Es wabert Wolken von Qualm. Immer wieder in der vorangestellten ca. Dreiviertelstunde. ET-Aliens wechseln sich ab mit sich verrenkenden Einzelwesen, die miteinander sich formieren, gegeneinander anrennen, kämpfen. Dazu eine ohrenbetäubend dröhnende Geräuschmischung mit auch körpersensitiven Wummer-Bässen und -Knallern. Die als „Musik“ zu verstehen, wie im Programmheftchen vermerkt, verbietet sich eigentlich. Auch wenn der Komponist, Diego Noguera, selbst am Mischpult sitzt, sichtlich high. Oder sind wir hier in der Disco? „Freiheit/Extasis“ nennt Noguera seine Mixtur, zu der Oropax beim Abendpersonal abgeholt werden kann. Einige Besucher*innen verlassen die Aula vorzeitig.
Im Berliner Radialsystem stellt Sasha Waltz ihre neueste Kreation vor, „Beethoven 7“. Die Musik des Titanen gibt’s allerdings erst nach einer knapp halbstündigen Pause. Die Interpreten der Aufnahme sind winzig klein gedruckt und auffindbar erst nach mehrmaligem Durchwühlen des Programm-Oktavheftchens mit der Lupe: Der Russland-affine Ekstatiker Teodor Currentzis hat sie dirigiert („Die Aufzeichnung wurde ermöglicht durch die Unterstützung der VTB Bank“ liest man auf der Sony-Seite. Mit welchem Orchester? Muss man raten, musicAeternas wohl, als Ergänzung zur Aufnahme der Fünften). 2021 hat Waltz mit Currentzis schon für den TV-Sender arte einen Teil der Siebenten choreografiert in einem griechischen Amphitheater. Musikalisch ist Einspielung superb mit ihren Akzent-Setzungen, den Abstufungen der Dynamik, der Wahl der Tempi.
Aber darf man sie in diesen Zeiten dennoch als Apotheose des Tanzes und der Freiheit verstehen, als die sie lange apostrophiert wurde und wird? Waltz und ihre 13 Tänzer*innen (8 Frauen, 5 Männer) versuchen mit ihren Bewegungen, Bildformungen den Fluss der Musik nachzuempfinden: im Mit- und Gegeneinander, den Gruppen- und Paarbildungen, den Schwüngen und Sprüngen der oft synkopierten Musik. Oder auch in dem ruhigen Trauermarsch-artigen zweiten Satz, wenn die Tänzer*innen über ihre roséfarbenen Kleidungsstücke schwarze Hosen bzw. Röcke ziehen. Mit dem Schwingen einer Plastikfahne wird’s dann zwar arg plakativ. Die Choruslines und keilartigen Gruppenbildungen im Schlusssatz sind dann wieder passend, die Arme im Dauereinsatz.
Andere Choreografen haben auch schon an Beethoven sich gewagt, mit vielleicht geschulteren Tänzer*innen. Aber den Waltzschen Bewegungskanon beherrschen diese 13 der freien Szene aus dem ff. Zu einem vertieften Verständnis von Beethovens Musik trägt dieser Abend indes kaum bei – zumal in der Kopplung mit dem vergessbaren Vorspann. Oder soll der dazu dienen, Beethovens Musik auch als „heutig“ einzubringen und die Ohren dafür zu „reinigen“ oder gar als Verweis auf den Kriegslärm in der Ukraine? Na dann muss auch der Qualm wohl sein, der für mich sonst Ausschlusskriterium ist. Nicht ganz glücklich gelöst sind die Übergänge zwischen den einzelnen Sätzen; die Musik hat einen anderen Fluss, als er hier sich einstellt. Interessant auch die Updates bei der Biografie der eben 60jährigen Choreografin.
Ein dunkler tiefer Klang aus dem Orchestergraben. Wie „Rheingold“. Auf der Bühne (Pia Maier Schriever) links einige Tänzer:innen, am Boden liegend in einem schmalen Streifen vor einer rotbraunen bühnenfüllenden Wand. Langsam erheben sich die Figuren, formen sich zu Grüppchen, machen kleine Übungen mit Heben, übereinander steigen. Alles in Zeitlupe, fast eine Viertelstunde. Erst dann kommt die Choreografie langsam in Fahrt mit Stampfen, Heben, Formationen.
Nach 30 Minuten setzt die Musik aus. Die Tänzer:innen stehen nebeneinander an der inzwischen weiter nach hinten verschobenen Wand, Gesichter zum Publikum. Zwei Männer mustern sie, holen eine:n nach dem anderen heraus und legen sie zu Boden. Nach fünf Minuten geht’s rückwärts. Eine:r nach dem anderen wird wieder aufgestellt. Alles scheint von neuem zu beginnen.
Aber es kommt zu Gruppenformationen gegeneinander, keilförmig, oder – ein ganz schönes Bild: die Tänzer:innen beugen, eng nebeneinander, den Rücken zu einer Fläche und hinten wird in schnellem Tempo ein:e Tänzer:in sitzend vorbeigetragen, als ob er/sie fliegen würde. Da endlich sind die Assoziationen klar, die sich schon andeutete in der Art, wie gegeneinander „gekämpft“ wurde: die virtuosen Filme von Zhang Yimou über chinesische KungFu-Kämpfer.
Gegen Ende wird dann in der Kostümierung (Bernd Skodzig) die China-Assoziation noch weiter ausgemalt. Da ist die Wand auch schon auf die linke Bühnenseite gewandert und wird langsam nach rechts verschoben, das Ensemble in Gruppen teilend. Am Ende hängt diese Wand oben im Bühnenhimmel als Decke und wird bedrohlich weiter heruntergelassen. Die Tänzer:innen verschwinden nacheinander, der letzte, wenn die Wand schon fast den Bühnenboden berührt. Black.
„SYM-PHONIE MMXX“ nennt sich das Stück. MMXX steht für die Jahreszahl: 2022. Die viel mit Dreiklängen, Vierteltönen und Clustern arbeitende, meist eher statische Musik stammt von Georg Friedrich Haas. Die Uraufführung sollte schon vor zwei Jahren stattfinden als Auftragswerk für das Staatsballett Berlin, dem Sasha Waltz damals noch als Co-Direktorin vorstand. Corona-bedingt wurde sie verschoben. Jetzt sind als Tänzer:innen im Programmheft angegeben die ihrer „Guests“-Gruppe. Die Produktion firmiert gleichwohl noch als eine des Staatsballetts.
Als Uraufführungsort wurde auch die Staatsoper beibehalten und als Orchester die Staatskapelle, die unter Ilan Volkov die Partitur kraftvoll und sensibel zum Klingen bringt. Das Programmheft spart ansonsten sehr mit Informationen, nennt zu den Ideen hinter der Choreografie nur stichwortartige Assoziationen und reproduziert ein paar Fotos und Strichzeichnungen von Waltz. Versucht man das Gesehene zusammenzufassen, kommt einem als innerer Leitfaden vor allem eines in den Sinn: Waltz‘ Arbeit oder vielmehr Kampf mit dem Staatsballett, dessen Tänzer:innen ja hier nun auch nicht mehr tanzen.
Von Anfang an war die von der Kulturbehörde dekretierte Beziehung Waltz-Staatsballett belastet mit Kontroversen bis hin zum Streik. Würde eine aus der sogenannten freien Szene kommende Choreografin mit einer hauptsächlich auf klassisches Ballett ausgerichteten Truppe konstruktiv werde zusammenarbeiten können? Es kam bekanntermaßen schon nach kurzer Zeit zum Bruch. Die zwei Welten, die Waltz in ihrer Nicht-Sym-phonie choreografierte, fanden nicht zueinander. Und der/die letzte macht buchstäblich das Licht aus.
Man kann es als einen Erfolg für sie festhalten, dass diese Uraufführung nun doch noch über die Bühne ging. Zu ihren wichtigen Arbeiten zählt sie gewiss nicht. Es gab bei der Premiere am Ende nicht zufällig ein lautstarkes Buh, ansonsten aber Standing Ovations für alle Beteiligten. Was stört, sind die vielen Längen und Wiederholungen, zumal der immer gleichen „Kampf“-Figurationen: fuchtelig ausgestreckte Arme und kampfbereit ausgestreckte Beine. Die Beerdigungs- und Wiederauferstehungs-Zeremonie, bei der die Musik angehalten ist, zerrt erheblich an der Geduld, dehnt den Abend unnötig auf 100 Minuten.
Mit zwei Produktionen, Hector Berlioz' Symphonie dramatique "Roméo et Juliette" und Monteverdis "Orfeo", kam Sasha Waltz mit ihrer Truppe in der Saison 2014/15 gastspielweise auch nach Berlin: in die Deutsche Oper (18.April mit Berlioz und einer Mailänder Produktion aus dem Jahr 2012) und in die Staatsoper (01.Juli mit dem "Orfeo", der im Herbst 2014 in Amsterdam Premiere hatte).
Besonders eindringliche Opernabende erlebte man nicht. Eine Operngeschichte erzählen in Vorgängen gelingt ihr nicht. Vieles wirkt im Tanz nur verdoppelnd, zumal bei Monteverdi. Und das Release bzw. die Gruppenbildung der Tänzerinnen und Tänzer kennt man nun zu Genüge. Auch war die musikalische Aufführung zumal bei "Orfeo" nur partiell auf angemssenem Niveau.
Die Stagnation in der künstlerischen Entwicklung ist offensichtlich, trotz der Erfolge beim Publikum. Zumal im Ausland. Sasha Waltz bezeichnet ihre Art Oper zu inszenieren als choreographisches Musiktheater. Oft ist es nur dekorative Bebilderung, kaum interpretierend. Eher könnte man von einer Art choreografischer Oper sprechen. Man sah das auch schon bei "Matsukaze".
Auf einer Pressekonferenz am 13.Dez.2013 verkündete Sasha Waltz
das Ende ihrer Compagnie zum 01.Jan.2014. Alle 13 fest angestellten
Tänzer/-innen würden gekündigt. Nur noch ein Produktionsteam werde
aufrecht erhalten, um etwaige Gastspiel-Anfragen bearbeiten zu können. Das
Repertoire von fast zwei Dutzend Stücken könne so nicht erhalten werden.
Im Etat fehlen ca. 1 Mio Euro, die man sich vom Senat erhoffte. Allerdings wurden nur
eine halbe Million aus dem Opernetat in Aussicht gestellt.
Dort allerdings winkte man ab. Waltz hofft nun auf Angebote von außerhalb.
Und im Frühjahr soll sie ja an der Staatsoper eine Produktion von Wagners
"Tannhäuser" herausbringen.
Die Tanzkritik hat sie ihre Compagnie gern als legitime Erben von Pina Bausch
bezeichnet - was immer reichlich hoch gegriffen war. Als Leiterin des Berliner
Staatsballetts hätte man sie sich gut vorstellen
können. Aber das kann ja immer noch werden, zumal wenn das dort mit der
Neuaufstellung nicht so recht klappt.
*
Sasha Waltz fordert mehr Geld für ihre Truppe oder denkt an Rückzug aus Berlin (05.02.2013), aber inzwischen hat sie ja gleich zwei Aufträge aus der Berliner Staatsoper für die Spielzeit 2013/14 bekommen. So ernst war das wohl alles nicht gemeint. Und manche meinen, es war nur ein Vorstoß, um eventuell Malakhov als Intendant des Staatsballetts zu beerben. Das wollte man beim Staatsballett aber gar nicht. Und inzwischen hat man sich ja auch anderweitig entschieden.
Eigentlich
ist das ein perfektes Projekt für den Kulturaustausch. Hochartifiziell,
aber ansonsten nichts sagend und nahe am Kunstgewerbe. Toshio
Hosokawa hat ein altes Stück des Nô-Theaters von Zeami
„europäisieren“ lassen. Das Libretto schrieb ihm Hannah Dübgen.
Erzählt wird die Geschichte von zwei Schwestern, die sich in den
gleichen Mann, einen Prinzen, verliebt haben, und nun als Geister am
Meer im Wind umherbrausen. Ein Mönch (Frode Olsen)
besorgt das, meist mit penetranter Stentor-Stimme.
Zwei, drei schöne, wenn auch nicht originelle szenische Ideen zeigen
Waltz und ihr Tanzensemble: Wenn etwa die beiden Schwestern gleichsam im
Wind zwischen zwei Netzen in der Luft pendeln. Oder am Ende, wenn Pfeile
auf die Szene herunter schwirren (Bühne: Pia Maier Schriever,
Chiharu Shiota; Kostüme: Christine Birkle). Zu
bewundern auch die beiden jungen Sängerinnen Barbara Hannigan
als Matsukaze und Charlotte Hellekant als ihre
Schwester Murasame. Stimmlich wie darstellerisch schmiegen sie sich fast
tänzerisch schlackenlos in das Ensemble ein.
Den Mann am Pult, Pablo Heras-Casado, der das Ganze
umsichtig leitet, wird man sich merken müssen. Dass das Publikum in der
Berliner Staatsoper ungeachtet des mäßigen Ergebnisses alle Künstler
einhellig bejubelte, war gleichsam ein „Muss“. Hier werden Markenartikel
gehandelt, die schon einen tüchtigen Weg hinter sich hatten (von La
Monnaie in Brüssel, wo es am 3.Mai Premiere hatte, über Les Théâtres
de la Ville de Luxembourg und das Teatr Wielki Warschau) und gewiss
noch einen weiteren vor sich. So ist das mit dem hochorganisierten
Kulturaustausch. Egal was es ist, egal was es bringt. Die Namen zählen.
Und es gibt auch einen neuen Begriff dafür: „Choreografische Oper“.
Vor dem Einrichten durften Sasha Waltz und ihre Tänzerinnen und Tänzer das rekonstruierte Neue Museum auf der Berliner Museums-Insel mit gebauten Körper-Bildern einweihen. Früher hat sie das auch schon mal im Libeskind-Neubau des Jüdischen Museums gemacht. Damals entstand daraus die Produktion Körper. Jetzt also in den von David Chipperfield liebevoll rekonstruierten Räumlichkeiten des Neuen Museums. Dialoge 2009 nannte die Choreografin diese Installation im März 2009, bei der sie auch Sisi nach Berlin holt. Sehr dekorativ. Mal sehen, in welcher Choreografie diese lebenden Skulpturen wieder auftauchen.
Es war wohl sein
Urerlebnis: Sasha Waltz‘ „Körper“. Starren Blicks sitzt
der Choreograf und Tänzer Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola
auf einer Art Leiter am linken Seitenrand der Spielfläche. Er schaut auf
einen überhohen Tisch, abgedeckt mit einer weißen Plastikplane, die er dann
abnimmt. Was darunter zum Vorschein kommt sind drei eng ineinander
verschlungene halbnackte Körper. Nachdem er vor diesem sozusagen Fleischberg
eine Serviette umgebunden hat, beginnen die sich zu regen, zu winden,
auseinander zu knäulen. Der „Esser“ wird unter den Tisch gezogen und durch
ein Loch hangelt er sich hoch. Auf einem parallel laufenden Video kratzt
jemand auf einer Geige.
Musik gibt’s in dieser 90-minütigen Choreografie immer wieder. Meist sogar
live gesungen, wenn man denn von Gesang sprechen will. Denn die Stimmen der
zwei Tänzerinnen und drei Tänzer sind keine professionellen. Und das färbt
langsam auch über auf die tänzerischen Darbietungen. Sie wirken mehr und
mehr zufällig. Man wohnt einer Art Operation oder Vivisektion bei, deren
Opfer dann aber wie der arme Lazarus wieder zum Leben erwacht – es ist ja
auch erst der Anfang des Abends. Man erlebt, wie dem mittanzenden
Choreografen ein mindestens ein Meter langer schwarzer Schlips wie ein
Bandwurm aus dem Mund gezogen wird. Man erlebt ein Liebespaar, das sich mit
erleuchteter Mundhöhle zu küssen versucht. Alles Albträume?
Auch das partielle
Aufrebbeln des Tops einer Tänzerin am Rücken, Turmbauten
von Stühlen und die Erweckung von Halbtoten aus ihrem Dornröschen-Schlaf im
Stühle-Turm durch eine selbst ernannte Fee sind im Programm. Da hätte der
Abend allerdings schon längst enden können. Denn auf Neues wartet man
vergeblich. Die Gesänge wechseln zwar in der Spanne zwischen Chanson und
Gregorianik. Allerdings soviel DSDS hält man denn doch nur schwer aus –
sollen sich nicht die Gehörgänge verknoten. Was not täte, wäre eine
stringente Dramaturgie, statt selbst verliebtes In-sich-Kreisen. „Ars
melancholiae“ heißt der Abend. Als Innehalten ist diese ‚Kunst der
Melancholie‘ wohl nicht gemeint. Kopfüber erscheinen die Figuren oft.
Dem Choreografen-Nachwuchs soll die neue Reihe
dienen, finanziert mit erfreulich viel Sponsoren-Geld über drei Jahre
hinweg. Begünstigt werden Talente aus dem Umfeld von Sasha Waltz. Mehr
Eigenständiges wäre freilich zu wünschen. Bald öffnet sich das Laboratorium
wieder. Man wird sehen.
17. Dez. 2007
„Choreographen-Werkstatt“ nannte sich das schlicht, als Sasha Waltz mit ihrer Truppe noch an der Berliner Schaubühne residierte. Jetzt sollen einige der dort schon hervorgetretenen Künstler weiter gefördert werden. „Choreographen der Zukunft“ nennt sich die auf drei Jahre angelegte Reihe. Als Hauptsponsor konnte man die deutsche BASF mit ihrem Kulturprogramm gewinnen. Juan Kruz Diaz de Geraio Esnaola, Autor des Erfolgsstücks „d’avant“, profitiert als erster davon. Im Februar will er mit vier Tänzern seine „ars melancholiae“ am Berliner Radialsystem, dem neuen Sitz der Truppe, herausbringen. Nasser Martin-Gousset folgt im Sommer mit einem Gruppenstück über die 60er Jahre, „Comedy“, das in Montpellier erstmals gezeigt wird. Die Stücke werden auch alle zu sehen sein im Pfalzbau Ludwigshafen, das eine oder andere soll dort Premiere haben. Auch das Grand Théâtre de la ville de Luxembourg, Partner schon bei zwei Waltz-Opernproduktionen, wird sich als Spielstätte einreihen. Mit dem Einstieg des privaten Sponsors erhoffen sich Sasha Waltz und ihr Partner Jochen Sandig auch mehr Gewicht beim Berliner Senat. Aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds wird die Truppe derzeit hier allerdings mit 0,875 Mio € öffentlich gefördert. Demnächst feiert sie, einst in Groningen mit dem jetzt wieder hervor geholten „Travelogue“ bekannt geworden, ihr 15jähriges Bestehen.
Eigentlich
sollte es die „Medea“ von Luigi Cherubini werden, die Sasha Waltz
als zweites Opernprojekt inszenieren wollte. Es war wohl nicht zu
bewältigen. Nun wurde daraus die sehr viele handlichere Version von
Pascal Dusapin nach dem viel zitierten „Medeamaterial“ Heiner Müllers, die Waltz
mit ihrer Truppe, dem Vocalconsort und der Akademie für Alte Musik unter
Marcus Creed erst für das Europakulturstadt-Programm Luxemburg und nun für
die Berliner Staatsoper choreografierte.
Es fängt auch ganz schön an. Der blutrote Theatervorhang saust krachend wie
ein Fallbeil zu Boden, von hinten rollen sich auf die fast dunkle Bühne
Körper wie eine Schlange, krümmen sich zum Kreis; der Kreis verengt,
erweitert sich. Ein Paar schält sich heraus; sie fangen einander. Einige
Tänzer machen Kopfstandfiguren, andere dehnen sich in der Körperdiagonale,
recken die Hände zum Himmel; es sind die wichtigsten Elemente dieser
Choreografie.
Dann
erst betritt auch die Sängerin der Medea-Figur, Caroline Stein,
die Bühne, nimmt den Orgelton, der immer schon zu hören war, auf, beginnt
ihre Melismen, wird integriert in die Bewegungsabläufe der Tänzer. Einer der
Höhepunkte dann: Die „Verbrennung“ von Medeas Rivalin Glauke. Einer Tänzerin werden ein hauchdünnes
weißes Vlies und dicke Ketten übergezogen, deren Perlen nach und nach
abplatzen und zu Boden kullern, während der Körper sich immer stärker rot
einfärbt.
Schließlich die Tötung der Kreisel spielenden Kinder: ein angedeuteter
Handkantenschlag genügt. Die Chor-Sänger sind derweil aus dem Graben
gestiegen, der Klang ihrer Stimmen hat sich per Lautsprecher im ganzen
Theatersaal verräumlicht. Die drei großen Windmaschinen an der Seite werden
angeworfen und stieben mit ohrenbetäubendem Lärm im Turbogang alles von der
Bühne. Am Ende steht Medea einsam mit den toten Kindern: vom Winde verweht.
Kommt
einem diese Medea-Figur nahe? Eigentlich nicht. Die Konflikte von
Müttern heute, die ihre Kinder töten, sind doch etwas andere als die dieser
Medea, zumal auch in Heiner Müllers hochauratischer Sprache. Und das ist
zugleich das große Manko von Sasha Waltz‘ Entwicklung in den letzten Jahren.
Sie entfernt sich immer mehr von dem, was sie einst bekannt gemacht hat, was
sie konnte: Wirklichkeit umsetzen. Ihre Arbeiten werden immer abgehobener.
Sie greifen, ergreifen nicht, kreisen in sich selbst. Mythos, wenn er nicht
neu sich erdet, wird zum Ritual.
Im Programmheft wird betont, dass Waltz das Stück in den vielen schönen
Räumen des neuen Probengebäudes „Radialsystem“ erarbeiten konnte. Es ist ihr
zu gönnen, aber sie hat sich dabei wohl übernommen. Dass sie dies teure Haus
mit ihrer Arbeit mitfinanzieren muss, hat zwar möglicherweise die Wahl des
Projekts, nicht aber es selbst unbedingt befördert.
Der Auftakt in der großen Halle ist etwas schrill. An allen Ecken
Musiker, die freischwebend ihre Klänge produzieren. Auf der riesigen Fläche
ein kleines Geländer. Blickt man da hinunter, sieht man auf der Ebene
drunter ein nacktes Paar auf einem mit etwas Wasser benetzten Blech sich
wälzen.
Durch das ganze Haus kann man wandern. Auf der halbhohen Loggia quert
diagonal ein anderes Paar, beide in Kleidern und mit hochhackigen Schuhen.
In Zeitlupe gehen sie über die Holzdielen. Später wird Er Sie in ein
Kiesbett an der Ecke ein- und dann wieder ausgraben. In den Studios auf den
Etagen drüber sieht man Männer in verrenkten Posen auf dem Rücken oder auf
den Knien, als wären sie bei irgend einer Verrichtung gerade vom Blitz
getroffen und erstarrt. Andere stehen gekrümmt mit abgewinkeltem Kopf wie
regungslos. Im größten Studio unterm Dach sieht man drei weiße Skulpturen
wie Harfen aus plastikartigem, knittrigen Material. Wenn die Tänzer innen
drin sich bewegen, knistert es und überlagert den Gesang des Vocalconsorts,
das in einer Ellipse drum herum gruppiert ist.
Das ganze Haus des neuen „Radialsystems“ wird bespielt an diesem Abend
mit wechselnden Aktionen. Auch die Treppenhäuser und Absatznischen sind mit
einbezogen. Die Musiker der Akademie für Alte Musik, der musikFabrik und des
Berliner Vocalconsorts kooperieren frei flutend mit den Tänzern der Truppe
von Sasha Waltz & Guests in dem neuen Kulturzentrum am Ostbahnhof. Sogar
die am Haus vorbei führende Spree ist mit einbezogen; es dunkelt da schon.
Fast kommt es aber zu einer Kollision, als das kleine Boot mit zwei von
Flutlicht angestrahlten Tänzern den Fluss queren will und die Fahrtrinne
eines sehr viel schnelleren Ausflugsschiffs kreuzen muss. Da werden die
„Dialoge 06“, wie die erste Neuproduktion in dem Haus am Spreeufer von der
nun dort residierenden Waltz-Truppe sich nennt, schon mal ganz besonders
wörtlich genommen.
Wie improvisiert wirkt diese „begehbare Installation“ und ist doch
minutiös geplant. Aktionswechsel etwa werden mit kleinen Signaltönen
annonciert. In immer neuen Konstellationen begegnet man den Tänzerinnen und
Tänzern an den verschiedenen Orten. Einer der schönsten Acts ist der von
zwei Paaren zu silbriger Purcell-Musik: wenn die beiden Frauen mit
zierlichen parallelen Gesten von Kopfrücken und Schulterzucken im kleineren
„Saal“ über die Tanzfläche wie zu schweben scheinen. Aber auch in der
nebenan liegenden größeren „Halle“ kommt es zu spannenden Aktionen, wenn zu
der bohrenden Musik von Frederic Rzewski sechs Tänzer sich immer neu
gruppieren in Parallel- oder Einzelaktionen.
Auch das alle Musiker und Tänzer vereinende Finale des gut zweistündigen
Abends ist in der Halle inszeniert. Die Musiker der musikFabrik liegen da
zunächst auf dem Rücken diagonal am Boden und spielen. Die Tänzer fluten um
sie herum. Dann gibt es verschiedene kreuz- und keilförmige Gruppierungen,
zu denen sich die Tänzerinnen und Tänzer verdichten und wieder lösen. Die
Musikfarbe wechselt ins Barock – was ja auch die beiden Künstlergruppen,
Musiker und Tänzer, ursprünglich zusammengebracht hatte: die Arbeit an
Purcells „Dido und Aeneas“ vor anderthalb Jahren. Es ist nicht unbedingt
neu, was man an diesem Abend hier erlebt. Manches wirkt wie zitiert aus
früheren Produktionen. Die Atmosphäre in dem Haus und draußen am Kai wirkt
aber locker und gelöst. Man fühlt sich nicht eingezwängt in irgend einen
festen Theaterbau. Die Offenheit des Hauses überträgt sich auch auf den
Besucher. Es bleibt abzuwarten, wie dieser Raum genutzt werden kann in
thematisch vielleicht fixierteren Produktionen – Produktionen, die nicht wie
diese hier als „begehbare Installation“ angelegt sind, sondern bei denen die
Aufmerksamkeit des Zuschauers auf ein bestimmtes Ziel gelenkt werden soll.
Das zu bewerkstelligen wird hier gewiss sehr viel schwieriger.
Eine besondere Innigkeit bekommt die Aufführung am Schluss, wenn die verlassene Dido ihr berühmtes Lamento um den entschwundenen Æneas anstimmt. Sängerin und Tänzerin der Figur fächern da ihr nun bodenlanges Haar wie einen Schleier vors Gesicht. Eine weitere Tänzerin, wohl die Frucht der Liebe symbolisierend, windet sich um Didos Bauch. Fast zu einer Laokoon-Gruppe verknäulen sich die drei. Dann, die Musik aber eher störend, hebt sich der gemalte Rückprospekt. Tänzer, Choristen und Solisten kommen in einer Reihe nach vorn, formieren sich zum Trauerzug. Die beiden Darstellerinnen der Dido werden in den Orchestergraben gehoben. Etwas angeklebt wirkt dann der allerletzte Schluss. Eine Tänzerin entzündet kleine Feuer auf der Bühne, den Brand Karthagos symbolisierend.
Mit einem Sprung ins gegensätzliche Element Wasser lässt Sasha Waltz ihr Musiktheater-Debüt bei Henry Purcells Dido und Æneas beginnen. Eine Idee aus ihrem bekanntesten Stück Körper variierend, wo fast hüllenlose Leiber in einer engen Glasvitrine wie Larven sich winden, springt einer der Tänzer in ein auf der Bühne aufgebocktes Aquarium. Weitere Tänzerinnen und Tänzer gesellen sich dazu, tauchen nach der versunkenen Mittelmeer-Stadt und ihrer Geschichte. Danach gibt’s neben Handtüchern und trockenen Kleidern ein Tässchen ausgesprochen dünnen Tee, der sogleich auch großzügig ins Becken gekippt wird. Erst wenn das Wasser abgelaufen und das Gestell von der Bühne geschoben ist, kann das eigentliche Spiel beginnen. Nun erst mischen sich auch Chor und Sänger, vorher im Graben, unter die Tänzer.
Anregen lassen hat sich Waltz bei dieser Misch-Form offenbar auch von der englischen Tradition der „Masques“. Sänger und Tänzer maskieren sich gleichsam einander. Das geht oft erstaunlich gut. Die Sänger und Choristen agieren locker, auch wenn man natürlich den Unterschied merkt, zumal wenn die Darsteller sich entkleiden. Überwiegend hat Waltz den Sängern aber auch eine Art Arm-, Hand- und Fingertheater verordnet, das ständige Bewegung suggeriert. Und sie hat die Bühnenpräsenz der Figuren stark ökonomisiert. Ausser beim Festgelage, das sich ausweitet zu einer Art Kleider- und Entkleidungsrausch mit nachfolgender Tanzstunde, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen auf der Bühne – was auch eine starke Unruhe in das Stück bringt.
Musikalisch hat der Dirigent Attilo Cremonesi, Schüler von René Jacobs, eine Partitur aus den nur bruchstückhaft überlieferten Materialien erstellt, die klanglich und formal überzeugt und die er mit der Akademie für Alte Musik und dem Vocalconsort Berlin luzide musiziert. Zumal auch die Dido der Aurore Ugolin und die Belinda der Deborah York können als Sängerinnen wie Darstellerinnen beeindrucken. Mit Clementine Deluy, Virgis Puodziunas, Luc Dunberry, Juan Kruz Diaz und anderen bietet Waltz all ihre Tanzstars auf. Auch der kleine Sohn László darf schon erste Trippelschritte auf der Bühne tun. Waltz, sagt sie, hat Blut geleckt am Musiktheater, sie will mehr. Allerdings gibt es wenige so „offene“ Werke wie diese 1689 für ein Pensionat höherer Töchter in London entstandene semi opera Purcells.
Ob indes Sasha Waltz dann auch immer aus mit einer Million Euro so wohlgefüllten Töpfen schöpfen kann wie bei dieser Gemeinschaftsproduktion von Staatsoper Berlin, den Theatern in Luxemburg und Montpellier, gefördert dazu mit einer erklecklichen Summe aus dem Hauptstadtkulturfonds, bleibt die Frage. Für den oft in geistloser Starre oder sinnloser Betriebsamkeit dahin dümpelnden Opernbetrieb ist dies aber in jedem Fall eine willkommene Vitaminspritze. Das stark verjüngte Publikum in der Linden-Oper feierte diese tänzerisch durchwirkte Produktion nachhaltig.
Sasha Waltz und ihr Manager und Lebensgefährte Jochen Sandig scheiden
2005 aus der künstlerischen Leitung der Schaubühne aus. Sie machen sich
mit ihrer Tanz-Compagnie selbstständig. "Sasha Waltz & Guests" heißt die
neue Kompanie dann wieder.
Ein Kooperationsvertrag sieht vor, dass sie weiterhin eng mit der
Schaubühne verbunden bleibt. Mindestens eine Uraufführung pro Jahr sollen
sie dort herausbringen und wenigstens 50 Vorstellungen am Lehniner Platz
bestreiten. Die Schaubühne unterstützt "Sasha Waltz & Guests" mit 1,1 Mio
Euro pro Spielzeit und erbringt außerdem Personal- und Sachleistungen im
Gegenwert von 634 000 Euro. Gastspiele wird Waltz künftig selbst
organisieren und die Einnahmen behalten können.
Frühestens am 1. März, spätestens aber am 1. September 2005 soll der
Vertrag in Kraft treten. Er ist auf zwei Jahre befristet. Falls der
Schaubühne die Zuwendungen vom Land Berlin gekürzt werden, kann diese
ihrerseits den Vertrag mit Sasha Waltz vorzeitig kündigen. Einbezogen in
die Verhandlungen war auch die Senatskulturverwaltung. Momentan wird die
als private GmbH organisierte Schaubühne jährlich mit 12 Millionen Euro
aus Senatsmitteln unterstützt.
Rückbindung an die Tradition? Sasha Waltz lässt Musik vertanzen,
erstmals klassische von
Franz Schubert. Wir
blicken auf eine Guckkasten-Bühne (Thomas Schenk, Sasha Waltz). Die ist
eine zweigeteilte Schräge wie zwei Eisschollen. Die beiden Hälften
überlappen sich. Hinten hängt ein parallelogrammartiges Element wie eine
Wolke. Es wird etwas nach vor gefahren
und in Schwingungen gebracht, wenn die Szene intimer, bedrohlicher wird.
Anfangs sieht man ein Paar umeinander sich winden, die Körper zur Brücke
sich wölben, die Köpfe hinten über. Dann erweitert sich die Szene zu
Vierer-Fünfer-Gruppen in einer Art lebender Bilder. Die Figuren
verklammern sich zu Ketten, trennen sich, scheinen fliegen zu wollen ohne doch
recht fort zu
kommen. Zu Schuberts Es-Dur-Impromptu (op.90, 2) fallen sie in
ausgelassenes Kreisen und Kreiseln erst nur vorwärts, dann bei der
Wiederholung auch rückwärts.
Nun beginnen einzelne Tänzerinnen mit knallenden Kreidestrichen schwarze
Kreise zu malen auf die fast weiße Bühnenfläche. Ein Paar erscheint mit
wassergefüllten Gummistiefeln. Das Quatschen beim Waten in diesen Stiefeln
ist die originellste klangliche Zutat, Hinweis auf die von Schubert
vielfach benutzte Wander- und Wasser-Metaphorik. Aus dem Bemalen des
Bühnenbodens wird ein Bemalen der Körper mit Kreide in Rot- und
Orangetönen. Die Darsteller wälzen sich in den Farben, werden Teil quasi
der Malfläche.
Aus den Stiefeln wird tröpfchenweise Wasser gekippt auf die Farbe. Es
rinnen die Bächlein. Die Bühne verwandelt sich in ein großes Kindergemälde
à la Jackson Pollock.
Die Damen nehmen ein (Trocken-)Bad. Am Ende bleibt ein Paar übrig. Langsam, sehr langsam
entfernen sie sich voneinander, unverrückt einander anblickend. Die live
gespielte und gesungene Schubert-Musik – neben den Impromptus f-Moll
(op.142, 1), As-Dur (op.90, 4), Ges-Dur (op.90, 3) und c-Moll (op. 90, 1)
auch einige Lieder (Andreas Kern, Cristina Marton, Piano; Judith Simonis,
Gesang) – verstummt.
„Wollte ich Liebe singen, war sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder
Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe“, zitiert das Programmheft den
früh vollendeten, jung verstorbenen Komponisten (1797-1828). Der in
Koproduktion mit dem Teatro Comunale di Ferrara entstandene 70-minütige
Abend ist eine Etüde. Der Freundschaftskult des Schubert-Kreises, des
Komponisten unglücklichen Lieben zu jungen Frauen und Männern liefern das biografische
Material. Ein Körper-Stück der anderen Art. Dank der Musik trägt der Abend auch einigermaßen. Aber es sind
Bruchstücke, die hier zum Puzzle zusammengesetzt werden.
Ob Waltz, wie demnächst geplant und wofür der Abend hier wohl eine
Generalprobe sein soll, auch den Bogen eines großen Opern-Abends
zu spannen vermag, steht dahin. Eine andere Frage, dass die
Verteilungskämpfe an der Schaubühne vorerst erledigt scheinen. Die
Tanztruppe kann Geld einwerben auch aus anderen Schatullen. Aber, die kluge
Frau baut vor.
Tanz als begehbare Landschaft – davon träumte Sasha Waltz schon lange.
Eine Einladung von Steirischem Herbst und
Grazer Kulturhauptstadt-Europa-Jahr-2003 machte es möglich. Die Uraufführung war
dort am 18.September in der Helmut-List-Halle. Jetzt sind Sasha Waltz und ihre
Tänzerinnen & Tänzer mit dem Projekt zurück in der Schaubühne.
Insideout ist vor allem eine Theater-Installation.
In den und auf den in Saal A der Schaubühne in zwei Etagen gestapelten
Containern, Häuschen, Hütten (Bühne: Thomas
Schenk) wird getanzt,
gerungen, geliebt, probiert. Anfangs liegen die Tänzer in irgendwelchen Ecken am
Boden. Vor sich Fotos aus ihren jüngeren Jahren. Einer turnt auf einem
Iglu. Dazwischen sind Live-Musiker (des Ensembles
musikFabrikNRW) verteilt, am Klavier, an Holzblas- und
Streichinstrumenten.
Rebecca Saunders
schrieb die geräuschhafte Partitur, ihre erste Theatermusik. Die Zuschauer wandern zwischen den
Schauplätzen über Stege, verdrücken sich einfach in eine Ecke und
betrachten die eingeblendeten Videos (Philip Bußmann) oder
gucken voyeurhaft durch Sehschlitze in die Räume.
Vertanzen lässt Waltz Biografien. Die Schaubühnen-Tanzchefin hat in
ausführlichen Interviews die biografischen Hintergründe ihrer polyglotten
Tänzer recherchiert. Karl Stocker hat sie in einem gleichnamigen
Begleit-Buch mit dickem
wissenschaftlichem Apparat und Fotos protokolliert. Aus diesem Material wurden kleine Szenen gebaut.
Kaleidoskopisch werden die auf die verstreuten Spielorte verteilt. Da
tanzt ein Paar etwa ganz gepflegt Tango. Zwei Männer wickeln einander um
die Arme. Eine Frau füllt ihre Strumpfhose mit Sand, den sie in einer
Flasche von einem imaginären Strand sammelt. Zwei Frauen präparieren
eine Nackte in einer Vitrine wie für eine Einbalsamierung. Überhaupt
Vitrinen, Waltz’ Lieblings-Spielort-Metapher seit
Körper. Da sieht man Musiker
sich krümmen mit ihren Instrumenten. Andere wollen Kontakt aufnehmen nach
draußen durch Sprechschlitze.
Wieder andere experimentieren mit dem, was
ihren Po passiert. Oder Figuren stehen einfach wie Frachtgut hinein gestopft.
Mit Waltz-bekannten Flüstertüten wird dann allen der Marsch geblasen zur Identifizierung:
Wer
bist du? Kannst du dich ausweisen? Einige, die die Behörden gern ausweisen
würden, werden
rabiat in eine Zelle gezerrt und malträtiert. Am Ende sind sie als buntes
Völkchen alle vereint auf der Tanzfläche, kostümiert in den
abenteuerlichsten Fummeln. Das Ensemble hat sich gefunden. Überhaupt ist
das ein rauschendes Kostümfest (Bernd Skodzig). Ständig werden die Kleider gewechselt und
getauscht. Sogar ein Hirschkopf wird als Ausstattungsutensil auf grüner
Wiese bemüht. Innerlich dabei ist man beim Zusehen immer weniger. Wenn das
Ganze ein Abbild sein soll der aktuellen Zerstreuungskultur, so ist es
sicher gelungen. Ansonsten scheint das wie Tanz aus dem Zettelkasten, ein
bisschen beliebig. Nicht so extrem wie Forsythe's Computer-Choreografien,
aber auch nicht wirklich bewegend. Die penibel mit Stoppuhr angezeigten
hundert Minuten dehnen sich doch mehr und mehr. Von der Innenseite, die hier nach
außen gestülpt sein soll, spürt man wenig. Alles bleibt doch ziemlich „outside“.
Ein weißes Tuch flattert bodenlang aus der Decke. Langsam füllt es sich mit
Luft, verwandelt sich in eine Birne, eine Blase, einen Kubus. Um die
eigene Achse gedreht, gleitet der über die kreischend auseinander
stiebenden Tänzerinnen und Tänzer, scheint sie unter sich zu zerquetschen
und zu zermalmen. Später, wenn er wieder zu kreisen beginnt, fällt
schwarzer Regen. Eine Tänzerin bleibt liegen; ihr Sterben wird gleichsam
zelebriert. Die anderen schichten ihre Kleider über sie wie für eine
Totenverbrennung. Als auf der "Wolke"
schwebendem Englein mit durchlöchertem Matrioschka-Kleid
begegnen wir dem Mädchen wieder. Fröhlich lässt
sie sich in den luftigen "Wattebausch" hineinkrallen, -kneifen und
durcheinander wirbeln. Dann wird die Luft raus gelassen, die Wolke
"abgeknipst". Die übrigen Tänzer öffnen den
Zip-Verschluss, quellen aus dem Inneren heraus. Sie zerstampfen den
Ballon zu einem Knautschballen. Am Ende sieht man hinter den milchigen
Glas-Rahmen im Halbrund der Schaubühne, wie schon zu Beginn, im
schummrigen Licht nur noch Schemen von Menschen, die sich nähern und
wieder entfernen. Sie bleiben Schemen, unkenntlich.
noBody nennt die Choreografin Sasha Waltz ihren neuen
Abend. Es ist der Abschluss einer Trilogie, die sie eindrucksvoll begann
vor zwei Jahren zur Inauguration des neuen Schaubühnen-Teams mit Körper,
die sie fortsetzte schwül mit S, einem Kompendium menschlicher
Lüste und Sehnsüchte. In noBody sollen
nun die Verheerungen der Körper aufgezeigt werden durch die moderne
Zivilisation, ihre Sterblichkeit, Verletztheit, "Abwesenheit", ihre
metaphysische Existenz. Mit allerlei Zuckungen und Verrenkungen wird das
dem Zuschauer nahe zu bringen versucht. Die "release"-Technik
mit Fallübungen der verschiedensten Art feiert Triumphe. Ein ganzes Bündel
an Trainings-Exercicen wird abgespult. Zu
einem Bild aber verdichtet sich das selten. Zu wenig ist da differenziert.
Es gibt kleine witzige Einlagen wie den Auftritt der
Matrioschka-Puppen, glockige Holzlarven, in denen einige Tänzer wie
über den Boden zu fliegen scheinen, sich drehen wie Derwische, mit den
Panzern aufstampfen wie beim Sackhüpfen, aus den Larven kriechen und die
Verpuppungen aufrichten wie Käfer ihre Fühler. Oder auch die
Kleider-Nummer: Eine Tänzerin, die sich ihrer Oberkleider entledigt,
stopft sie einem anderen Tänzer ins Maul, bis der als Kleiderständer
Missbrauchte an den Klamotten schier zu ersticken droht. Oder ein Tänzer
schlüpft zu einem anderen mit ins Hemd und in die Hosen. Und nun wanken
sie mit vier Füßen und vier Händen als Monster übers Parkett.
Vieles an Exercicen wie die in der Gruppe
"zerstückelten" und wieder quasi neu zusammengesetzten Leiber und Teile
von Leibern hat Waltz schon in ihrem letzten
Abend gezeigt, 17-25/4, ein Titel, der nüchtern das Planquadrat
markierte, in dem die Schaubühne am Lehniner
Platz grundbuchamtlich verankert ist. Im ganzen Haus fand der "Dialoge
2001" untertitelte Abend statt. Das ganze Schaubühnen-Schiff bis hoch zu
den Dächern nahm er spielerisch in Beschlag. Heute, nach der öffentlichen
Unmutserklärung der Tanzabteilung über die Machtverhältnisse im Haus,
entziffert jener "Dialoge"-Abend sich neu. Als
vorweggenommene "Kriegserklärung" entpuppt er sich rückblickend. Das
Tanztheater sei die dominierende, dem Haus die eigentliche Ausstrahlung
verschaffende Kraft, wollte das dem Kodirektor
Thomas Ostermeier signalisieren. Ein Dialog über die gerechtere
Beteiligung an den Ressourcen stehe auf der Tagesordnung und werde
eingefordert, ansonsten "drohe" Abwanderung. Offensichtlich steht dieser
Dialog noch immer aus. Und auch wenn die 25 Tänzerinnen und Tänzer als
Mitchoreografen genannt werden, irritierend denn doch, wie ermüdend leer
über weite Strecken dieser neue Waltz-Abend
mit seiner flüchtigen Mischung aus Mystik, Exzentrik, Komik wirkt: wie ein
bloß didaktisches Durchdeklinieren von Bewegungsmustern, die Zeit
verstreichen lassen, ohne sie zu erfüllen.
Lediglich eines der Frauensoli ließ auch so etwas wie die "Seele" von Tanz
spüren. Grandios, wie Waltz, die zusammen mit
Bernd Skodzig (Kostüme) auch das Bühnenbild
konzipierte, den Raum nutzt, ihn durch geschicktes Ausleuchten zur Wirkung
bringt. Mehr grundierend als gliedernd ist Hans Peter Kuhns Musik. Aus
einem nebulösen Irgendwo steigert sie sich bis an die Schmerzgrenze zu
einem grau-weißen Rauschen. Koproduziert ist
der 90minütige Abend mit dem Festival von Avignon, wo er im Juli im
Papstpalast zu sehen sein wird. Fast demonstrativen Beifall spendete das
Premieren-Publikum am Ende den Tänzerinnen und Tänzern und dem gesamten
Team. Vielleicht war ja Waltz nur einfach
nicht gut beraten, dies Körper-Thema auszuwalzen über drei Abende. Obwohl
- es gilt durchaus auch als Kunst, wenig zu sagen mit einigem Aufwand.
17-25/4 ist eingeschoben zwischen Teil zwei und dem noch folgenden Teil
drei der Körper-Trilogie, mit der
Waltz nach ihrem Umzug aus dem Szene-Lokal
Sophiensæle an den neuen Ort Schaubühne begann. Im
Untertitel heißt das Stück schlicht "Dialoge 2001". Der rätselhafte
Zahlen-Titel spielt an auf den Ort der Schaubühne. "17-25/4" ist die
Nummer dieses Areals in den Plänen des Landesvermessungsamts.
Vermessen. Die Schaubühne wird vermessen. Planquadrat "17-25/4". So nennt
Sasha Waltz auch ihr neues Stück. Nach Körper und S also
dies. Nach der Vermessung des Körpers und seiner Materialität, seines
Triebs und seiner Sexualität als Einschub nun die Vermessung von dessen Geist & Seele.
Es geht hoch hinaus, hoch und hinaus. Der Aufwand ist
beträchtlich. Die Zahl der Tänzer ist aufgestockt auf 26+2. Der ganze sonst
dreigeteilte Theaterraum der Schaubühne ist (seit 1984 zum ersten Mal
wieder) geöffnet zu einer großen
Tanzfläche. Das Publikum sitzt unbestuhlt drum herum.
Meist in der Gruppe bewegen die Tänzer sich. Gehen, Laufen, Beine
anknicken, Rumpf beugen, Arme recken sind einige der Übungen. Ein Mann
scheint gedehnt zu werden zur Überlänge. Aber natürlich sind das zwei,
umknäult von der Gruppe, auf der einen Seite
ragt ein (roter) Rumpf, auf der anderen ragen (rote) Beine. Eine einzelne Tänzerin löst
sich gleich zu Beginn aus der Gruppe, schreitet unendlich langsam die
Tanzfläche ab, weist den Weg zum Bühnentor. Per LKW-Treck geht's weiter
zur nächsten Station. Draußen. Auf den gestuften Dächern des
Schaubühnen-Hauses, auf der Seufzerbrücke im Hof. Dort setzen die weiß
gewandeten Tänzer in schwindelnder Höhe wie in einem Lichtdom ihre Übungen
fort. Statt des Ohren dröhnenden Rauschens im Inneren, nun das gedämpfte
Sirren der Großstadt im leichten Nieselregen und verbale Attacken als
Ausfluss des Geistes.
Seite um Seite der Schaubühnen-Außenhaut wird nun tänzerisch abgetastet.
Ein Flachdach eines Nachbar-Gebäudes kann als Bühne dienen. Oder an der
U-förmig geschwungenen Stirnseite des Mendelsohn-Baus schaukelt ein
Tänzer-Paar an einem Baum, duelliert sich mit Arien. Die Ost-Längsseite
wird zur Boccia-Bahn mit den Tänzern als rollenden Kugeln, das Treppenhaus
des Funktionsgebäudes zu einem Stummfilm-Treppauf-Treppab. Und die Fensterflächen des
Schaubühnenhauses füllen sich per Innen-Projektion zum Aquarium, während
oben auf dem Dach ein Boot die Leinen los macht. Zum Abschluss geht’s noch
einmal ins Innere. Riesige Leitern ragen da von der Tanzfläche in den
Beleuchter-Himmel. Die Tänzerinnen und Tänzer entschwinden aus dem
irdischen Alltag endgültig in die höheren Sphären.
Angekündigt war die Fortsetzung des Erfolgsstücks
Körper
ursprünglich mal als soziokulturelle Erkundung des vor zwei Jahren
bezogenen neuen Domizils der Waltz-Truppe am Lehniner Platz. Konnte schon
S kaum überzeugen, so 17-25/4 noch weniger.
Wo andere Tanzdiven Exotik
suchen durch vorübergehende Verlagerung ihrer Aktivitäten in fremde
Erd-Zonen, steigt Sasha Waltz sich selber aufs Dach. Die Armut an Substanz
wird dadurch nicht weniger evident - besonders zu
Zeiten wie diesen.
Und auch wenn die teuren Umbaumaßnahmen im Inneren der Schaubühne für dies
Stück nur eine
kurze Serie von Vorstellungen jetzt ermöglichen, immerhin ist es ein
Stück, das nicht pur auf Export zielt. Und den Tänzern wird im kühlen
Berliner Herbst ein Maximum an Leidensfähigkeit abverlangt.
Im Programm-Zettel liest man nur den einen Satz von Bruno
Zevi (1968): Wie wenige andere Bauten zeige dieser
von Erich Mendelsohn, wie Architektur "sprechen" könne, nämlich
leiden, singen, angreifen, lauschen. Gern hätte man dem gelauscht. Das Echo blieb
stumm.
Die Bühne ist nackt.
Aus dem Halbdunkel herausgeleuchtet ein am Boden liegendes
Fleisch- und Muskelpaket, wie Strandgut im Morgengrauen. Später werden wir’s
wissen: der aus dem Paradies vertriebene Adam. Eine Frau im Reifrock nähert
sich ihm, betastet, berührt ihn am Rücken, an den Rippen, am Po. Ein anderer
Mann nähert sich ihm vom Rand, greift nach der Frau im Reifrock. Wie eine
leblose Puppe zieht er sie sich aufs Knie, streift von ihr die Kleider ab,
lässt sie ihre Haare über seinen Körper streichen, legt sie neben ihn, auf
ihn, an den Mund, ans Geschlechtsteil. Wieder eine andere Frau erhebt sich,
macht sich frei; das Höschen stopft sie fein säuberlich in ihre Pumps. Ein
Brausen (Musik: Jonathan Bepler)
setzt ein, wenn sie sich an ihn ranmacht. Das Brausen wird zum Orkan, wenn
andere Paare aus den offenen Rändern quellen. Wie Maden und Heuschrecken
geraten sie in orgiastische Zuckungen bäuchlings oder auf dem Rücken. Aha,
der Schöpfungsakt.
S nennt Sasha Waltz gewollt kryptisch ihr zweites Stück fürs Tanztheater an der
Berliner Schaubühne. Abgeleitet ist es aus dem Kernbild von Körper,
ihrem ersten Stück dort mit den madenartig wimmelnden Leibern in der
Glasvitrine. Aber mehr als eine matte Auswaltzung des Körper-Themas ist
das neue 90-Minuten-Opus nicht trotz dramaturgischer Überhöhung von der
Anatomie- auf die Sinnlichkeitsebene. Endlos schon der Beginn, bis das
Schöpfungsdrama so seinen Lauf nimmt. Eher klischeehaft und wie disparat
der zweite Teil. Gezeigt werden soll dort das Lebewesen Mensch,
"eingebunkert" in seinem sozialen Umfeld (Ausstattung:
Heike Schuppelius, Sylvia Hagen-Schäfer,
Sasha Waltz). Versammelt wird hier noch einmal, was im modernen
Tanztheater gut und teuer ist: schnappschussartige Bildwechsel mit
ruckartigen Bewegungen, Gruppenbildungen - vier Frauen gegen vier nackte
Männer etwa - mit wenig Tanz, dafür viel Strippen. Am Ende ein veritables
Kitschbild mit Tieren: Freie Wildbahn in der Savanne mit Giraffen,
Elefanten, Nashörnern. Und dazwischen weiße Menschlein à la Hieronymos
Bosch beim Kopulieren. Eine Eva mit zöpfchengeflochtenem Haarteil wird zu
guter Letzt mit einer milchigen Flüssigkeit begossen. Rückkehr in die
Krabbelstube, genannt das ParadieS?
Erfolg macht süchtig, und vor allem macht er süchtig
nach einem: mehr Erfolg. Sasha Waltz hat Erfolg. Sie muss Erfolg haben,
schon weil die Schaubühne - nach den Vorgaben des Berliner Kulturhaushalts -
sie sich eigentlich gar nicht leisten kann. Freimütig erläuterte Waltz denn
auch jüngst, wenn das mit der Schaubühne schief gehe - orientieren würde sie
sich ohnehin auf die Welt, nicht auf Berlin. Und die Rollbahn zum Abheben
ist ja auch schon angelegt mitten in ihrem neuen Stück. Dass sie aber fürs
Fliegen nun schon gleich ganz die Hüllen fallen lässt? Wie sollen da die
vielen gutgewachsenen Nackten auf der Bühne noch getoppt werden? Oder ist
dies schon das Schlusswort? Allerdings - erotisch geht's bei S
ohnehin nie zu, auch wenn manche Auguren das S als Chiffre für Sex
ausgeben wollten. Im Programmzettel, der sich im Wesentlichen auf ein paar
paradiesische Fotos beschränkt, werden für S zwar noch einige Dutzend
Erklärungshilfen geboten. Aber braucht's die für eine Sache, die ohnehin
überall auf der Welt verstanden wird, erklärungslos und trotzt Pasta überm
Haupt des Finalpaars?
Aber möglicherweise sollte ja dies bildliche
Accessoire aus der Schlusskurve ohnehin ein ganz anderes opus
abrunden. Ursprünglich geplant war ja als zweites Stück eines über den
Kiez um die Schaubühne herum mit dem Titel Lehniner Platz. Und
einen Italiener gibt’s tatsächlich gleich nebenan, sogar einen ziemlich
guten. Oder ist vielleicht dieser ganze zweite eh wie ein aus
Versatzstücken zusammengesetzt wirkende Teil herübergeholt aus einem
anderen, dem Lehniner-Platz-Stück?
Furios beginnt das: Körper, so der Titel des
ersten Stücks der neuen Ära. Ein Mann im langen schwarzen kaftanartigen
Gewand macht mit den Gliedmaßen zackenblitzend schnelle, signalartige
Bewegungen, klappt zusammen wie ein Schweizermesser und steht wieder auf.
Nächster Höhepunkt - und auch schon das schönste Bild des Abends: das
Hineinquellen von vielen nur mit Slips bekleideten Männer- und
Frauenkörpern in ein Fenster. Wie in einem Reagenzglas oder unter einem
Mikroskop kann man sie da betrachten, quer, übereinander, kopfüber
ineinander geschichtet, unendlich langsam von einer Ecke in eine andere
sich bewegend. Der riesige, innen hohle schwarze Keil, der da im Oval des
großen Schaubühnensaals zunächst als glatte Wand ragt, wird noch einmal
zentraler Spielort gegen Ende der ersten Hälfte, wenn ein
Ski-Extrem-Fahrer, am Seil gesichert, daran herunter gleitet. Mit kleinen
Aktionen untermalt das Ensemble die Hauptaktion: Uhrzeiger drehen sich
rasend, ein Raucher erstickt sich unter der Glasglocke mit dem eigenen
Qualm, Schnellschreiber setzen Kreidebuchstaben in- und übereinander.
Schon zuvor gab es eine Aktion mit
Benennen und Auspreisen der Körperteile, inbegriffen Kosten ihrer Reparatur
oder Wiederbeschaffung von Herz bis Niere, samt Spülung. Durch Akrobatik-
oder Zaubertricks wie indische Vielarmigkeit, chinesisches Jonglieren und
Klappern wie die Schlange mit Kaffee-Untertassen oder eine Kentauren-Nummer
wird das aufgelockert. Wenn etwa zur Mitte des 100minütigen Abends das
Raumteiler-Segment wie eine Klappe fällt, ist alles eigentlich schon
gelaufen. Danach nur mehr Varianten oder ein sehr schönes Auspendeln wie von
elektronischen Zeigergeräten; oder eine Frau spannt ihre meterlangen Haare
zu Geigensaiten, an denen prompt die Ensemble-Mitglieder als
Streichel-Orchester sich betätigen. Ganz am Ende: ein Auswaltzen. Die
13 Waltz-Tänzerinnen und -Tänzer, gelagert in einer bemehlten Furche,
erheben sich zu Paaren, betten sich neu und erheben sich wieder, um sich zu
ohrfeigen; oder sie walzen im Raum. Ein Mann schaut fragend ins Publikum.
Der Beifall lässt nicht auf sich warten, und er ist stürmisch.
Nichts weniger als einen kompletten
Neubeginn wollen die neuen Mieter an der Schaubühne um Thomas Ostermeier
und Sasha Waltz. "Wir müssen von vorn anfangen", verkündeten sie in einer
Art Manifest. Ein "neuer Realismus" sei vonnöten, der die
Verbesserungsfähigkeit der Welt vor Augen führe. Abgemeldet sind Andrea
Breth und ihr ästhetisierendes Theater, das nun sich ausprobiert an der
Oper. Die Künstlichkeit vieler Produktionen der späten Schaubühne hatte
indes schon längst Publikum und Kritik mehr beödet als entzückt. Ein
Wechsel war überfällig zumal auch nach der Inner-Schaubühnen-Opposition,
dem Aufstand der Schauspieler gegen die Leitung, dem Aushebeln des alten
egalitären Statuts. Der Einstieg nun also in den Neuanfang mit einer
Untersuchung über den Menschen. Statt Charakterstudien, wie bisher in den
Produktionen der Sasha Waltz von Allee der Kosmonauten bis
Na Zemlje,
nun Abstraktes. Eine Untersuchung über die Spezies Mensch bezüglich seiner
Verträglichkeit mit der Geometrie von Zeit und Raum. Etwas aber gar wie
ein neuer Woyzeck oder Wozzeck wurde es nicht. Artistisch
perfekt ist das gleichwohl gemacht, auch wenn Peter Kuhns Musik meist
unauffällige Kulisse bleibt, musikalisches ameublement à la Satie. Nur
gelegentlich ist auch der Klang integrierter Teil dieser Art
Skulpturenschau.
In solch einer gleichsam
Skulpturensammlung fühlt man sich als Zuschauer. Allerdings in ihr
umherwandern darf man nicht. Man schaut in einen eher traditionellen
Guckkasten. Über die "Rampe" springt die Aktion gerade mal bei einer kleinen
Schaumgummi-Backsteinschlacht über die Bande. Die Choreografin selbst mag in
diesem wunderbaren Schaubühnen-BC-Saal sich wie in einem megageilen
Spielwarenladen gefühlt haben. Mal hier, mal da probiert sie etwas aus -
auch wenn's, wie die krachenden Fall-Nummern, auf die Knochen der
Tänzerinnen und Tänzer geht. Deren Hingabe an ihre Aufgabe freilich ist zu
bewundern. Ihre performance ist von atemberaubender Perfektion.
Integrierender Bestandteil der Gesamt-Wirkung sind indes sowohl die Bühne
von Thomas Schenk und Heike Schuppelius wie die Kostüme von Bernd Skodzig.
Der intendierte höhere Meta-Sinn des Ganzen erschließt sich freilich nur
sehr partiell. Dass Sasha Waltz diesmal kein Erzählstück gemacht hat, gibt
dem Abend ein besonderes, ihre letzten Produktionen auch artifiziell weit
überragendes Profil. Verständlich aber auch, dass sie als nächstes wieder
ein Erzählstück machen will. Thema: ihre neue künstlerische Heimat, das
verkommene Westufer Berlins am Lehniner Platz.
Am Ende quetschen die dreizehn
Tänzerinnen und Tänzer sich in die erleuchteten Doppelfenster des
langjährigen Stammquartiers Sophiensæle.
Wie Insekten in Vitrinen stellen sie sich dem Betrachter dar. Aber sind
sie noch die kleinen stechenden Biester, als die sie jahrelang in der
Tanzwelt herumgereicht wurden? Dialoge ’99 nennt sich der
Abschiedsabend von Sasha Waltz & Guests. Das Stammpublikum strömt
treu in die schäbigen Festsäle in Mitte. Auch diesmal feiern die
Choreographin und ihre Tänzerinnen & Tänzer einen Erfolg. Doch was man zu
sehen bekommt bei diesem work in progress schaut sich eher an wie
Kindergeburtstag.
Es beginnt in scheinbarer Strenge. Ein
Mann, herausgehoben vor der in mäanderndem Muster formierten Truppe macht
einige gezirkelte Bewegungen. Vorzugsweise mit den Armen. Dann zieht er sich
hinter die Linie einer Art Spielfeld in die Truppe zurück. Das Publikum
wartet brav am unbestuhlten Rand. Erst wenn die Gruppe knäuelartig sich in
ein Eck zusammenzieht, wandert das Publikum auch mit, beobachtet aus der
Nähe, wie die Tänzer sich gleich Baumstämmen beim Flößen am Boden neu
gruppieren und, um die eigene Achse sich drehend, an der Wand entlang
rollen, dann in immer neuen Agglomerationen zu Wällen, Linien, Kegeln,
Brücken sich formen. Allerlei körperliche Behinderungen werden dem Zuschauer
nun vorgeführt in verschiedenen Ecken des Raumes. Und wie ein Schweif
wandern die Zuschauer mit. Oder sie teilen sich in Gruppen, und man muss sich
entscheiden, schaut man lieber der Frau mit den in Tesaplast bandagierten
Armen zu oder betrachtet man lieber die Frau, deren Schulterpartie in einen
Kasten eingezwängt ist und die sich wie in der Zwangsjacke an der Wand
entlang quält. Oder es gibt da etwa auch jene, die mit Streck-Armen sich
hinter einem Heizungsrohr verheddert oder jene, die mit ihren Strapsen
Trampolin spielt. Eine weitere Abteilung zeigt, wie Erstarrungen bewegt
werden oder gar sich lösen. Eine in Sado-Maso-Maskierungen drapierte Frau
wird da wie Schlachtvieh am Seil geliftet. Andere schwingen sich wie Kinder
oder lassen sich wie eine Hängebrücke hochhieven. Und ein Mann mit
untergeschnallten Skiern steigt auf einen der T-Stütz-Balken der Sophiensäle
und macht dort oben Schwünge wie für einen Sprung. Oder zwei Frauen, eine im
Babydoll-Brautschleier und mit Tesa an den Händen der anderen festgebunden,
versuchen sich voneinander loszureißen. Eine andere Frau versucht auf den
Schultern eines Mannes diesem durch Brennen einer Kerzenflamme in den Rücken
Beine zu machen. Waltzsche
Stereotype dürfen bei dieser Abschiedsfeier nicht
fehlen. Etwa die Gerümpel-Nummer: allerlei Haushaltmaterialien werden im
fröhlichen Durcheinander übereinander getürmt. Oder die Kreisel-Nummer:
diverse Tänzer spielen Fangen um einen Tisch auf Rollen. Auch fürs Gemüt
gibt’s eine Aktion: Glasharfe spielen auf Wassergläsern. Die Darsteller
sitzen dabei ums nun selber als Spieler gleichsam in der Mitte stehende
Publikum auf Stühlen am Rande und umhüllen es mit sanft zirpenden Klängen.
Ansonsten gibt’s nur ganz gelegentlich mal eher kratzende Geräusche in
diesem sonst stummen Raum.
Mit ihrem Dialoge-Abend wollte
Sasha Waltz diesen Raum selbst noch einmal inszenieren. Auf ein Bühnenbild
ist verzichtet, auch weitgehend auf Kostüme. Nur wenige Requisiten werden
benötigt. Die Tänzerinnen und Tänzer sind anfangs nur mit Höschen
bekleidet. Nach und nach werden einige Accessoires hinzugefügt bis hin zu
bürgerlichen Anzügen und Kleidern. Man richtet sich ein auf den Umzug in
die Schaubühne am Lehniner Platz. Ob das Kiez-Stamm-Publikum mitzieht? Ob
die Choreographin weiß, worauf sie sich eigentlich einläßt? Dieser
etüdenhaft angelegte Abend wirkt matt. Aber den Eindruck hatte man auch
schon bei Waltz‘ letzter großer Inszenierung gemeinsam mit den russischen
Tänzern in Na zemlje / Auf Erde. Einige der dort angeklungen Themen
schimmern hier nach. Nicht mal durch besondere tänzerische Brillanz
zeichnen sich diese Dialoge aus. Mehr zufällig wirkt vieles wie aus
dem Zettelkasten ohne erkennbaren Willen zur Form, was die Tänzerinnen und
Tänzer auch eher unterfordert haben dürfte. Es wird zu dem neuen Ort wohl
ein schwerer Weg und das mit leichtem Gepäck.
Bildsplitter wie aus dem älteren Russland könnte man das nennen; einen Strawinsky, der sie bündelte, gibt es hier allerdings nicht. Das Eröffnungs-Motiv: eine Frau strampelt Rad auf einem Klavier, ohne dass sie von der Stelle käme - wie Mütterchen Russland? In einem Baumstumpf bewegt einer seine hinter dem Kopf geknickten Arme wie in einer Computer-Animation. Wieder ein anderer robbt auf allen Vieren mit einer Kuhglocke um den Hals und lässt sich von den Jungen an den Zitzen nuckeln. Mit Heubällchen wird hier versucht, Baseball oder Gewichtheben zu spielen. Tee wird getrunken aus Tässchen, aufgespießt an langen Stöcken. Ein Arzt führt an einem Halbblöden eine absurde Operation aus mit Schläuchen und gesichtsentstellenden Pflastern. Eine Teufelsaustreibung wird exerziert an einer Frau; und nachdem sie genügend im Morast und Wasser gewalkt ist, wird sie von anderen Frauen wie eine Aussätzige gewaschen. Eine Partygesellschaft trifft sich zum Picknick auf weißem Laken in Swimming-Dress und Abendkleid. Die sonst eher karg archaisierenden Gesänge oder Geräusche des Stücks brechen hier um in schreienden Rock. Eine Frau, die eingesperrt war in einem Holzkäfig unter einem ameisenwandernden Heuhaufen, stellt sich auf einen Sockel und singt ein Lied. Derweil versucht der Blöde an ihr zu fummeln, und der Gutsbesitzer, den man vorher ständig sah seine Bücher wälzen, schiebt nun Pilze wie Schachfiguren auf dem Tisch hin und her.
Na Zemlje (Auf Erde) heißt das neue Werk der Choreografin Sasha Waltz, die erkoren ist, als Mitregentin aufzusteigen in den deutschen Theater-Olymp, die Berliner Schaubühne. Anstoß zu dem mit sechs Tänzerinnen und Tänzern des eigenen Ensembles und sechs aus der Bewegungsklasse Gennadij Abramovs der Moskauer Schule für Dramatische Kunst erarbeiteten Stück war der Wunsch von Waltz, nach der Geburt ihres ersten Kindes Natur neu zu erfahren, wie sie sagt. Dazu kam eine durchs Goethe-Institut vermittelte Einladung nach Moskau. Im vergangenen Sommer probierte man zusammen auf der Ljubimovka, einem Gut einst von Stanislawskij bei Moskau. Das Material, das dort erst im Freien improvisiert, dann in einem kleinen Theaterraum verdichtet wurde, komprimierte sie zu einem gut 90minütigen Abend. Aber so zufällig wie der Enstehungsprozess sich anhört, sieht der Abend auch aus. Lieblingsaktion: das Plantschen und Pflatschen in dem kleinen Wassergraben und das anschließend Sich-Wälzen am Bühnenboden aus Humus, Laub & Heu, den Waltz und ihr Bühnenbildner Thomas Schenk als raumgreifendes Ambiente in die Sophiensæle gezaubert haben. Durchaus Witz haben manche, auch vielfach sich überlagernde Aktionen der Tänzerinnen & Tänzer des tatsächlich ersten Waltzschen Gruppen-Stücks. Aber der Witz verpufft. Die Naivität von Waltz, ausgerechnet bei Moskau Natur als unberührte Idylle erleben zu wollen, paart sich mit der mangelnden Distanz, das Erlebte zu einem Theaterabend zu destillieren, der mehr bietet als exotische Oberflächenreize à la Pina Bausch.
Was sie selbst gelernt habe durch dies Ljubimovka-Erlebnis? Sasha Waltz im (etwas mühseligen) Gespräch vor der Premiere:
Auch bei der Musik, wie sie den Abend gliedern und grundieren sollte, musste Waltz im Probenprozess ihre Vorstellungen revidieren.
In einer Art Stilleben endet der Abend. Bei den Fans kreierte er viel Jubel. Beim Beobachter hinterlässt er eher Ratlosigkeit. Laub, viel Laub und Heu, wird da umgeschichtet von einem Haufen auf den anderen. Sieht so die Zukunft aus an Deutschlands Renommierbühne, die sich da gern eine zweite Pina Bausch kooptieren möchte? Was den Abend bemerkenswert macht, sind die mitunter sogar akrobatischen Leistungen zumal der russischen Tänzerinnen und Tänzer. Was ihm fehlt, ist das Vertiefende dahinter, was Theater erst zu dem machen könnte, was des Theaters ist: als eine in die Existenz lotende Kraft.