man etwa zu einem pummeligen Performer namens Olivier Dubois
gebeten, der auf der großen Bühne des Festspielhauses mit plump-patschigem
Dilettantismus sich an Variationen von Debussy-Nijinskys „Nachmittag
eines Fauns“ gemacht hatte. Die Einfalt in Aktion.
Wie leer und unsinnlich der sogenannte „Konzept“-Tanz geworden ist,
zeigte eine Gruppe aus Zagreb, BADco. In „Changes“ demonstrieren fünf
junge Frauen mit in sich kreisenden, ständig wiederholten
Bewegungsformeln zu Texten über John Cage den nicht nur tänzerischen
Stillstand.
Ungleich interessanter, wenn auch tänzerisch eng im Ansatz, der Japaner
Hiroaki Umeda, der teils in direkter Interaktion mit elektronischen
Medien, teils auch begrenzt auf einen engen Bühnenraum Parallelen
zwischen menschlichen und maschinellen Bewegungs-Formen sucht.
Mit Anspruch immerhin das „Ballet de Lorraine“. Es hatte sich
Karlheinz Stockhausen und seine vor 40 Jahren entstandenen „Hymnen“
vorgenommen. Die dreiköpfige Choreografen-Crew aus Nancy folgte in ihrer
Umsetzung der Biografie des im letzten Dezember knapp 80-jährig
Verstorbenen. Anfangs sieht man die 30-köpfige Truppe wie tot auf der
Bühne liegen, dann wie die Gefangenen aus dem Krieg zurück kehren.
Frauen steigen über die Rücken der Männer: Wiederaufbau. Schließlich
Stockhausens Abdriften in seine bunten Privatmythologien. Das war zwar
sehr bemüht, aber doch zu schematisch – zudem im kleinen HAU 1 fehl am
Platz.
Mit einigem Pfiff Nasser Martin-Gousset mit seiner „Comedy“. Eine nett
anzusehende Mischung aus Party-Gemurmel und Krimi-Parodie. Aber wie fast
bei allen jüngeren Arbeiten dieses Festivals fehlte es auch hier an
Gefühl fürs richtige Timing. Ein besoffener Kellner als running gag ist
keine abendfüllende Idee. Schon gar wenn er das Dinner For One
nur imitiert, ohne auch nur entfernt an die Feinheit der Komik des
dortigen Servant heran zu reichen. Die jungen ChoreografInnen - spürte
man immer wieder - wissen nicht, wann sich eine Idee erschöpft hat. Und
immer wieder sah man BesucherInnen vorzeitig abwandern, sehr zu Recht.
Dringend zu empfehlen wäre dem „Tanz im August“ eine Remedur der Auswahlkriterien. Vielleicht auch eine Neubesetzung der Leitung. Ohne tänzerische Qualität kein Festival, das bleibt als Fazit dieser zwanzigsten Ausgabe.
Vier
Frauen in Sportdress setzen sich an einen runden Tisch, beginnen
zu summen. Entfernt erkennt man die Anfangsmelodie von Strawinskys „Sacre
du printemps“, ‚Anbetung der Erde‘, die dann auch aus dem Lautsprecher
tönt. Mit dem stampfenden ‚Tanz der Jünglinge‘ beginnt der eigentliche
Tanz. Er entwickelt sich, Motive aus Nijinskijs Originalchoreografie
aufgreifend, zu einer Art Baseball Match. Zwischendurch stürmen Leute
aus dem Zuschauerraum mit lauten Schmährufen auf die Bühne.
Die amerikanische Choreografin Yvonne Rainer will mit dieser Einrichtung
den Skandal der Ballett-Uraufführung 1913 in Paris reanimieren.
Gelingen kann das so wenig wie der Versuch des als besonders
werbetüchtig in eigener Sache bekannten Xavier Le Roy – gleich im
Anschluss mit dem gleichen Objekt. Roy versucht Strawinskys für
Dirigenten immer noch eine Feuerprobe darstellende Musik durch stummes
Nachdirigieren zu „choreografieren“. Simon Rattle, sagt er, habe ihn
dazu inspiriert. So grimmig wie Le Roy beim Dirigier-Mimen aber
dreinschaut, hätte wohl kein Musiker Lust, je mit ihm zu spielen. Mit
einem Loriot oder Gerard Hoffnung als Verbündeten wären die vertrackten
Metrenwechsel der Partitur wohl wenigstens amüsant.
Der „Tanz im August“ ist wie das Wetter derzeit: eine Achterbahn von
Hochs und Tiefs. Da darf man etwa Michael Laubs „Porträt Serien“
beiwohnen. Junge Frauen und Männer, die irgendwas mit Tanz im Sinn
haben, stellen sich live oder in Filmchen vor. Eine Zwei-Zentner-Dame,
nackt, erzählt da von ihren Prinzessinnen-Träumen und lässt den
Kaiserwalzer einspielen. Eine andere haucht davon, wie sie den ersten
Penis im Mund hatte. Wieder eine andere outet sich bei diesem Tänzer-YouTube
als Bruce-Willis-Fan, offenbar ein Wert an sich.
In einer ¾ -stündigen „Lecture“ lamentiert der Bosnier Saša Asentic von
der Vorherrschaft des Westens über den Osten beim zeitgenössischen Tanz.
Eigenes bringt er nicht. Am Ende schreddert er seine Vortragspapiere und
schneidet dazu Grimassen à la Mr. Bean. Oder: eine Schutzbefohlene von
Sasha Waltz versteckt unter dem Titel „Edgar“ einige Kintopp-Slapstick-Nummern.
Saure Gurken sind die hauptsächlichen Opfer von Claudia Soares‘
Western-„Pickel Show“ – und die hinterlassen, wie der verächtliche
Umgang mit Lebensmitteln überhaupt, einen bitteren Nachgeschmack.
Aber dann gibt’s auch einen so exzeptionellen Abend wie den der „LaLaLa
Human Steps“ aus Montréal. Choreografiert von Édouard Lock werden da in
„AMJAD“ Versatzstücke aus Klassikern wie „Dornröschen“ und „Schwanensee“
so virtuos demontiert und in einem so aberwitzigen, gleichsam
Zeitraffer-Tempo neu aneinander gefügt, dass einem, schaut man den 9
Tänzerinnen und Tänzern zu, manchmal der Atem zu stocken scheint.
Akzentuiert ist das durch rasante Licht- und Perspektive-Wechsel.
Und auf ähnlich hohem Niveau auch der Eröffnungsabend mit Anne Teresa De
Keersmakers „Steve Reich“-Projekt. Sehr feinfühlig und mit Akkuratesse
ist da der minimalistischen Pattern-Musik Reichs zumal in den Soli und
Duetten nachgespürt: Wenn etwa in „Piano Phase“ zwei Tänzerinnen
maschinenartig exakt durch Dreher die leichten Verschiebungen in Reichs
Musik gestalten, um dann sich wie auf Knopfdruck wieder zu
synchronisieren. Tänzerisch weniger spannend nur die Ensemble-Szenen.
Fazit immerhin: Musik scheint die Choreografen wieder zu inspirieren.
Das war lange nicht so.
*
Ein Kommen und Gehen. Die Figuren laufen eiligen Schritts auf die Bühne,
rempeln einander, verhaken sich oder scheinen plötzlich einzuknicken,
verwinden sich seltsam. „Die andere Seite des Flusses“ nennt die
russische Choreografin Olga Pona ihr Stück. Zeigen will sie Erfahrungen
nach der Öffnung des Landes, die Konfrontation der Russen mit dem
Westen. Rollende, dampfende Untersätze beherrschen fortan die Bühne. Das
ist dann weniger stringent, geht über in auch eher varieteehafte
Aktionen. Immerhin – es wird getanzt bei Olga Pona: sechs Männer, drei
Frauen, nicht unbedingt auf einem Höchst-Standard von Virtuosität. Aber
da gab es auch viel anderes bei diesem Festival „Tanz im August“, wo man
sich fragte, was es hier soll.
Zum Beispiel Gisèle Viennes „Kindertotenlieder“. Die französische
Choreografin arbeitet gern mit Puppen. Puppen sind denn auch zentrale
Objekte ihrer mehr Installation als Choreografie; von Mahler hat Vienne
nur den Titel geborgt. Zu hören ist vor allem Heavy Metal – und man
bekommt immerhin beim Betreten des rauchgeschwängerten Raums ein Tütchen
Ohrenstöpsel ausgehändigt. Zu sehen ist eine gruftige Schau von im
Bühnenschnee sitzenden Figuren. Sie haben Kapuzen über den Ohren.
Halbtote steigen aus Särgen. Widderartige Urwesen, sogenannte Perchten,
fegen über die Bühne, entledigen sich ihrer bärenfellartigen Überzüge
und versuchen es – zwei Männer – mit Sex. Eine Frau mimt Sängerin, ritzt
sich später den Arm auf und wird von einem der Männer gleichsam
hingerichtet.
Was das Ganze soll – vielleicht so was wie Gewalt unter „Gothic“-Fans
stigmatisieren? Aber Gewalt wird hier nur benutzt für eine krude, dumpfe
Show.
Noch bescheidener im ästhetischen aber nicht minder hochtrabend im
intellektuellen Anspruch: Matanicola mit „Ladies first“, ebenfalls als
Deutschlandpremiere annonciert. Die israelisch-italienische Truppe hat
sich angeblich inspirieren lassen von der Nachtclub- und Kabarett-Szene
der 1920er Jahre. Zu sehen bekommt man auch da erst mal einen dichten
Grau-Vorhang aus der Nebelmaschine. Im schummrigen Gegenlicht bewegen
sich halbnackte Figuren als Silhouetten oder krauchen am Boden, staksen
durch gekräuselte Tücher. Dazu wummern Geräusche.
Nach einer halben Stunde wechselt die Lichtrichtung. Auf der Bühne
laufen die sechs Tänzer nun in schwarz-weißen Frauenkleidern mit Boas
und auf Pumps, formieren sich mal zu Gruppen oder veranstalten
Ringer-Sex-Spielchen mit einer gehörigen Portion Exhibitionismus.
Getanzt wird fast überhaupt nicht.
Auch bei Jean-Claude Gallottas Schau von „Menschen, die tanzen” steht
weniger Tanz auf dem Programm als – mitunter peinliche –
Selbstdarstellung. Die Leute, jüngere und ältere, treten zu Beginn nach
vorn, sagen warum sie gern tanzen – oder tanzen würden, denn Tanz sieht
man ja kaum. Man sieht so was wie Hobby-sich-bewegen, und das recht
ungeformt und mit viel Karaoke-Gesang untermischt. Nicht sonderlich
spannend.
Höhepunkte hielt die zweite Hälfte von „Tanz im August“ aber ohnehin
kaum mehr bereit – frustrierend für so manchen im Publikum. Fürs
kommende Jahr steht die zwanzigste, die Jubiläums-Ausgabe dieses
„größten“ Tanzfestivals in Europa bevor. Und es wäre sehr zu empfehlen,
dass die Veranstalter wieder mehr darauf achten, dass wo „Tanz“ drauf
steht auch „Tanz“ drin ist. Weniger Gutgemeintes als Gutgemachtes wäre
zu wünschen und eine Auffrischung der technischen Standards. Vielleicht
durch einen kritischeren Blick auf die Szene?
Der Raum sieht aus wie eine Mischung aus Beauty-Studio und Kinderzimmer. Drei Figuren mit Reiterkappen stehen darin im gleißenden Licht. Die beiden Frauen streicheln und dehnen schwarze Gummis, Luftballons, wie sich später zeigt. Der Mann am Mischpult schleckt ein Eis. Was folgt ist eine Explosion von Schreigesängen, Nackttanz auf Stühlen, immer wieder Aufblasen und Zerplatzen-Lassen von Luftballons; es ist Body Klecksen mit Schokoladencreme aus der Tube, eine – im doppelten Sinn – „Rock“-Orgie und das schließliche Zertrümmern des Plastik-Kinderzimmers. Ann Liv Youngs „Solo“ ist eine Performance der besonderen Art. Sie zeigt ein kraftvolles Bekenntnis zum eigenen weiblichen Ich, unbekümmert um ästhetische Feinfühligkeiten und Grenzüberschreitungen, erwachsen aus genauer Beobachtung der Menschen, mit denen die aus North Carolina stammende Künstlerin lebt.
Ann Liv Youngs „Solo“ ist die bisher eindrucksvollste Performance des diesmal auf 17 Tage angesetzten Berliner Festivals „Tanz im August“. Erstmals trat Young in Deutschland auf. Dumpfe Finsternis ausstrahlend: eine ebenfalls erstmals in Deutschland gezeigte Performance von Mark Tompkins mit vier jungen Männern: „Animal“. Tompkins agiert darin selbst als eine Art Dompteur, Verführer aber auch Schiedsrichter. Die Männer müssen sich mal wälzen wie ein Rudel schlafender Hunde oder hüpfender Affen, werden animiert zu einer Art Transvestiten Show oder mimen Sumo-Ringer. Rezitiert werden dazu Texte von Emerson, Hitler und aus dem Katholischen Gesangbuch. Streckenweise ist das ganz amüsant, zumal in den akrobatisch-athletischen Teilen, ansonsten aber miefig dozierender Kitsch über die Dressierbarkeit von Menschen als Tiere in einem pseudo-weiheartigen, Weihrauch-geschwängerten Bühnenambiente.
Noch extremer: Brice Leroux mit seinem magischen Arm-Ballett „Quantum“. Der durch die Keersmaeker-Schule sozialisierte belgische Choreograf lässt seine fünf Darsteller hinter einer riesigen transparenten Spiegelwand agieren. Der Raum ist total abgedunkelt, nur die weißen Arme reflektieren mattes Licht. Höchst präzise simulieren diese Arme geometrische Figuren wie Buchstaben: W, X, L, V, oder Winkel, Parallelen, Linien oder geschaltete Kontakte. Im Raum hört man dazu ein dunkles Grummeln, lediglich bei den Übergängen sirrt eine Art weißes Rauschen. Das Augen- und Ohrenflimmern in diesem durch die Dunkelheit zur Zelle geschrumpften Raum hat etwas Beänstigendes. Aber wie so viele gerade jüngere Choreografen lässt Leroux es an Timing vermissen. Der Effekt verbraucht sich und verpufft. Dennoch sehr eindrücklich.
Um das Amalgamieren fremder Identitäten ging es in einem Soloabend der Montrealer Tänzerin Louise Lecavalier. In „’I’ is Memory“ zeigt sie in unendlicher Langsamkeit einen Tänzer, der in eine fremde Haut schlüpfen will und Millimeter um Millimeter sich in ein neues Dress überzieht, um es am Ende wieder abzustreifen. In „Lone Epic“ will sie den Abstand von echter Emotion und falschem äußeren Pathos zeigen. Sie parodiert einen Dirigenten, der sich à la E.T.A. Hoffmann vor gespensterhaften Notenständern fürchtet. Mit großem Können ist das gemacht, wenn auch etwas langatmig und thematisch selbstbezogen.
Begonnen hatte das zum 18.Mal veranstaltete Berliner Tanzfest halbklassisch mit einem Remake von Michèle Anne de Meys „Sinfonia Eroica“. 1990 hatte diese Arbeit viel beachtete Premiere. Die aus der Schule von Maurice Béjarts stammende Choreografin, die dann einige Zeit bei Anne Teresa de Keersmaeker arbeitete, hat im Sommer das Stück neu herausgebracht mit ganz jungen Tänzern. Was frappiert an der Arbeit, ist die Unbekümmertheit und Frische, mit der die neuen Tänzer, vier Männer und fünf Frauen, die Beethovensche Musik der Dritten Symphonie umsetzen, sich immer neu paaren, auf einem quer gespannten Zirkusseil rollen, balancieren und am Ende duch Wasserpfützen über die Bühne schliddern. Insgesamt freilich ist das ein eher harmloses Vergnügen, Probenatmosphäre suggerierend auch mit den ständigen Brüchen der mit einem Contre Dance oder einem Zirkusmarsch geschnittenen Beethovenschen Musik.
Ein
Faltblatt wie an allen Tagen bekommt man in die Hand. „Ohne
Titel“ ist darauf zu lesen. Das ist der Titel auch des Stücks an diesem
Abend. Gespannt schlägt man das Faltblatt auf. Auch da steht nur OHNE
TITEL und dass man die Mini-Taschenlampen, die man ebenfalls am Eingang
überreicht bekommt, am Ende wieder abgeben soll. Hinten noch die
Werbe-Wiese und das Impressum. Alles. Der Saal ist dunkel. Die schon
anwesenden Zuschauer probieren ihre kleinen Handfunzeln aus. Versuchen
damit zu eruieren, was für Gestalten, mehr Stoffklumpen eigentlich, auf
der dunklen Bühne kauern. Im Lauf des Abends – denn es bleibt dabei:
dunkel, totenstill, fast regungslos – lernt man circa vier bis fünf
Figuren unterscheiden, die sich millimeterweise mal etwas links, rechts,
vor, nach hinten bewegen. Nach zwanzig Minuten wird eine Nebelschwade in
den Raum gepustet, die für kurze Zeit die Sicht zur Bühne ganz verdeckt
und Hüsteln beim sonst lammsgeduldigen Publikum auslöst. Nach weiteren
zwanzig Minuten knallt das Rampen-Licht auf die in ihren Sitzen von
solcher Überfülle an geistiger Herausforderung total erschöpften
Besucher. Man hat schon inspirierteres Anti-Theater erlebt.
Am Abend davor das krasse Gegenteil: Eine Rocky-Horror-Picture-Show der
neueren Art. Wir sind alle Marlene… nennt die Iceland Dance &
Maska-Gruppe aus Reykjavik ihr Programm, in dem sie mit viel
zwanghafter Anmache und lärmendem Tsching-Bum ihrem Publikum das
Verwerfliche von Krieg und Fronttheater noch mal verdeutlichen will.
Ausgangspunkt ist eine Reminiszenz an jene Zeit im Zweiten Weltkrieg,
als die Amerikaner Island zum Stützpunkt für ihren Kriegseinsatz
möblierten. Auch einige Isländerinnen meldeten sich da zum Einsatz für
die Abendunterhaltung der GIs. Zum kollektiven Mitschunkeln wird man
animiert. Aber die Tänzerinnen und Tänzer simulieren mit rasanten
Stürzen und zuckenden Bewegungen auch den Einsatz in offener
Feld-Schlacht. Aktualisiert wird das Ganze, wenn die puppenhafte
Leichtigkeit des Tötens in virtuellen Kriegsspielen simuliert wird. Als
Kontrast fabuliert zwischendurch mit säuselnder Märchenstimme einer der
Darsteller vom goldenen Zeitalter ganz ohne Staaten, Politiker,
Generäle: „stell Dir vor!“ Und am Ende leckt eine der Darstellerinnen
ihre Marmeladen-Wunde vom Zeh und faltet die Beine hinter ihrem Kopf mit
wimmernden Lauten.
„Tanz im August“ in Berlin ist eines der größten Tanzfestivals in
Deutschland. Nicht immer genügt auch die Qualität des Gebotenen höchsten
Ansprüchen. In gewisser Weise scheint der Blick des Veranstalterteams
etwas beengt.
Zwar hat man als eines der Hauptthemen in diesem Jahr die
Auseinandersetzung des modernen Tanzes mit dem Ballett sich erkoren. Was
der zeitgenössische Tanz dort vor allem studieren könnte, Form als
Sprache und Transportmittel von Inhalten, scheint vielen aber sehr
fremd: wenn etwa eine Julia Cima in ihrem Soloabend eher Stichproben
dessen präsentiert, was sie gelernt hat und wofür sie sich vielleicht
privatim interessiert, als einen Abend zu gestalten.
Wie wenig Material es dazu bedarf, könnte sie studieren bei Germaine Acogny,
die in Tchouraï mit einem unglaublichen Nuancenreichtum an
Bewegungsformen das Reinigungsritual einer Senegalesischen Frau
nachempfinden lässt und in wenigen Strichen ein gleichsam tänzerisches
Poem von atmosphärischer Dichte in den Raum schreibt.
Zwar sind noch einige Highlights angekündigt für die zweite Hälfte des
Festivals. Zu den Höhepunkten darf man aber schon jetzt die
Auftaktveranstaltung rechnen mit der Compagnie Marie Chouinard aus
Montréal und ihrem bODY_rEMIX.
Die Kanadische Choreografin lässt darin zu Musik unter anderem aus Bachs
„Goldberg Variationen“ ihre Tänzerinnen und Tänzer sich abarbeiten an
Konstrukten, die eigentlich dem verletzten Körper zur Fortbewegung
dienen: wie Krücken, Prothesen, Rollwagen. Aber auch der Ballettschuh
wird hier als Prothese verstanden. Besonders eindrucksvoll, wenn die
Tänzerinnen sich diese rosa Podestchen auch über ihre Hände ziehen und
wie Flamingos über die Bühne trippeln. Oder wenn zwei an den Beinen
zusammengebundene Tänzerinnen wie Siamesische Zwillinge sich
fortzubewegen scheinen. Das Exotisch-Deformierte wird hier durch die
Form geadelt. Man scheint es auf der Bühne wieder zu entdecken.
„Die Verhältnisse ein bisschen umschütteln“ will die Bühnenbildnerin
Anna Viebrock mit ihren Musiktheaterprojekten. „Wie hört man Musik oder
wie musiziert man, ohne dass man einfach nur Musiker ist“, möchte sie
erkunden. Bekannt wurde sie durch Arbeiten mit
Jossi Wieler und Christoph
Marthaler. Immer hat sie sich als mitinszenierende Bühnenbildnerin
verstanden. Und da wolle sie auch schon selber mal „gern was
ausprobieren“, sagt sie. Es ist ihre dritte derartige Arbeit. Realisiert
hat sie sie mit dem Komponisten und Dirigenten Johannes Harneit und
Musikern des Leipziger Gewandhauses, die sich als Kammerensemble „Sinfonietta
Leipzig“ nennen. Heimito von Doderers im Österreich der Zwanziger Jahre
spielenden Roman Die Dämonen haben sie sich hier vorgenommen. Der ist
bloßes Material für ihren Ohne Leben Tod betitelten Abend im Berliner
„Hebbel am Ufer“.
Die Bühne ist zweistufig. Unten ist als gleichsam hochgefahrener
Orchestergraben die Wohnküche der Anna Kapsreiter. Links, vor dem Gang zum
Örtchen, das die ganze Fantasie dieser Frau beansprucht, steht eine rote
Plastik-Eckbank mit Strackbein-Tischchen. Anna bereitet dort akribisch
ihren Morgenkaffee. Ein Elektroöfchen, über das sie gern stolpert, und
eine wie ein Herrgottswinkel mit Golgathablick gemusterte Uhr sind ein
weiterer geschichtsträchtiger Blickfang in Viebrocks aus dem
Ästhetik-Museum der untergegangenen DDR übernommenes Inventar. In der
Mitte steht ein polierter Schrank mit erleuchteter Vitrine, in dem ein
Schwan und eine Segelschiff Annas Sehnsüchte signalisieren. Rechts dann
das massige Doppelbett mit Bettvorleger und Nachttischchen. In der Etage
drüber residieren auf Kirchenbänken die Musiker. Wie zu einer Probe
schneien sie herein, setzen sich stumm in die Bänke mit Rücken zum
Publikum.
Ihr Blick schweift aber nicht auf ein Kruzifix sondern auf eine
elektrische Anzeigentafel mit kryptischen Schriftzeichen. In einer Nische
rechts ist ein vorsintflutlicher Elektro-Sicherungskasten montiert, aus
dem auch schon mal Rauch aufsteigt mit anschließendem Total-Blackout.
Darüber prangt eine Batterie von Klingeln, mit denen Frau Kapsreiter aus
ihrem Schlaf geweckt wird, damit sie ihre wirren Träume von Kloschüsseln
und Betonmischern in ihr dickes Tagebuch eintragen kann. Und sie notiert
das mit einem Kugelschreiber, der mit jedem Schriftzug rot aufleuchtet und
parallel das Rotlicht eines Wasserboilers hoch oben am Bühnenportal
entflammt. „Stolpern bringt Glück“ sind Annas erste Worte. Die sagt sie,
in der hintersten der Kirchenbänke sitzend, zu einem an ihren
Kontaktversuchen völlig uninteressierten Musiker. Ihm rückt sie immer
näher auf die Pelle, um ihm das Schicksal ihres Neffen Krächzi, den sie
verloren hat, und dessen Vater Mathias näher zu bringen. Vergeblich.
Eingewoben in diese Äußerungen und Erinnerungen der Anna Kapsreiter sind
Sinnsprüche des barocken Mystikers Daniel Czepko von Reigersfeld, die
Harneit in seine teilweise wie ausgekratzt klingende Bearbeitung von
Gustav Mahlers Vierter Sinfonie als gleichsam Rosenkranz- oder Zen-Sprüche von
den Musikern „gemeindemäßig“-chorisch murmeln lässt. Nur gelegentlich
versteht man etwas, oder soll etwas verstehen. Es sind zwei in sich
hermetische Welten, die da aufeinander prallen. Als eine „Annäherung“ an
Mahler will Harneit seine Mahler-Version verstanden wissen, in der auch
schon mal Sirenen aufheulen oder zeitweise Chaos tobt. Als Monteur und
Krächzis kriegsversehrter Vater Mathias Csamaritis geistert er selbst mit
halbseitig blinder Brille und steifem, lederbehandschuhten Arm durch die
Räume. Als Dirigent sitzt er in der zweiten Kirchenbank und schlägt, ohne
die Musiker anzublicken, den Takt.
Der mit über die Bühne geisternde Junge darf als gleichsam Engel aus dem
Jenseits den Schlusssatz der Sinfonie mit dem Lied vom „himmlischen Leben“
intonieren, wobei er nach jeder Strophe zusammensackt und wie eine Uhr neu
aufgezogen werden muss. Der Thomaner Julian Twarowski singt und spielt
diesen Buben Krächzi mit Pfiff und Scheu. Bettina Stucky überzeugt mit
tapernd-wackligen Schritten und wie blind durch ihre dicke Brille linsend
als tapsige Anna Kapsreiter. Dennoch mangelt es dem zweistündigen, eher
statischen Abend doch etwas an innerer Spannung. Das als Schlusswort
eingespielte Doderer-Interview, ob er denn jemals im Theater war, was er
mit einem „nein, niemals“ beantwortet, hat durchaus etwas Doppelbödiges.
Viel Beifall gab es gleichwohl am Ende für alle Beteiligten. Einige
Besucher verließen indes das „HAU 1“ vorzeitig.
Heavy Metal zu Beginn. Michael Clark und seine Londoner Truppe machen
den Auftakt zum diesjährigen „Tanz im August“. Seit einem
Vierteljahrhundert entwickelt Clark seine Choreografien als herben
Kontrast von Strenge und Anarchie. Fast wie Mobiles, bewegte Skulpturen,
wirken seine Stücke. Oh My Goddess heißt das, das er diesmal
mitgebracht hat. Die Tänzer werden im Prolog wie auf der Bühne umher
irrende Fremde gezeigt. Papiertüten sind über ihre Köpfe gestülpt. Dann
aber spürt Clark auch filigraneren Lineaturen in der Bauhaus-Tradition
nach mit live gespielter, gelegentlich aber auch sich verdoppelnder
Klavier-Musik von Satie.
Der „Tanz im August“ unter neuer Leitung. Nele Hertling, die Gründerin und
langjährige Programmiererin des Festivals, ist ausgeschieden. Ihre beiden
Kompagnons, Ulrike Becker und André Thériault, haben das Heft übernommen
zusammen mit Bettina Masuch und Matthias Lilienthal vom neu formierten
„Hebbel am Ufer“. An den Programm-Strukturen hat sich bislang wenig
geändert. Man hofft da mehr auf die Zukunft. Durch eine für zunächst drei
Jahre garantierte finanzielle Unterstützung vom Hauptstadtkulturfonds sind
nun längerfristige Planungen möglich, die auch Auftragsproduktionen
erlauben. So will man weiterhin Neues und Bewährtes, kleine Formate mit
großen Gastspielen mischen. Am Ende kommt auch mal wieder Pina Bausch mit
ihrem neuen Istanbul-Stück Nefés.
Dass das qualitative Niveau dabei stark schwankt, konnte man schon an den
ersten Tagen beobachten, wenn etwa die fabelhaft virtuosen Tänzerinnen und
Tänzer von Akram Khan aus London mit ihrer im Frühjahr in
Düsseldorf schon gezeigten brillianten, am indischen Kathak orientierten
Produktion Ma ins Rennen geschickt werden mit einer Newcomerin,
Eszter Salamon. Reproduction nennt sie ihre Arbeit, die laut einem
reichlich hochtrabenden Text den Geschlechter-Beziehungen nachgehen will.
Zu sehen sind gleichgeschlechtliche erst männliche, dann weibliche Paare,
die eher mechanisch aneinander in allen Posen sich versuchen. Die
Zuschauer sitzen dabei um die riesige Spielfläche wie um einen Tisch, der
freilich allzu karg gedeckt bleibt.
Ein Highlight die Rekonstruktion einer zwanzig Jahre alten Choreografie
des Kanadiers Jean-Pierre Perreault. Perreault verstarb vor zwei
Jahren. Joe, so der Titel, damals ein Kultstück, wurde ursprünglich
erarbeitet für einen Universitätskurs mit 22 in Männer-Staubmäntel,
Filzhüte und Armeestiefel gekleidete Frauen, dann erweitert für 32
Tänzerinnen und Tänzer. Wie Variationen über das Thema der Einzelne und
die Masse wirken die vielen kleinen Geschichten, die da erzählt werden,
wenn Einzelne auszubrechen versuchen aus der Uniformität, wieder
eingefangen werden oder die anderen zum Mitmachen verführen. Aber, sagt
Ginette Chagnon, die das Stück jetzt neu einstudiert hat, Perreault, der
von der Bildhauerei kam, ging es nie ums Erzählen von Geschichten. "Wenn
er ins Studio kam, hatte er keine bestimmten Intention. Er arbeitete mit
dem Körper. Er glaubte, wenn ein Werk stark genug und gut komponiert sei,
konnte der Zuschauer sich seine eigenen Geschichten hinzu erfinden."
Dass die Machart des Stücks, deren „Musik“ hauptsächlich aus dem Rhythmus
des Trappelns mit den Schuhen entsteht, dann popularisiert wurde im „Riverdance“,
ließ Perreault das Stück später ganz absetzen. "1995 haben wir auf einer
Australien-Tournee in Perth gesehen, wie River-Dancer in Armee-Boots
tanzten. Da war er froh, dass wir das Stück nicht im Gepäck hatten. Und
jetzt sind wir hier damit…"
Erstaunlich die Vielfalt der Mittel. Schwierig genug, einen Film mit
seinen ungezählten Möglichkeiten durch Schnitt und Kameraführung Spannung
zu erzeugen, rückübertragen zu wollen auf die Bühne. Im Einsatz sind hier
eine fest installierte Videokamera, drei Leinwände, wenig Requisiten,
sechs Darsteller, die auch als Rockband sich formieren, und ein
stattlicher Posaunenchor.
Lars von Triers Film aus dem Jahre 1987
Epidemic, sein zweiter, ist ein
Film übers Filmemachen. Trier und sein Co-Autor Niels Voersel wollten
darin in fünf Tagen ein Drehbuch schreiben über einen Doktor Mesmer, der
eine Epidemie zu heilen versucht, deren Bazillenträger er selber ist ohne
es zu merken. Es ist ein Philosophieren über deutsche Mythen und Märchen.
Der Bogen reicht von den Erzählungen über die Pest des 14.Jahrhunderts,
die damals ein Drittel der europäischen Bevölkerung hingerafft haben soll,
über die Entdeckung der Zusammenhänge von Körper und Seele am beginnenden
19.Jahrhundert bis zu Wagners Tannhäuser und den segensreichen Wirkungen
des Aspirin. Auch bei Sebastian Baumgarten und seinem musikalischen
Co-Autor Ari Benjamin Meyers ist das eine bunte Mischung von epischem
Rampenerzählen, märchenhaften Spielszenen, karikaturistischen Sketchen und
musikalischen Einlagen zwischen Hard-Rock und Wagner-Parodie, wobei die
Sprünge und Brüche doch teils etwas abenteuerlich und auch nicht unbedingt
originell sind. Tannhäuser etwa firmiert hier vor allem als Fremdkörper
der Wartburg-Gesellschaft, ein Bazillus der eigenen Art.
Woran
es dem Abend vor allem mangelt, ist ein sicheres Gespür für Timing und
Spannungsbögen. Allzu sprunghaft erscheint vieles. Und der anfängliche
Überraschungseffekt der Videokamera mit auf- und zuklappbarer Linse, vor
dem die Darsteller hektische Zooms imaginieren, indem sie ihr Gesicht
schnell nähern und wieder entfernen, erschöpft sich schon bald. Überhaupt
die Darsteller: eher laienhaft agieren sie auf der Bühne, vor allem der
als Trier-Alter-Ego eingesetzte nölige Lars Rudolph, der sich dann mit
Fliegermütze auf dem Kopf im Auto der deutschen Industrielandschaft an
Rhein und Ruhr nähern und mitten ins Volle der deutschen Chemie greifen
muss. Filmeinspielungen über die Opfer der IG Farben sollen da eine
Gefährlichkeit simulieren, die dem Abend ansonsten abgeht.
Baumgarten, der sich einen gewissen Namen gemacht hat durch seine Versuche
eines radikalen Umbaus des tradierten Opern-Repertoires mit Inszenierungen
vor allem in Kassel und zuletzt in Meiningen, erweist sich hier, wo er ein
Stück selbst strukturieren könnte, doch als erstaunlich unsensibel für
Dramaturgien. Zwar wird in diesem „Musiktheater nach Lars von Trier“
Epidemic viel auch diskutiert übers Bauen effektvoller Geschichten: die
Zutaten, die Umschwünge. Am wirkungsvollsten, heißt es da einmal, sei das
Ausbeuten des Leids anderer Menschen. Und von da schließt sich für Trier
wie auch für Baumgarten wohl der Bogen zur deutschen Chemie. Das
Filmmanuskript, das die beiden Autoren des Spiels im Spiel nach den fünf
Tagen ihrem Produzenten präsentieren – ein ursprünglich gebasteltes
Drehbuch war vom Speicherort Diskette verschwunden, sie konnten sich
selbst nicht mehr daran erinnern und der Abgabetermin drängte, so der Plot
-, dies neue Manuskript hat nur 12 statt der üblichen 150 Seiten. Der gut
100minütige Abend zeigt eine Werkstatt, ein Labor. Es ist die Suche nach
einem neuen Erzählen auf der Bühne – und auch nach von Triers nun nicht
weiter ergründbaren Wagner-Affinitäten. So manche Zuschauer sind von den
Ergebnissen indes nicht überzeugt und verlassen das Hebbel-Theater am Ufer
vorzeitig. Am Schluss dennoch langer Beifall.