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Der Dirigent der Wende:
Kurt Masur - ein Nachruf

(18. Juli 1927 -
19. Dezember 2015)

Die Zeitläufte machten Leipzigs Gewandhauskapellmeister Kurt Masur 1989 zum Politiker und zu einer historischen Schlüsselfigur: Während des Umbruchs in der DDR trug er wesentlich dazu bei, dass die Wende im Osten Deutschlands friedlich verlief.

Kurt Masur

Ein Held wollte er nie sein. Doch die historischen Umstände machten ihn dazu: Anfang Oktober 1989, als er im westdeutschen Fernsehen offen sagte, er schäme sich für das brutale Vorgehen der DDR-Sicherheitskräfte. Und dann eine Woche später, als er den Aufruf «Keine Gewalt!» initiierte, der entscheidend dazu beitrug, ein absehbares Blutvergießen bei den Leipziger Montagsdemonstrationen gegen die Politik der SED zu verhindern. Zum Staatspräsidenten einer geläuterten und demokratisierten DDR wollte man ihn nach 1989 küren, gar zum gesamtdeutschen Bundespräsidenten. Er war in vielerlei Hinsicht der Dirigent der deutsch-deutschen Wende.

Das war im Jahr 1970, als er nach Leipzig kam, noch ganz anders gewesen, da wurde er mit Skepsis empfangen. «Gewandhauskapellmeister» war der so schlichte wie verpflichtende und von ihm immer als Ehre empfundene Titel. Den Dirigenten Vaclav Neumann, der zwei Jahre zuvor das Leipziger Orchester aus Protest gegen den Einmarsch der DDR in die CSSR verlassen hatte, sollte er beerben. Er galt – nach künstlerischen Stationen in Halle, Dresden, Schwerin – als guter Orchester-Pädagoge. 1960 bis 1964 diente er Walter Felsenstein an dessen Komischer Oper in Ostberlin. Und wenn ihm auch bald bewusst wurde, dass er hier als musikalischer Leiter immer nur die zweite Geige würde spielen können – er lernte, wie man ein Haus führt: durch ständige Präsenz, durch Sich-Kümmern um jede Einzelheit und jeden Einzelnen, von früh bis abends spät.

So führte er dann auch das Gewandhaus. Er kümmerte sich um den Fortgang des Neubaus, den zu errichten er die DDR-Oberen überreden und den er 1981 mit dem alten Spruch im Orgelprospekt eröffnen konnte: «Res severa verum gaudium» («Nur Ernsthaftigkeit schafft wahre Freude») – das war ein Leitsatz, der durchaus auch über dem künstlerischen Wirken Masurs stehen konnte.

Geboren am 18. Juli 1927 im schlesischen Brieg (Brzeg) als Sohn eines Ingenieurs, lernte Kurt Masur zuerst Elektrotechnik, studierte daneben aber in der Breslauer Musikschule; den Sinn fürs Praktische bewahrte er sich immer. Sein Hochschulstudium setzte er nach dem Krieg fort in Leipzig. Für das Erbe von Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Gründer des Leipziger Konservatoriums und seinem bedeutendsten Vorgänger im Amt des Gewandhauskapellmeisters, focht er immer.
1991 gründete er eine Mendelssohn-Stiftung, die Mendelssohns kosmopolitischen Geist weitertragen, das als Museum restaurierte Wohnhaus in Leipzig unterhalten und junge Musiker und Wissenschaftler unterstützen sollte. Die Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter waren seine weiteren Vorbilder.

«Leadership» – Führungskraft, Beharrlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit bei grössten Widerständen –, das war es, was die Chefs der New Yorker Philharmoniker suchten, als sie ihn 1991 zum Musikdirektor beriefen. Bekannt in Amerika war Masur seit seinem USA-Debüt beim Cleveland Orchestra 1974. Immer wieder gastierte er in Amerika, sowohl bei den grossen amerikanischen Orchestern wie auch auf Gastspielen mit dem Gewandhausorchester. Bis 1996 pendelte Masur zwischen Leipzig und New York.

Bei seinem Abschlusskonzert in Leipzig wurde er zum Ehrendirigenten ernannt, dem ersten in der 250-jährigen Geschichte des Orchesters. Auch in New York wurde er sechs Jahre später, 2002, mit dem Titel eines Ehrenmusikdirektors auf Lebenszeit verabschiedet – wie vor ihm nur Leonard Bernstein. Masur hatte das schlingernde New Yorker Orchester in der Stadt neu verankert und zumal ein jüngeres Publikum zu interessieren vermocht.

Schon im Jahr 2000 hatte Masur zusätzlich zu dem New Yorker Job auch noch den Posten eines Chefdirigenten beim London Philharmonic übernommen, 2002 zudem beim Orchestre National de France. Anlässlich seines 80. Geburtstags lud er beide Orchester ein zu einem Großkonzert in der Londoner Royal Albert Hall.

Masurs individueller Dirigierstil – ohne Stab und mit eher engen Körperbewegungen – resultierte aus einer Verletzung bei einem durch überhöhte Geschwindigkeit verursachten Autounfall, bei dem er seine erste Frau verlor. Sein Klangideal war jener homogen-dunkle Klang, den das Gewandhausorchester noch heute pflegt. Seine Interpretationen insbesondere von Beethoven gewannen mit der Zeit immer mehr an Kraft und filigraner Durchhörbarkeit. Masur konnte Musiker durch seine Dickköpfigkeit beeindrucken, durch seinen Humor überzeugen, Studenten animieren. Mendelssohn, Schumann, Tschaikowsky, Bruckner, Mahler und immer wieder Beethoven – das war sein musikalischer Kosmos.

Nach der politischen Wende von 1989 meinte er einmal in einem privaten Gespräch, nun könne man endlich wieder mit vollem Herzen Beethoven spielen – die Neunte gehörte zu seinen Lieblingssinfonien. Zu einem geplanten Dirigat von Schumanns vernachlässigtem Bühnenwerk «Genoveva» in der Leipziger Oper kam es leider nie. In späteren Jahren widmete er sich vermehrt der Musik von Dmitri Schostakowitsch, und immer wieder brachte er Werke seines Komponisten-Freundes Siegfried Matthus zur Uraufführung.

Unzählig sind die Ehrungen, die Masur überall in der Welt erhielt. Er war Ehrendirigent des Israel Philharmonic Orchestra, Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Brzeg und – natürlich – auch von Leipzig, zudem Träger zahlreicher Auszeichnungen, darunter der höchsten Klasse des deutschen Verdienstordens. Über hundert Schallplatten hat er aufgenommen – ein Erbe, das in Teilen bleiben und seinen künstlerischen Nachruhm sichern dürfte.

Im Jahr 2012 machte Masur seine Parkinson-Erkrankung öffentlich. Immer wieder musste er in der Folge Konzerte nach Unfällen und Stürzen absagen; doch Masur blieb bis zuletzt aktiv. Noch im vergangenen Jahr gab er, obschon an den Rollstuhl gefesselt, nach achtzehn Jahren Pause wieder ein Konzert in Berlin. Am 19. Dezember ist Kurt Masur im Alter von 88 Jahren in Greenwich, Connecticut, gestorben.


Kein Platz für Paragraphen

Vor 175 Jahren wurde Modest Petrowitsch Mussorgsky geboren

21.März 2014

Modest MussorgskyMusik aus: „Die Hütte der Baba Yaga“. Die Baba Yaga ist eine Hexe, und ihre Hütte ein Mörser, mit dem sie durch die Luft segelt und in dem sie Kinderknochen zerstößt. Mussorgskys Njanja, seine Kinderfrau, erzählte dem kleinen Modest gern derlei Horror-Geschichten. Den Klavier-Zyklus „Bilder einer Ausstellung“, aus dem das Stück stammt, komponierte Mussorgsky 1874, kurz nachdem er mit der Oper „Boris Godunow“ seinen größten Erfolg gefeiert hatte. Nikolaj Rimsky-Korsakow und später auch Maurice Ravel orchestrierten den Zyklus. Gewidmet war er dem Maler und Architekten Victor Hartmann, einem verstorbenen Freund.

Am 21.März 1839 in dem Dorf Karewo geboren, bekam Modest Mussorgsky früh Klavierunterricht bei der Mutter. Und die Mutter war stets sein Idol. Feilen an seiner Technik konnte er während der vor-militärischen Schulausbildung in Sankt Peter[s]burg. Mit 12 trat er erstmals öffentlich auf. 17jährig begann er eine militärische Laufbahn. Als glänzender Tänzer und Pianist wurde er in den Kasinos gerühmt, dandyhaft im Auftreten, von Frauen umschwärmt. In Petersburg wurde er bekannt mit einem Kreis von Künstlern, die sein musikalisches Weltbild veränderten.

Alexander Dargomyschski scharte sie in seinem Salon um sich. Nicht die italienische Oper sondern das russische Volkslied sollte das Kraftfeld sein, aus dem man schöpfte. Michail Glinkas „Ruslan und Ludmila“ war das Vorbild. Der Bruch im persönlichen Umfeld kam 1862. In Russland wird Leibeigenschaft aufgehoben. Das kleine Gut Eltern, das Mussorgsky finanzielle Freiheit erlaubte, wird aufgegeben. Zeitweilig zieht er mit Freunden in eine Art Kommune; ein „vernünftiger Egoismus“, Emanzipation der Frau und libertäre Sexualethik wird dort propagiert. Realismus, dramatische Wahrheit sind die künstlerischen Schlagworte, die der Theoretiker Wladimir Stassow predigt.

Mit Stassow, den Komponisten Mili Balakirew, César Cui, Nikolaj Rimsky-Korsakow und Alexander Borodin gründet er das von Stassow propagandistisch so genannte „Mächtige Häuflein“. Oder in Mussorgskys Worten: „Wo es sich um Menschen, um Leben handelt, da ist kein Platz für vorgefasste Paragraphen und Gesetze.“ Dass die Gruppe angefeindet wurde, oft auch sich zerstritt, verwundert nicht. Mussorgskys „Boris“ kam erst nach mehrmaliger Ablehnung und dann in gesofteter Form auf die Bühne des Petersburger Mariinsky Theaters. Nötigte dann aber doch auch Mussorgskys Gegnern Hochachtung ab. Peter Tschaikowsky allerdings meinte: „Sie ist eine gemeine, niederträchtige Parodie auf die Musik.“

Schnell peilte Mussorgsky weitere historisierende Opern an wie die „Chowanschtschina“ oder den „Jahrmarkt von Sorotschinzy“ nach Gogol, dem später irre gewordenen Dichter aus der Ukraine oder „Kleinrussland“, wie man damals etwas abschätzig sagte. Viele weitere Opern-Projekte Mussorgskys blieben Idee. Oder er komponierte zur Entspannung Lieder, sehr viel düstere darunter. Auch musste der Freund Rimsky-Korsakow immer wieder mit Instrumentieren helfen – und „glättete“ dabei gelegentlich sogar die Harmonik.

Das Leben Mussorgskys wurde indes immer unsteter. Sein Verhältnis zu Frauen: unklar. Nie hielt es eine lange bei ihm aus. Zwar hatte er sich kleine Ministerial-Posten zum Geldverdienen verschafft. Die Nächte allerdings verbrachte er in Kneipen beim Cognac. Nach einem Schlaganfall starb er 1881, gerade 42-jährig, unbehaust, mittellos, ein Bettler. Leberzirrhose, Nieren- und Rückenmarks-Entzündung, beginnende Epilepsie wurden diagnostiziert.

Fundierten Kompositions-Unterricht hatte Mussorgsky nie genossen. Zuletzt allerdings studierte er noch die Bibel des Orchestrierens, Berlioz‘ Instrumentations-Lehre. Mussorgskys Bedeutung für die Musik ist gleichwohl nicht zu überschätzen trotz oder gerade wegen ihrer gelegentlich schroffen, modal-altertümlichen Harmonik. Als „Dilettantismus“ kanzelten es seine Kritiker ab. Schon sein frühestes Orchesterwerk „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ – ein Märchenstoff über einen Hexensabbat – verfiel diesem Verdikt. Für einen Debussy und die französischen Impressionisten eher Ansporn.


Umkehrung der Verhältnisse

Vor 175 Jahren in Leipzig uraufgeführt: Albert Lortzings Oper „Zar und Zimmermann“

22.12.2012

Der „Holzschuhtanz“ – er ist immer noch ein „Hit“ beim Opernwunschkonzert. ‚Ein bisschen viel Dreiviertel-Takt‘ monierten schon damals die gestrengen Hüter ewiger Werte. Aber in Wien beim Kongress, wo die Oberen den Nachlass der französischen Revolution verwalteten, tanzten sie doch auch: Walzer. Und Metternichs Schergen spionierten derweil gar nicht so heimlich bei den Untertanen, lochten die der Unbotmäßigkeit Verdächtigen ein – wie der selbstgefällige Bürgermeister von Saardam van Bett gleich zu Beginn als Meister des „Expektorierens“ sich rühmt.

Nein, nix da von niedlich-lustigem Kleinstadt-Singspiel mit holländischen Meisjes. Albert Lortzing, der Textdichter und Komponist, 1801 geboren in Berlin und 1851 dort gestorben, war ein genauer Beobachter seiner Zeit, Freimaurer, Menschenkenner. Von manchen akademisch Gebildeten zumal in Leipzig mit seinem ehrwürdigen Gewandhaus wurde er nur mitleidig beäugt. Lortzing als ehemals vagabundierender Schauspieler und Sänger, nun am Leipziger Stadttheater, war Autodidakt, scharfzüngig. Der Leipziger Theateramtsleiter Demuth bestrafte ihn wegen despektierlicher Extempores auf der Bühne sogar mit Kerker, was Lortzing ihm prompt in der Figur des Van Bett wieder auftischte. Die Uraufführung seiner bekanntesten Oper „Zar und Zimmermann“ war 1837 in Leipzig „nur“ ein verhaltener Erfolg. Erst die Premiere im liberaleren Berlin zwei Jahre später brachte den Durchbruch. Im Urteil des angesehenen Kritikers Ludwig Rellstab:

RELLSTAB: „…das beste Werk, welches … von einem jüngeren deutschen Komponisten auf die Bühne gebracht wurde.“

Der Hintergrund der Geschichte ist historisch verbürgt: anno 1690 taucht im holländischen Zaandam ein 25-jähriger Russe auf. Er nennt sich Kalv, will bei Bootsbauer Rogge das Schiffsbau-Handwerk lernen. Gerüchte kursieren: wer ist dieser Mann? Der Bürgermeister untersucht den casus. Schließlich wird klar, es ist der russische Zar. Ein Herrscher als einfacher Handwerker – für Lortzing war er das Vorbild eines modernen Staatsmanns. Schon 1790 in einer ersten Vertonung des Stoffs durch André Grétry wurde auf den pädagogischen Effekt gesetzt. Der letzte französische König Louis Seize war noch nicht geköpft. Man hoffte auf seine Lernbereitschaft. Ein Dutzend weiterer Komponisten versuchten sich an dem Stoff. Lortzings Oper allein hält sich bis heute in den Spielplänen. Die Gefahr, dass dabei der aufgeblasene Bürgermeister als Knallerbse dient, sah Lortzing voraus, auch wenn er den van Bett, der seine Wichtigkeit wie eine Hostie vor sich her trägt, als Karikatur eines guten Amtsverwalters zeichnete.

LORTZING: „Der Charakter ist nicht komisch… Einige übertreiben, und das ist nicht gut. Die Rolle ist durchaus nicht zum Faxen[-machen] geeignet…“

Als Gegenbild setzt Lortzing den Reußen-Herrscher:

LORTZING: „Ein Zar…, der um des Besten seines Volkes willen sich eine Zeitlang seiner hohen Würde begibt und in fremdem Lande als gemeiner Matrose lebt und arbeitet, man würde es für eine der gröblichsten Unwahrscheinlichkeiten erklären.“

Detailreich karikiert Lortzing - wie wir durch Jürgen Lodemanns akribisches Lortzing-Buch wissen - den dumpfen Metternich-Geist der Zeit. In seiner letzten großen Oper „Regina“ von 1848 lässt Lortzing Arbeiter gegen ihren Patron revoltieren. Sozial-Romantik würde man heute sagen. Damals ein heiß gehegter Wunsch nach Umkehrung der Verhältnisse von Unten und Oben. Das Szenario ist eröffnet mit dem Auftritt von Zar Peter mit Donnerschlag.


„Nicht ganz geglückt“

Zur Uraufführung des „Bürger als Edelmann“ / „Ariadne auf Naxos“
von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss in Stuttgart vor 100 Jahren

25.10.2012

Aus der Oper „Ariadne auf Naxos“ stammt das nicht. Vielmehr ist es der Beginn der Ouvertüre von RICHARD STRAUSS‘ Suite zum „Bürger als Edelmann“, von ihm selbst dirigiert 1944. Die Uraufführung der Oper „Ariadne“ 1912 war nur als „Intermezzo“ geplant, als Anhängsel zu JEAN-BAPTISTE MOLIÈREs Komödie „Le bourgeois Gentilhomme“ in der Bearbeitung von HUGO VON HOFMANNSTHAL und mit dieser Schauspielmusik von RICHARD STRAUSS. Die seltsame Kombination von Schauspiel und Oper dachten sich die Autoren als Dank an den Theaterregisseur MAX REINHARDT. Der hatte 1909 die Uraufführung ihres „Rosenkavalier“ in Dresden szenisch gerettet und zum triumphalen Erfolg geführt. Schauspieler aus Reinhardts Ensemble sollten in der MOLIÈRE-Komödie mitwirken. Karikiert wird darin ein neureicher Bürger, Monsieur Jourdain, der gern wäre wie ein Adliger und der dazu einen ganzen Stab von Lehrern – Tanz-, Schneider-, Rhetorikmeister – um sich versammelt, aber eitel wie er ist, nicht merkt, dass die Leute ihn verspotten – und auch schamlos abzocken.

STRAUSS: Die Idee war ursprünglich die, net‘ wahr, ein Stück von der nüchternsten Prosa angefangen bis zu den höchsten Höhen der Musik - a bissel a literarische Idee.

So STRAUSS in einem Radio-Interview 1949 zur Idee seines Librettisten HUGO VON HOFMANNSTHAL. Für HOFMANNSTHAL war die Bühne: „Traumbild“. Und mit diesem gemeinsamen dritten Werk schwebte ihm eine höchst moderne Mischung von Ernstem und Heiterem, Realem und Erträumten, Gegenwart und Zukunft vor. So wählte er als Stoff für das Intermezzo die Ariadne, die auf der Insel Naxos ihren Geliebten Theseus tagträumend erwartet. Kreta, ihre Heimat, und die Minoische Kultur waren durch die Ausgrabungen von Sir Arthur Evans damals gerade ins Blickfeld gerückt. Die als kleines „Intermezzo“ geplante „Ariadne“-Oper geriet STRAUSS indes zum mehr als einstündigen opus. Und so wurde die Uraufführung am 25.Oktober 1912 im gerade neu erbauten Kleinen Haus des Stuttgarter Hoftheaters zur Geduldsprobe. In der Erinnerung des Komponisten war das Ganze „nicht ganz geglückt“.

STRAUSS: Die Sache war bissel zu lang. Und da kam noch dazu, dass der sehr liebenswürdige König von Württemberg nach dem „Bürger als Edelmann“ ein dreiviertelstündiges Cercle hielt, und das ganze Publikum immer auf die Oper von Strauss endlich wartete. Und nach zweieinhalb Stunden waren die Leute schon etwas verstimmt und müde.

Vergebens wartet Ariadne in ihrer Höhle auf Theseus. Stattdessen lugen, angeordnet von dem geldgebenden Herrn Jourdain und verkündet von dessen zynischem Haushofmeister, immer wieder Zerbinetta und ihr Quartett von Commedia-dell’arte-Figuren herein. Und statt Theseus erscheint endlich ein verwirrter Bacchus. Immerhin verdanken wir dieser Konstellation eines der zukunftsträchtigsten Musiktheaterstücke des frühen 20.Jahrhunderts. Aber HOFMANNSTHAL und STRAUSS merkten auch, dass die Verquickung von Schauspiel und Oper im realen Theaterbetrieb kaum funktionierte. So arbeiteten sie das Werk vier Jahre später für die Wiener Staatsoper um. Der Molière-Text wurde bis auf wenige Motive gestrichen. Neu gestaltet wurde das Vorspiel. In das fügte HOFMANNSTHAL einen Komponisten ein, der sich – die krausen Erinnerungen an den Württembergischen König bei der Stuttgarter Uraufführung von 1912 im Sinn – herumzuschlagen hat mit den seltsamen Einfällen seines protzigen „Mäzens“. Und so kennt man STRAUSS‘ „Ariadne auf Naxos“ als Oper heute. Vom „Bürger als Edelmann“ blieb nur die Konzert-Suite.

An der ursprünglichen mehr als vierstündigen Fassung hat man sich jüngst bei den Salzburger Festspielen zwar wieder versucht. Aber bestätigt wurde nur, dass die spätere Überarbeitung not tat.


Ein Wunderkind
vergessen nach dem Tod in der damals aufkommenden Wagner-Euphorie

Ferdinand Hiller
zum 200.Geburtstag

24.10.2011

Seiner Musik begegnet man in Konzerten heute nur noch selten. Auch im CD-Katalog findet sich unter seinem Namen fast nichts. Dabei war er zu seiner Zeit – als Pianist, Dirigent, Komponist – einer der bedeutendsten Musiker. Am erfolgreichsten mit seinem zweiten Klavierkonzert. Das Musikleben in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts war geprägt vom Widerstreit der Konservativen und der sogenannten „Zukunftsmusiker“. Richard Wagner und Franz Liszt zählte man zu diesen „Neudeutschen“, Felix Mendelssohn, Robert Schumann und Johannes Brahms zu den Konservativen, auch Ferdinand Hiller. Dabei war Beethoven der Heros aller. Wagner konnte ihm nur eine dichterische Pilgerreise widmen. Hiller lernte ihn noch persönlich kennen. In einem Gedicht auf Beethoven schrieb Hiller 1850, den Kult um den Titanen mit-orchestrierend:

„Erhaben über der irdischen Macht,
Der Mächtigsten, thronet der Genius,
Mächtiger denn sie alle!
Er allein entzündet die Herzen,
Er allein beherrschet die Seelen,
Er ist der König der Geister!“

Geboren wurde Ferdinand Hiller am 24.Oktober 1811 in eine jüdische Kaufmanns-Familie in Frankfurt am Main. Früh lernte er Klavier, Geige, Musik-Theorie. Bereits als Zehnjähriger debütierte er als Pianist. 1825 kam er zum damaligen Meister-Pianisten Johann Nepomuk Hummel nach Weimar, begegnete dort Goethe und Eckermann. Auf der Reise mit Hummel nach Wien traf er neben Beethoven auch Franz Schubert, Franz Grillparzer und Ferdinand Raimund. Hummel empfahl Hiller 1828 nach Paris, wo er in den Salons mit den dortigen Berühmtheiten bekannt wurde: Cherubini, Rossini, Meyerbeer, Berlioz, Liszt, Heine, Börne, Balzac, Victor Hugo. Besonders eng wurde Hillers Beziehung zu Chopin. Ihm widmete er nach dessen Tod 1849 ein von Lobeshymnen durchwebtes Gedenkkonzert, das mit den Worten endete:

„Er war vollendet, hat vollendet,
So ist er doppelt selig zu preisen,
Denn ewig leben wird er hier wie dort.“

Erste berufliche Schritte hatten Hiller zu Frankfurts Cäcilienverein geführt. Er versuchte sich als Opernkomponist in Italien, übernahm Gewandhaus-Konzerte von Mendelssohn in Leipzig, mit dem er sich dann aber überwarf, siedelte 1844 über nach Dresden, wo er Schumann und Wagner kennen lernte. 1847 wurde er Kapellmeister in Düsseldorf, engagierte sich ’48 im Frankfurter Paulskirchen-Parlament und ging 1850 nach Köln. Bis zu seinem Tode 1885 lebte er hier, leitete die Gürzenichkonzerte, gründete die Rheinische Musikschule und organisierte die Niederrheinischen Musikfeste. 1868 wurde er Ehrendoktor der Universität Bonn, 1875 geadelt. Max Bruch und Engelbert Humperdinck gelten als seine bedeutendsten Schüler. Auf 200 Opus-Zahlen summiert sich sein Œuvre – Opern, Oratorien, Kammermusik -, fast alles vergessen bald nach seinem Tod. Die aufkommende Wagner-Euphorie spülte es hinweg.

Bedeutend bis heute sind seine Feuilletons, in denen er das Musikleben seiner Zeit beschrieb. Da bezweifelte er etwa die Befähigung seines gleichaltrigen Rivalen Franz Liszt als Dirigent, geißelte den Antisemitismus zumal der Wagner-Gemeinde, fragte sich, was aus dem Musikland Italien werde ohne einen Verdi, oder feierte den Frankfurter Arzt und Kinderbuch-Autor Heinrich Hoffmann.

„Von Königsberg bis München müssten die nettesten Knaben und Mädchen ausgesucht und auf Reichskosten nach der Goethe-Stadt befördert werden, wenn man dem Verfasser des ‚Struwwelpeter‘ gerecht sein will.“


 

Ein Leben im Zeichen
von Musik und Geschichte

Zum Tod des Dirigenten
Kurt Sanderling

18.Sept. 2011

K.Sanderling mit E.Honecker 1987 nach Konzert zur 750-Jahrfeier Berlin (DDR)Was er gar nicht mochte, waren Fragen zu seiner Biografie: Warum er 1936 in die Sowjetunion emigrierte; warum er 1960 nach Ostberlin in die Ulbricht-DDR zurückkehrte? Man beneidete ihn, sagte er, dass er das Fluchtvisum bekam damals. 1933 hatte er seinen Posten als Korrepetitor an der Berliner Städtischen Oper verloren. Die Finger warm halten konnte er in der Folge beim Jüdischen Kulturbund. In Moskau fand er neue Aufgaben als Dirigent beim Rundfunk. Und in die DDR ging er, weil er gebraucht wurde. In seinen jungen Jahren hatte er noch mit Furtwängler, Kleiber, Klemperer zusammengearbeitet, in der Sowjetunion mit Mrawinsky und Schostakowitsch. In Berlin ein neues Sinfonieorchester aufzubauen, eines, das sich vergleichen wollte mit Karajans Philharmonikern – das war eine besondere Aufgabe und der Beste dafür gerade gut genug.

Kurt Sanderling war – wie Celibidache, Leitner, Leinsdorf, Markevitch, Solti, Wand – einer vom legendären «Titanic»-Jahrgang 1912. Aufgewachsen in Königsberg und Berlin, hatte er hier seinen ersten Job gefunden. Knapp 90-jährig, im Mai 2002, verabschiedete er sich hier auch vom Podium – zum Bedauern vieler seiner Bewunderer wie etwa Simon Rattle. Zu viel Mühe bereitete ihm das Reisen, nach jedem Konzert brauche er erst einige Tage zum Regenerieren, gab er zu Protokoll. Dabei war er mit blitzenden Augen stets präsent, präzis in der Zeichengebung wie immer. Die «Haydn-Variationen» von Brahms, Mozarts c-Moll-Klavierkonzert (mit Mitsuko Uchida) und Schumanns Sinfonie Nr. 4 standen auf dem Programm dieses Schlussakkords mit «seinem» Berliner Sinfonie-Orchester (BSO), das er bis 1977 leitete und dessen Ehrendirigent er war.

Brahms, Beethoven, Schostakowitsch und Mahler, das waren seine Lieblingskomponisten. Und er genoss das Privileg des Alters, nur noch zu spielen, was ihm Freude machte. Ob er damit der Musealisierung des Musikbetriebs Vorschub leiste? Er kritisierte an der Moderne das Überwiegen des Rhythmischen, ihm fehlte das Singen, die Melodie. Pionierarbeit für die klassische Moderne hat er beim BSO aber dennoch geleistet. Offiziell ungeliebte Komponisten wie Strawinsky, Bartók oder Schostakowitsch setzte er dort durch. Was zeitgenössische Musik sein könnte, begriff er, als er 1937 Schostakowitschs Fünfte hörte, die erste große Sinfonie des Russen, die nach der vernichtenden Parteikritik an seinen Opern entstanden war. Für Sanderling wurde diese Sinfonie – zusammen mit der Sechsten, der Achten und der Fünfzehnten, diesem «schrecklichen Stück über Einsamkeit und Tod», wie er sie charakterisierte – ein Spiegel seiner Biografie.

Kennen gelernt hatte er den Komponisten in Nowosibirsk. Die Leningrader Philharmonie war dorthin ausgelagert während des Kriegs. Seit 1942 leitete Sanderling dieses Orchester zusammen mit Jewgeny Mrawinsky. Und er blieb Co-Direktor bis zu seiner Berufung nach Berlin. Sanderling war es auch, der ausgewählt wurde, als Schostakowitsch nach dem erneuten Parteirüffel 1949 wieder «rehabilitiert» werden sollte. Man suchte nach einer «neutralen» Figur, die gleichwohl Schostakowitsch nahestand. Wieder war es die Fünfte, die das Geleit vermitteln sollte. Es wurde ein Triumph, den sich Schostakowitsch freilich nur zu Hause am Radio gönnte.

Seine Weltkarriere begann Sanderling, der 1964–67 auch die Dresdner Staatskapelle leitete, im Rentenalter. Für Klemperer war er 1972 beim Philharmonia Orchestra London eingesprungen. Regelmäßig kam er nun wieder, wurde 1996 Ehrenmitglied des Orchesters. Verstärkt nach dem Ausscheiden beim BSO 1977 führten ihn Gastspielreisen zu den Spitzenorchestern in Los Angeles, New York, Boston, Chicago. Er dirigierte das Tokyo Symphony Orchestra, das London Philharmonic, das Concertgebouworkest, die Münchner und die Berliner Philharmoniker. Er musizierte mit den Rundfunk-Sinfonie-Orchestern von BBC, WDR, NDR, BR, gastierte beim RSO Berlin und arbeitete mit dem Jugendorchester der EU. Vom Tonhalle-Orchester Zürich, bei dem er 1988 mit Schostakowitschs Sinfonie Nr. 15 debütiert hatte, verabschiedete er sich im Jahr 2000 mit Bruckners Siebenter.

Unzählige Einspielungen bei renommierten Labels zeugen von seiner akribisch im eigenen Notenmaterial fundierten Interpretationskunst. Am liebsten freilich war ihm das lebendige Konzert, das «Viagra» des Augenblicks, wie er es selbst einmal formulierte. Perfektion hin oder her, «wenn es schön ist, kann es auch ungenau sein», leistete er sich als Motto. Am 18. September, einen Tag vor seinem 99. Geburtstag, ist er in Berlin verstorben.


Verhungert und erfroren
im Wald

Humperdincks
Oper „Königskinder“
vor 100 Jahren uraufgeführt
an der Met

28.Dez. 2010

Zunftfest in Hellastadt. Die Ratsherren und das Volk sind versammelt. An diesem Tag soll der neue König gekürt werden. Schlag 12 Uhr Mittag soll er durchs Stadttor kommen, so ist geweissagt. Es kommt ein junger Mann, abgerissen wie ein Schweinehirt. Die Leute lästern über den „neuen König“. Nur die Gänsemagd nicht. Sie erkennt in ihm den Mann, der sich im Wald auf der Jagd verirrt hatte. Schon da wollte sie mit ihm gehen, fliehen vor der Hexe, in deren Bann sie stand. Aber sie musste erst ihre Angst überwinden. Nun trotzt sie auch dem Spott der Leute. Sie beide sind in Wirklichkeit Königskinder, vom Volk wegen ihres armseligen Äußeren verkannt, verjagt.

1908-10 arbeitete Engelbert Humperdinck an seiner Oper „Königskinder“, ursprünglich entstanden als Schauspielmusik für ein gleichnamiges Bühnenmärchen von Ernst Rosmer, alias Elsa Bernstein. Dies Melodram wurde uraufgeführt 1907 in München. Schnell reifte die Idee, das Werk zu einer Oper auszuweiten. Das Libretto schrieb der Wagner-Schüler Humperdinck sich selbst. Berühmt geworden war er durch seine von Richard Strauss 1893 in Weimar uraufgeführte Oper „Hänsel und Gretel“, ein Kassenschlager weltweit. So wetteiferten viele Bühnen, diese neue Oper uraufzuführen oder nachzuspielen. Den Zuschlag bekam die New Yorker Metropolitan, an deren „Hänsel und Gretel“-Produktion der Komponist sich gern erinnerte. Zur Uraufführung am 28.Dezember 1910 reiste Humperdinck über den Atlantik, überwachte auch die Endproben selbst.

„Man hatte einem denkwürdigen Ereignis beigewohnt, Humperdincks Königskinder ist die wertvollste deutsche Oper der Nach-Wagner-Zeit“ urteilte die „New Yorker Staatszeitung“. Drei Wochen zuvor war an der Met Puccinis pulsierendes Wildwest-Drama „La fanciulla del West“ uraufgeführt worden. Ein denkbar scharfer Kontrast: Harter Realismus dort, Märchenidyll hier, für das indes auch Puccini sich begeisterte. „Ich bin ein Bewunderer Ihrer poesievollen Kunst, sie ist wie eine duftende Rose inmitten so vieler verworrener Triebe“ telegrafierte ihm der.

Die europäische Erstaufführung von Humperdincks „Königskinder“ brachte wenig später die Königliche, heute Staatsoper, Berlin heraus. Der Humperdinck-Schüler Leo Blech dirigierte. Sechzig weitere Bühnen folgten. Weniger begeistert war die deutsche Presse. Zwar gibt es kein Happyend; Spielmann und Dorfjugend finden die Königskinder verhungert im Wald. Mit ihren vielen Anspielungen an Wagnersche Topoi galt diese Märchen-Parabel aber als eklektisch. Wiederaufführungen an Bühnen heute sind rar, trotz der wunderbaren Musik, von deren virtuos changierender Harmonik der berühmteste Humperdinck-Schüler, Kurt Weill, besonders profitierte.

Humperdinck selbst schätzte die „Königskinder“ als sein Hauptwerk, so sein Sohn Wolfram: „Trotz der häufigen Störungen waren die Jahre der Entstehung der Königskinder-Oper eine der glücklichsten Schaffensperioden des Meisters gewesen. Das Leben und Leiden der verkannten Königskinder, ihr Untergang in einer Welt des Hasses und niedriger Borniertheit, ihre ergreifende Verklärung im Kinderlied und Spielmannsgesang … hatten ihm Klänge gegeben, von denen er selbst einmal sagte, sie seien mit Herzblut geschrieben.“


Entschlüsselung als Vergnügen

Zum Tod des großen Opern-Regisseurs Joachim Herz

Leipzig, 18.Okt.2010

Er war einer der Gebildetsten seines Fachs. Exzellent beherrschte er sein Handwerk. Mit Ruth Berghaus und Harry Kupfer verkörperte er in den 1970/80er Jahren die überragende Strahlkraft des DDR-Musiktheaters: Joachim Herz. Geboren wurde er am 15. Juni 1924 in Dresden. Er lernte sein Metier von der Pike auf, studierte Musikpädagogik, Opernregie, Dirigieren und Musikwissenschaft. Heinz Arnold war sein Mentor. Entscheidende Anregungen freilich bekam er bei Walter Felsenstein, an dessen Komischer Oper Berlin er nach dem Studium und einer ersten Spielleiterstelle in Radebeul arbeiten konnte. Über Köln kam er 1959 als Operndirektor nach Leipzig. Es war seine produktivste Zeit. Vor allem für seine Chorarbeit wurde er dort berühmt. Mit den «Meistersingern von Nürnberg» eröffnete er 1960 das neue Haus, inszenierte den «Holländer», «Lohengrin», «Boris Godunow», setzte sich ein für Janácek und Meyerbeer.

Sein größter Triumph: der «Ring des Nibelungen» (1973-76). Noch vor Chéreau in Bayreuth zeigte Herz «realistisch-komödiantisch», wie er es nannte, was schon George Bernard Shaw und Thomas Mann in Wagners Tetralogie vermutet hatten: eine mythologisch verbrämte Parabel auf die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts. Der Erfolg verschaffte ihm die Berufung als Nachfolger Walter Felsensteins an die Komische Oper Berlin. Dieses Angebot anzunehmen, zögerte er lange. Lange auch hatte das Ministerium gezögert, ihm den Posten anzubieten. Zwischendurch war erwogen worden, die Komische Oper umzuwidmen zum Tanztheaterhaus unter Tom Schilling. Und die organisatorischen Probleme seiner Intendanz kumulierten schnell trotz künstlerischen Erfolgen.

Impulsiv-beklemmend war Herz seine Einstandsinszenierung gelungen. Weills «Mahagonny» zeigte er als ein Warenhaus, in dem man alles dürfen durfte, wenn man nur das «richtige» (West-)Geld in der Tasche hatte. Zum Exportschlager - auch für Zürich (1986/87) - geriet seine sensible Version von Puccinis «Butterfly». Riskant die Uraufführung von Georg Katzers Märchenparabel «Das Land BumBum» (1977); es war eine Oper über ein Staatswesen, wo manche Menschen ganz besonders große Ohren haben und der König keine lustigen Lieder mag, weil er ein Zwerg ist auf Krücken und stürzen könnte. Dass die Premiere stattfinden konnte, hat gewiss zu tun mit der Furcht der Partei- und Staatsführung vor einem neuen Skandal nach den Künstler-Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung im Herbst 1976; und einen neuen Fall «Lukullus» wollte man genauso wenig. Perfekt dann die dreiaktige Bergsche «Lulu», die Herz sich als DDR-Erstaufführung sichern konnte. Doch seine Ablösung 1981 nach nur fünf Jahren war schon beschlossen.

In Dresden, wo er dann die Eröffnung der Semperoper mit vorbereiten sollte, war er nur noch Chefregisseur. Zur früheren Kraft und Geschlossenheit fand er hier nicht mehr. Seine «Freischütz»-Inszenierung zur Weihe des Hauses vor versammelter Partei- und Staatsführung geriet allzu ängstlich-buchstabentreu. Werktreue galt ihm zwar als höchstes Gut, und er meinte damit Oper als nachschöpferische Kunst: «Opas Oper», wie er es ein paar Monate später bei einem Theaterkongress in seiner Heimatstadt zugespitzt provokant formulierte - und darin sei er mit Felsenstein, der das Theater als «schöpferische Kunst» betrachtete, nie einer Meinung gewesen. Zu verfremden, zu verschlüsseln, in Bildern zu sprechen - das sei das alleinige Recht der Autoren, so Herz. Aufgabe des Regisseurs sei es, diese Bilder zu entschlüsseln, genauer gesagt, «den Zuschauer anzuregen, solche Entschlüsselung als geistiges Vergnügen vorzunehmen». Acht Jahre zuvor, zu Zeiten seiner Berliner Intendanz, hatte das noch ganz anders geklungen: Theater müsse sich selbst riskieren. Theater dürfe sich nicht «dümmer» geben als seine Zuschauer, wenn es nicht zum Hofnarren werden wolle.

Das Aus für ihn kam mit der Wende. Herz nutzte zwar weiter seine Kontakte, die er schon früh bis nach London geknüpft hatte, um als Gastregisseur, Lehrer und so gewitzt-brillanter wie kluger Redner für seine Sicht von Musiktheater zu werben - zuletzt oft auch mehr als Kassandra. In gewisser Weise war Herz eine tragische Figur. Nie konnte er ernten, was er säte. Bloßer Gralshüter Felsensteins wollte er nicht sein, wie er auch nie als dessen «Schüler» betrachtet werden wollte. Aber auch die geborene «Leiter-Persönlichkeit» war er nie. Im Gegenteil: mehr polarisierend denn integrierend, impulsiv, «schwierig». Ungezählt waren seine Brandbriefe und Eingaben ans Ministerium. Als «größtes Unglück» notierte er im «FAZ»-Fragebogen: «Diktiergerät bockt, Sekretärin ausgefallen.» Dass bei der Dresdner Flut 2002 sein gesamtes Archiv im Elbschlamm verkleben würde, ahnte er da nicht; mühsam restaurierte er es wieder. Zur Tragik von Herz gehörte auch, dass seine frühen Arbeiten in Leipzig fast unter Klausur blieben. «Aus der westlichen (oder neutralen) Hemisphäre war keiner zugegen», merkte er einmal bitter darüber an, «und wie die Zeitläufte waren, ich fürchte, wir hatten auch keinen eingeladen.» Die Komische Oper hat ihm im September 2005 als Geste der Versöhnung die Ehrenmitgliedschaft des Hauses verliehen. Ehrenmitglied der Leipziger und der Dresdner Oper war er, auch Ehrendoktor der Musikhochschule.

Am 18. Oktober ist Joachim Herz 86-jährig gestorben. Seine Beisetzung auf dem Südfriedhof Leipzig am 25.Oktober hatte er selbst choreografiert. Die zahlreich erschienene Trauergemeinde und ein Chor sangen auf seinen ausdrücklichen Wunsch den Luther-Choral «Ein feste Burg ist unser Gott» mit sämtlichen vier Strophen inklusive des «Und wenn die Welt voll Teufel wär». Peter Konwitschny als erster Trauerredner beschwor Herz als großen Kämpfer für ein realistisches Musiktheater und gelobte, «Der Kampf geht weiter». Die Intendanten von Komischer und Semperoper, Homoki und Hessler, würdigten Herz' Lebenswerk. Am Grab spielte ein Posaunenquartett Choräle. Beigesetzt wurde Herz in der Nähe des Grabes von Franz Konwitschny.

Im Dezember 2011 erschien eine von ihm noch zu seinen Lebzeiten kuratierte dreibändige Ausgabe seiner Schriften im dohr-verlag, ISBN 978-3-936655-97-1, 89,80 €


„It ain’t necessarily so

Zur Erstaufführung von
George Gershwins Oper
„Porgy and Bess“
am Bostoner Colonial Theatre
vor 75 Jahren

30.09.2010

Die große Oper, die große Liebesgeschichte mit der kleinen Tragödie sollte es werden, eine „Volksoper“ mit viel Alltags-Milieu und großen Gefühlen. Bisher hatte George Gershwin Songs, Orchesterstücke, Musicals geschrieben. Nun also eine durchkomponierte Oper mit gesungenen Rezitativen, Arien und Ensembles. Die „Metropolitan Opera“, das erste Haus am Platz, wollte nach Gershwins Konzert-Erfolgen in der Carnegie Hall von ihm ein Stück über New York. Aber Gershwin spürte, dass die amerikanische Volksoper, die ihm eigentlich vorschwebte, dort nicht hin passte. Was der Sohn russisch-jüdischer Einwanderer mit „Volksoper“ meinte, beschrieb er später so:

GERSHWIN: Porgy and Bess ist eine Geschichte aus dem Volk, und die Musik, die die Leute darin machen, ist natürlich Volksmusik… Weil ich die Musik ganz aus einem Guss haben wollte, komponierte ich meine eigenen Spirituals und Volkslieder… Porgy and Bess handelt von dem Leben der Neger in Amerika. Deshalb gibt es darin Elemente, die bisher noch in keiner Oper gab.

„Summertime“ (I/1) ist der erste Song, den Gershwin für „Porgy and Bess“ komponierte, ein Wiegen- und Todeslied. 1926 hatte Gershwin einen Roman geschenkt bekommen, „Porgy“ von DuBose Heyward – und sofort verschlungen: Die authentische Geschichte über einen schwarzen Fischer in Charleston / South Carolina, gelähmt, gehänselt, verliebt in die flattrige Bess, verdächtig eines Mordes aus Eifersucht. Zwar kann man ihm nichts beweisen. Bess aber erliegt den Lockungen eines zwielichtigen Drogenhändlers, „Sportin‘ Life“. Der handelt mit anderem „happy dust“, als ihn die Schwarzen der Catfish Row sich vermeintlich mit den Spirituals ‚reinziehen‘ und „Sportin‘ Life“ ihnen mit seinem „it ain’t necessarily so“ zerpflückt.

Mit Heyward einigte sich Gershwin schnell über das Procedere, auch wenn mit Kern & Hammerstein ein anderes Autorengespann sich für den Stoff interessierte. Beim Libretto half Heywards Frau Dorothy, bei den Liedtexten Gershwins älterer Bruder Ira. Aber es dauerte noch Jahre, bis sich Gershwin fit fühlte fürs Komponieren einer Oper. Mehrmals reiste er nach Charleston, um die Atmosphäre der Stadt zu atmen. Das Frühjahr 1934 verbrachte er auf einer kleinen Insel vor der Küste, lebte dort mit den Schwarzen, studierte ihre teils noch unverfälscht afrikanische Kultur. Zum Beispiel ihre polyphone Art von Spiritual, die sie „Shouting“ nannten. Gershwin inspirierte es zu dem Gebet vor dem Sturm „Oh, Doctor Jesus“ (II/4).

Zwanzig Monate arbeitete Gershwin an der Oper, instrumentierte sie selbst. Und nur Schwarze sollten Schwarze spielen. Im Sommer 1935 begann Rouben Mamoulian, der schon eine Theaterversion des Stücks inszeniert hatte, mit den Proben. Das übliche „Tryout“, die Vorpremiere, fand am 30.September 1935 in Boston statt. Zur offiziellen Premiere im New Yorker Alvin Theatre einige Tage später wurde noch gekürzt. Heute spielt man das Stück aber wieder in der ursprünglichen Bostoner Fassung, die im Nachhinein zur Uraufführung wurde. Das Publikum war begeistert. Die Kritiker mäkelten. Am harschesten wunderte sich Komponistenkollege Virgil Thomson:

THOMSON: Hier hat jemand, der es niemals hätte versuchen dürfen, über ein Thema, das niemals hätte gewählt werden dürfen, und mit Hilfe eines Librettos, das niemals hätte akzeptiert werden dürfen, ein Werk komponiert, dem man eine gewisse Kraft und Bedeutung nicht abstreiten kann.

Den Durchbruch brachten erst die zweite Aufführungsserie 1942, fünf Jahre nach Gershwins frühem Tumor-Tod (1937), und die Europäische Erstaufführung 1943 als Akt des Widerstands im von den Nazis besetzten Kopenhagen unter Polizeischutz. Und wann immer der Großdeutsche Rundfunk vermeintliche Kriegserfolge in den Äther posaunte , schaltete sich ein Störsender dazwischen mit dem Gershwin-Song „it ain’t necessarily so“. Die Deutschland-Premiere erlebte „Porgy and Bess“ nach dem Krieg in Berlin. Gershwins „Porgy“ wurde Vorbild: für Kurt Weill und seine amerikanische Oper „Street Scene“, für Leonard Bernstein und seine „West Side Story“. Beide Stück spielen in New York. Dorthin zieht es am Ende auch Porgy auf der Suche nach Bess.


 

Lebendig begrabene Träumer

Leoš Janáčeks
„Aus einem Totenhaus“:
Uraufführung in Brünn
vor 80 Jahren

12.04.2010

Diese kurzen, kantigen Motive, schroff neben einander gesetzt, oft sich spaltend zu impressionistischen Punkten und dann wieder sich neu verdichtend – schon die Einleitung der letzten Oper von Leoš Janáček, „Aus einem Totenhaus“, im Original „Z mrtvého domu“, macht das kompositorische Prinzip sehr deutlich. Dem fanfarenartigen Motiv des Beginns wird einige Takte später Kettengerassel beigemischt – und so der Ort des Geschehens musikalisch fixiert. Dazwischen stehen immer wieder lyrische Passagen der Solo-Violine. Janáček hatte Teile der Introduktion übernommen aus einem geplanten Violin-Konzert.

Zwischen 1927 und ’28 ist „Z mrtvého domu“ entstanden. Der Komponist verfertigte das Libretto selber sehr frei nach Dostojewskijs „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ als eine Art Protokoll des Schreckens. Vier Jahre, von 1850 bis ‘54, hatte Dostojewskij als Ketten-Sträfling in einem Lager bei Omsk verbringen müssen und dann weitere fünf Jahre als Soldat in Semipalatinsk.

DOSTOJEWSKIJ: „Hier innen war eine eigene, besondere Welt: … ein Totenhaus für lebendig Begrabene, ein Leben wie sonst nirgends auf der Welt und auch Menschen von besonderer Art…. Alle Insassen hier waren Träumer.“

So der Dichter in seinen autobiografischen Aufzeichnungen. Und Janáček beantwortet die selbst gestellte Frage, warum er sich in diese „düsteren, eisigen Zellen der Kriminellen“ begebe?

JANÁČEK: „Ihre Verbrechen lassen sich nicht von ihrer Stirn wischen, aber ebenso wird man auch nicht den Funken Gottes auslöschen können.“

„In jeder Kreatur ein Funke Gottes“ schrieb er denn auch als Motto über die Partitur. Für Janáček war die Lektüre von Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem zaristischen Gulag wie ein böses Erwachen. 1896 bei seiner ersten Reise nach Russland hatte der unter der nationalen Beengung durch die Habsburger Monarchie leidende mährische Komponist noch geschwärmt:

JANÁČEK: „Mir ist so frohgemut: Erwachen, Auferstehung! Ich schüttle die Sklaverei ab, wir fahren los – Russland!“

Jetzt, als er die dunklen Seiten seines geliebten Russland kennen lernt, notiert er:

JANÁČEK: „Mir ist, als schritte ich … von Stufe zu Stufe hinab, bis auf den Grund der elendesten Menschen aller Menschen. Und das ist ein schweres Schreiten.“

Wahrheit war immer die Maxime von Janáceks Werk. Und gewiss hat er in dieser späten Oper auch die dunklen Seiten des eigenen Lebens zu klären versucht: sein berechnendes Verhalten gegenüber der eigenen Frau, die er mit immer neuen Geliebten betrog, seinen Kampf gegen die Fußfessel Alkohol.

Am 12.April 1930, heute vor 80 Jahren, wurde „Aus einem Totenhaus“ in Brünn uraufgeführt, knapp zwei Jahre nach Janáčeks Tod. Janáček selbst hatte gezögert, die Partitur zu veröffentlichen. Durch die moderne Art der Notation und den düsteren Schluss schien das Werk als Torso. So fügten zwei Schüler einen Jubel-Freiheits-Chor à la „Fidelio“ an. Erst 1958 wurde „Aus einem Totenhaus“ in der ursprünglichen Gestalt gezeigt und später aufgezeichnet.

Dabei hat diese Oper auch durchaus heitere Züge. Etwa, wenn die Gefangenen zu den Festtagen – wie Dostojewskij es liebevoll beschreibt – Theater spielen durften. Ein helles Licht im düsteren Zwangs-Kollektiv-Alltag.


„Sag es mit Shakespeare

„Kiss me Kate“
wurde uraufgeführt vor 60 Jahren

30.Dez. 2008

„Wunderbar" - sie schwelgen in Erinnerungen an ihre erste Operette und sie fauchen einander an wie Katzen, Lilly und Fred, die Protagonisten einer Aufführung von Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“ und Partner im früheren Leben. In einer Vorstellungspause kommt es zum Bruch.

Fred: Lilly, das hast du doch nicht im Ernst gemeint, du willst also gehen? / L: Du wirst mich nicht davon abhalten. / F: Und du wirst nie wieder Theater spielen können. / L: Ach nein? Gut, denn ich hasse das Theater, und ich hasse die Schauspieler, und am meisten von allen hasse ich dich! Geh raus!

Zwei Gauner, die auftauchen um Spielschulden einzutreiben, zwingen Lilly zu bleiben. Fred bekommt seinen Macho-Auftritt auf der Bühne als Petruchio in „The Taming of the Shrew“ und Bezwinger der widerspenstigen Kate.

Fred: Sie muss mit mir. Ich will der Herr sein meines Eigentums. Sie ist mein Landgut, mein Haus, mein Hof, mein Pferd, mein Ochs, mein Esel, kurz mein Alles. / L: Du Laus, du weißt genau, dass ich nicht sitzen kann. / F: Was sie widersetzt sich? Aber ich werde sie zum Ehebett karren wie einen Mehlsack, der zur Mühle geht. Meine Herren, vorwärts!

„Kiss me Kate“ in der Filmversion von 1953. Eine Beobachtung brachte den Theaterinspizienten Arnold Saint Subber auf die Idee. Während einer Aufführung von Shakespeares „The Taming of he Shrew“, erlebte er, wie die Protagonisten, ein berühmtes Schauspieler-Ehepaar, sich hinter der Bühne stritten. Subber erzählte davon der Autorin Bella Spewack. Die versuchte erst allein, daraus ein Musical-Libretto zu formen. Cole Porter, den sie als Komponisten hinzu bat, war aber nicht überzeugt vom Stoff. Als allzu abgehoben, „esoterisch“ empfand der mit seiner Frau Linda in einer sehr offenen Beziehung Lebende die Handlung. Erst allmählich erkannte er deren Brisanz und mögliche Publikumswirksamkeit.

Seit „Show Boat“, 1927, von Jerome Kern und Oscar Hammerstein II versuchten die amerikanischen Musical-Autoren immer wieder, eingängige Unterhaltung mit ernsthafter Thematik zu verschmelzen – bei „Show Boat“ etwa: Rassen-Diskriminierung. In ihrem Libretto verflochten Bella Spewack und ihr dann hinzugezogener Mann Samuel große Teile der originalen Shakespeare-Handlung mit Reflexionen über das Theater und Einblicken in die Probleme ihrer Macher: Dass man etwa auftreten muss, wenn einem gerade hundeelend ist, oder, wie oft im Sommer in Baltimore, wo das Stück spielt, dass man wegen der Hitze viel lieber die Beine im Meer baumeln lassen würde als auf der Bühne sich zu produzieren.

Durch die dem Film entlehnte Schnitt-Technik, den Blick-Wechsel zwischen Vorder- und Hinterbühne, konnten die Autoren die Handlung straffen, die Sprache vereinfachen. Das Spiel im Spiel ermöglichte flüssige Übergänge. Ihre Arbeitsweise beschrieben die Spewacks im Vorwort zum Libretto so: „Hier und da zwischen den Passagen, die wir strichen, gab es Verse, die wir gern beibehalten wollten. Wir verteilten sie dann einfach auf andere Darsteller.“ Gerade die Mischung von Real- und Theater-Welt, von Privatleben und Kunst zeitigte den überragenden Erfolg von „Kiss me Kate“. Und die Abschieds-Szene zwischen Lilly und Fred ist nicht das letzte Wort zwischen den beiden privat wie auf der Bühne.

L: Leb wohl, Fred. Willst du mir nicht Glück wünschen? /
F: Das würde keinen Zweck haben, du gehörst zum Theater. Wir beide gehören dazu. /
L: Das Theater, das ist doch das Einzige, was du verstehst. Du brauchst mich nicht, du hast eine zweite Besetzung. /
F: Niemand könnte deinen Platz einnehmen, weder auf der Bühne, noch im Leben.

Am 30.Dezember 1948 wurde „Kiss me Kate“ im „New Century Theatre“ in New York uraufgeführt. Über tausend Reprisen erlebte das Stück in den ersten drei Jahren. Fünf „Tony Awards“ erntete es und wurde nachgespielt in der ganzen Welt. Noch heute wird es immer wieder präsentiert, zuletzt in einer revueartigen Fassung an der Berliner Komischen Oper. Wie „My Fair Lady“, „West Side Story“ oder „Cabaret“ ist „Kiss me Kate“ zum Klassiker geworden.


Mit dem Taxi durch Paris

George Gershwins
„An American in Paris“
vor 80 Jahren uraufgeführt

13.Dez. 2008

Die „Singschule“ in der Nachkriegs-Verfilmung von „Ein Amerikaner in Paris“ : Gene Kelly als ehemaliger GI, der französischen Kindern Amerikanisches Lebensgefühl nahe bringt mit Stepptanz und Bubble Gum – und als einer, der George Gershwin auch gern sein wollte: ein Maler in der Stadt, die er besonders liebte, und wo er mit der anderen Hälfte seines Ichs, einem Komponisten und Pianisten, Tür an Tür lebt.

George Gershwin 1937Der reale George Gershwin – eigentlich Georgi Gershovitz, die Eltern emigrierten vor der zaristischen Armee aus Russland – kam 1928 nach Paris; da war er knapp 30. Durch seine Songs und Musicals, seine „Rhapsody in Blue“ und das „Concerto in F“, die Einbindung des Jazz in die populäre und die symphonische Musik, galt er als die musikalische Verkörperung des neuen Amerika – und er fühlte sich auch so. Frühjahr und Sommer verbrachte Gershwin an der Seine mit Abstechern nach London und Wien, wo er die Witwe von Johann Strauß und auch Alban Berg besuchte. In Paris entstand die Idee zu dem „rhapsodischen Ballett“ für Klavier und Orchester „An American in Paris“, das er bei der Rückkehr nach New York als seine bislang „modernste Musik“ bezeichnete. Sein Programm:

„…die Eindrücke eines amerikanischen Reisenden wiederzugeben, der durch Paris schlendert, auf den Straßenlärm hört und die französische Atmosphäre in sich aufnimmt.“

Im Unterschied zur vier Jahre älteren „Rhapsody in Blue“ orchestrierte Gershwin das Stück auch selbst. Und das Orchester war nicht eine erweiterte Jazz-Combo wie bei der „Rhapsody“ sondern es waren New Yorks Philharmoniker, die unter der Leitung des Chefs der „Symphony Society“, Walter Damrosch, das Werk am 13.Dezember 1928 in der Carnegie Hall uraufführten. Gershwin war im Olymp. Er selbst spielte den Solopart des dreigliedrigen Werks mit den futuristisch-original-Pariser Taxi-Hupen im ersten, dem Blues im Mittel- und dem Charleston im Schluss-Teil. Rückblickend meinte ein Kritiker:

„Mit dieser Tondichtung, die den Geist eines ganzen Jahrzehnts widerspiegelt, schuf Gershwin ein musikalisches Paradoxon, nämlich eine Zeitmusik, die immer zeitgemäß sein wird.”

Was Uraufführungs-Dirigent Damrosch mit der Einladung an Gershwin eigentlich bezweckte, ihn ins Lager der E-Musik herüber zu locken, glückte freilich nicht. Gershwin wusste, was er konnte und was nicht. Er liebte die kleine Form, aber war begierig dazu zu lernen: Bei Ravel etwa, der ihn indes fragte, warum er ein zweitklassiger Ravel werden wolle, wo er doch ein erstklassiger Gershwin sei; oder bei Strawinsky, der mit Blick auf Gershwins stattliches Konto eher bei ihm Unterricht nehmen wollte als umgekehrt. Sechs Jahre nahm er sich zum Studium der Kunst-Form Oper, lebte mit den Schwarzen im Süden, um „Porgy and Bess“ zu komponieren. Am glücklichsten war er, wenn er Klavier spielen konnte auf Partys oder in der Concert Hall.

1937 starb Gershwin, noch keine 39 Jahre, an einem Hirntumor. Opererieren lassen wollte er sich nicht. Kurt Weill und Leonard Bernstein trugen sein Erbe weiter. Im Nachruf der „New York Times“ hieß es über ihn, der als Hilfspianist in einem Verlag begonnen hatte, mit seinem Bruder Ira die ersten Songs schrieb und als Mann am Klavier durch sein eigenwilliges Spiel bald berühmt wurde:

„Als ernster Komponist ist er nie weiter gekommen als bis zu einem bestimmten Punkt … Aber er hat mit seinen für ihn charakteristischen Stücken etwas geschaffen, was nur er schaffen konnte: so frisch, neu und lebendig – ein Ohrenschmaus.“


Meister des Absurden
oder
der „Napoleon der Musik”

Gioacchino Rossini (29.02.1792-13.11.1868)

Rossini im Alter mit Wagner-Kopf am KragenEs ist wohl das bizarrste und in seiner Absurdität zugleich typischste Werk Rossinis: „Il viaggio a Reims“. Auf dieser „Reise nach Reims“ sind zwar viele unterwegs, aber keiner kommt an. Motor und „Treibstoff“ mangeln – sprich die Pferde. Eine Gruppe illustrer Grafen, Barone samt Ehefrauen (oder auch nicht), trifft sich in einem Hotel, sinnfälligerweise zur „goldenen Lilie“. Man will zur Krönung des neuen Königs nach Reims. Aber da es kein Fortkommen gibt, feiert man hier ein feucht-fröhliches Fest.Das Werk entstand 1825 zur Krönung des neuen Bourbonen-Königs. Rossini war aus Italien nach Paris gewechselt. An der Grand Opéra konnte er mit 14 Gesangs-Stars ganz aus dem Vollen schöpfen. Es war und blieb ein Event. Danach machte Rossini mit dem Material, was er immer machte in seiner – heute würden wir sagen – „factory“: er arbeitete es um für eine neue Oper, den „Comte Ory“, eine nicht minder bizarre Klostergeschichte.

Geboren wurde Gioacchino Rossini in Pesaro am Schalttag des Jahres 1792. Der Vater war Hornist, die Mutter Sängerin – und eine Schönheit. Durch den Einmarsch Napoleons in Italien verlor der Vater die Arbeit. Das Getümmel der Revolution hat Rossini stets beängstigt – man hört es wetterleuchten in seiner Musik. In Bologna bekam er den ersten Musik-Unterricht, interessierte sich vor allem für deutsche Musik, studierte autodidaktisch Haydns „Schöpfung“, Mozarts „Figaro“ und die „Zauberflöte“. Den „tedeschino“ nannten sie ihn. Mit zwölf gab er am Cembalo mit der Mutter sein erstes Konzert. Nach erfolgreichen kleinen Opere Buffe und Farce feierte er 1813 in Venedig mit „Tancredi“ den ersten Triumph. Rossini war der neue Champion der Opernszene. Es folgten „Die Italienerin in Algier“, „Der Türke in Italien“, „Der Barbier von Sevilla“ – bis heute seine meistgespielte Oper – und „Cenerentola“ als letzte große Buffa. Rossini, der frühe Meister des Absur4den, galt nun als der „Napoleon der Musik“. Er wurde vergöttert und gehasst, auf eine Stufe gestellt mit Mozart und Beethoven. Man war elektrisiert von seinen rasanten Tempi, den rauschenden Crescendi.

Neapel, das durch angeschlossenen Casino-Betrieb (wie üblich im damaligen Italien) reichste Opernhaus, verpflichtete ihn als Hauskomponisten. In Neapel lernte er seine erste Frau, die Mezzosopranistin Isabella Colbran kennen. Ihr schneiderte er die Primadonnen-Rollen auf den Leib. Aber es war nicht nur der leichte Sinn, der dem Schnellschreiber die Feder führte. Er konnte in dem von fremden Besatzern zerrissenen Italien auch seine satirischen Nadeln setzen. Oder wie HEINRICH HEINE notierte: „Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik seine Gefühle kund geben. All sein Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeisterung für die Freiheit, sein Lechzen nach Hülfe verkappt sich in jene Melodien, die von grotesker Lebenstrunkenheit zu elegischer Weichheit herab gleiten.“ Dass Rossini an der Pariser Oper mit seinen umgearbeiteten Musikdramen „Mosé“ oder „Guillaume Tell“ weniger reüssierte, bedauerten schon die Zeitgenossen. 1829 zog er sich zurück, komponierte nur noch fürs Archiv: Satirisches, wie übers gefährliche Bahnfahren, oder Geistliches. Er kochte, schlemmte, plauderte. „Tournedos à la Rossini“, Rinderfilets mit Gänseleber und Trüffeln, sind sein kulinarisch-wuchtiges Vermächtnis. Über seine ewigen Depressionen, die Gonorrhö, die Magen- und Darm-Beschwerden, half es nicht hinweg.

An einem Freitag, dem 13. (im November 1868) starb der stets Abergläubische. Mit einem Staatsakt wurde er auf dem Prominenten-Friedhof Père-Lachaise beigesetzt, seine Asche später ins teil-wiedervereinigte Italien übergeführt. Einen Teil seines Vermögens hatte Rossini zur Gründung des heute sein Werk mit immer neuen Fundstücken feiernden Konservatoriums in Pesaro gestiftet, einen anderen Teil für ein Musiker-Altenheim. Mit Rossini neigte sich eine Epoche zu Ende, die des dramatischen Koloratur-Gesangs. Gegenüber Wagner und seiner „Zukunftsmusik“ blieb er skeptisch. Er vertiefte sich in Bach und begeisterte sich an Mozart, über den er sagte: „…die Bewunderung meiner Jugend, die Verzweiflung meiner Reifejahre und der Trost meiner alten Tage.“


„…dann will ich etwas leiser sprechen“

Andrés Segovia
zum 115. Geburtstag

21. Febr. 2008

Andres SegoviaAndrés Segovia spielt Bach. Bach in eigenen Transkriptionen, das gehörte zum Stammrepertoire des großen spanischen Gitarristen. Bach auf einer Gitarre zu spielen, hatte vor ihm niemand gewagt. Dabei hat Bach selber Vieles für Laute komponiert und später für andere Saiten-Instrumente umgeschrieben. Segovia kümmerte sich lediglich um Rückübertragungen, wie er einmal beim Gastspiel in Berlin in den 50-iger Jahren erläuterte.

Bach, das war für Segovia die Seele der Musik. Bei seinen ersten Auftritten in den internationalen Musikzentren – 1924 Paris, 1928 New York – spielte er immer auch Bach. Pablo Casals, der bedeutende Cellist und Bach-Verehrer, hatte ihm das Entree in Paris verschafft, Fritz Kreisler, der Wiener Meistergeiger, das in New York. Eher einem Träumer denn einem Star meinte ein Kritiker in Segovia dort später auf der Bühne zu begegnen. „Er gehört zu der sehr kleinen Gruppe von Musikern, die durch ihre Imagination, durch ihre Intuition eine ganz eigene Kunst entwickeln, ihr Instrument gleichsam zu transzendieren.“

Am 21.Februar 1893 wurde Andrés Segovia im Andalusischen Bergbau-Städtchen Linares geboren; er wuchs auf in Granada, der Stadt der Mauren-Burg Alhambra, der Gitarren und des Flamenco. Der Vater war Jurist, wollte, dass auch der Sohn Jura studiere. Der aber interessierte sich nur für die Gitarre, wie er sie in einer nahe gelegenen Werkstatt entdeckt hatte. Mehrere Instrumente zerbrach der Vater dem Sohn; der aber ließ nicht los von seiner Leidenschaft. Autodidaktisch eroberte er sich die vom Vater als „Zigeuner-Instrument“ verachtete Gitarre. Mit 14 gab er sein erstes Konzert in Granada. Es folgten Auftritte in den großen Städten Spaniens, in Südamerika und in der ganzen Welt.

Segovia war der erste Gitarrist, der große Konzertsäle füllen konnte – und das mit einem so intimen Instrument. Skeptikern antwortete er mit der Anekdote über einen Professor, den ein Student im Hörsaal nicht gut verstehen konnte. „Schön, sagte der Professor, dann will ich etwas leiser sprechen“. Segovia perfektionierte die Spiel-Technik und die Körperhaltung beim Spiel, er trug auch bei zur akustischen Optimierung der Gitarre. Wie sein Vorbild Francisco Tarrega bevorzugte er Instrumente mit großem Korpus. Nach dem Krieg ließ er sich von einem Chemiefaser-Produzenten Saiten aus Nylon entwickeln, bei denen der Ton leichter ansprach.

Zu einem Konzert-Instrument adelte Segovia die Gitarre auch dadurch, dass er moderne Tonsetzer von Villa-Lobos bis Castelnuovo-Tedesco und Henze zu Neukompositionen inspirierte. Namhafte Schüler folgten ihm wie Julian Bream oder John Williams. Zahlreiche Ehrungen wurden Segovia zuteil. Der spanische König erhob ihn 1981 in den Adelsstand. Anders als Pablo Casals hatte Segovia auch während der Franco-Diktatur Spanien nicht ganz gemieden. Er starb 1987 in Madrid, 94-jährig. Drei Ziele hatte er einmal formuliert: Die Gitarre vom Ruch des Flamenco zu befreien, ihr ein neues Repertoire und dafür ein großes Publikum zu verschaffen. Alles drei glückte ihm. Besonders stolz war er, auch den Beatles ein paar Zuhörer abgeknapst zu haben.


Eine Mission

Dem großen Tenor Beniamino Gigli zum 50. Todestag

30. Nov. 2007

B. Gigli, 1949Benianmino Gigli, 1955, zwei Jahre vor seinem Tod, bei seiner Abschieds-Tournee in der New Yorker Carnegie Hall: 65 Jahre war er alt, die Stimme noch erstaunlich biegsam. Immer hatte er darauf geachtet, nur Rollen zu singen, die seinem lyrischen Tenor lagen. Wagners „Lohengrin“ war ein Zugeständnis an sein Publikum in Südamerika. Donizetti, Verdi, Puccini, Mascagni waren seine Lieblings-Komponisten. Und gern sang er auch immer wieder Volkslieder wie schon Caruso, dessen Nachfolge auf dem Thron des „bel canto“ er antrat.

Geboren wurde Gigli 1890 in Renacati, einem kleinen Städtchen nahe der Adria. Der Vater war Schuster, der durch die neuen Fabriken die Arbeit verlor und sich als Mesner verdingen musste. „Eine Stimme und sonst nichts: kein Geld, keine Beziehungen, keine anderen Begabungen wurden mir in die Wiege gelegt… Zum Singen taugte ich, und zu nichts anderem.“ So schreibt Gigli in seiner Autobiografie. Der Weg bis zum Diplom 1914 an der berühmten Accademia di Santa Cecilia in Rom ist entbehrungsreich. Und immer wieder ist es diese singuläre Stimme, die ihn rettet – auch vor dem Kriegsdienst. Den Durchbruch bringt 1918 das Gedenkkonzert für den Komponisten und Librettisten Arrigo Boito an der Mailänder Scala. Arturo Toscanini dirigiert es. Der Faust in Boitos „Mefistofele“ ist eine von Giglis Paraderollen.

Schnell dringt die Kunde von dem jungen Tenor an die Metropolitan Opera in New York. Die Ära Carusos dort neigt sich dem Ende zu. Am 26. November 1920 debütiert Gigli an der Met. Er erntet 43 Vorhänge, und die New Yorker Kritik ist sich einig: ein „neuer Stern“ ist geboren. „Seine Stimme ist ein lyrischer Tenor von eigenartiger Wärme und Fülle in der Mittellage, im Timbre auffallend schön, bemerkenswert elastisch und fein, wenn er leise singt, und beim vollen Einsatz reich an Schmelz“, liest man. Zwölf Jahre bleibt er der Met treu. Den Sticheleien über seine Leibesfülle und sein etwas ungelenkes Spiel begegnet er mit regelmäßigem Fitness-Training. 1924 debütiert er in Deutschland. Seine Berliner „Bohème“ wird ein Triumph.

Kopflos – was er später bereut – verlässt er 1932 die Met, als dort wegen der Wirtschaftskrise die Gagen schrumpfen. Stattdessen lässt er sich von Mussolini einen Vertrag vermitteln für Auftritte in den großen italienischen Opernhäusern. Bei der UFA steigt er ein ins Musikfilm-Geschäft. Der frühe Kontakt mit dem „Duce“ – und dann auch mit den Nazi-Größen Hitler, Goebbels, Göring – beschert ihm nach dem Krieg ein mehrmonatiges Auftritts-Verbot. Immer wieder hat Gigli betont: er sei ein „Durchschnitts-Mensch“, verstehe nichts von Politik, er singe für alle. Seine Mission sei es, den lyrischen Gesang, den bel canto, in der Welt zu pflegen. „Io ci tengo molto di rappresentare degnamente l’arte lirica specialmente all’estero, ho una missione da compiere“, erklärt er einem deutschen Reporter.

1950 erleidet er einen ersten Schwächeanfall. Er merkt: er ermüdet schneller. Sein letztes Konzert gibt er 1955 in Washington. Er zieht sich zurück auf sein Landgut, das er nahe seinem Geburtsort Renacati in den zwanziger Jahren aufgebaut hatte. Dort stirbt er am 30. November 1957. Mit Enrico Caruso und zuletzt Luciano Pavarotti bildet er das wahre Dreigestirn der größten italienischen Tenöre der letzten hundert Jahre. Alle drei entstammten ähnlich einfachen Verhältnissen. Giglis Vermächtnis, seine wiederholte Mahnung, eine Stimme müsse sehr langsam wachsen, dürfe nie zu früh überfordert werden, gilt heute mehr denn je.


Beethovens „Appassionata

Ein kritischer Blick auf Elly Ney
am 125. Geburtstag

27.Sept. 2007

Auf den Spuren des Titanen: Elly NeySie spielte Beethoven nicht nur meisterlich, allzu gern schlüpfte sie auch in dessen Titanen-Pose – hier mit dem vom Meister entliehenen Schlusswort ihres Vortrags „Wie ich zu Beethoven kam“.

NEY: Höheres gibt es nichts, als der Gottheit sich mehr nähern als andere und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht zu verbreiten.

Eine starke pädagogische, ja missionarische Ader hatte Elly Ney immer. Sie spielte – solo oder als Begleiterin – auch in Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Lazaretten, Gefängnissen, erläuterte ihre Musik. Bonn, ihre zweite Heimatstadt, verdankt ihr das Beethovenfest. 1931 initiierte sie es, um mittels Beethoven das „Schöpferische, das Ewige im Menschen“ wieder zu beleben. Aber auch die Hitler-Jugend profitierte von ihrem pädagogischen Eifer. Elly Ney beteiligte sich an „kulturpolitischen Arbeitslagern“ in Weimar oder einem HJ-Beethovenfest in Wildbad, wo sie über das heroische Wesen der nordischen Musik und den Kraft- und Freude-Spender Beethoven schwadronierte:

NEY: Unerbittlich gestaltete er das Naturgesetz, die Wahrheit, oft bis zur Rauheit. Und dies heilige Feuern soll die Herzen der Jugend entzünden, im Kampf stärken, im Leid trösten und aufrichten. So komm denn, du deutsche Jugend! Lass den Alltag zurück! In diesen Tagen und Stunden wollen wir gemeinsam uns den Strömen der Seelenkräfte unseres Volkes öffnen. Möge daraus unsere Tat im Dienste des Führers groß und licht erstehen.

Geboren wurde Elly Ney am 27.September 1882 in Düsseldorf. Der Vater war Militärausbilder, die Mutter musisch veranlagt. Deren Mutter war gleichsam Enkelschülerin Beethovens und förderte ihr Klavierspiel. Mit erst zehn Jahren wurde Elly aufgenommen am Kölner Konservatorium. Den Sprung zur Meisterausbildung in Wien wagte sie, noch nicht volljährig, gegen den Willen des Vaters. Bei dem berühmtesten aber auch intellektuell-strengen Klavier-Lehrer Theodor Leschetitzky hielt sie es nur wenige Wochen aus, wechselte zu dem nicht minder berühmten, aber mehr gefühlsbetonten Emil von Sauer, einem Schüler Franz Liszts.

Ellys besonderes Talent sprach sich schnell herum. „Musikalische Vollnatur“, „bacchantisches Temperament“, „so ehern im Technischen, so hin brausend in Sturm und Wetter“ las man in Kritiken damals über ihr Musizieren ganz „von innen heraus“. Bald wurde sie eingeladen in viele große Musikzentren Europas. 1911 heiratete sie den Dirigenten Willem van Hoogstraten, 1918 bekam sie ihre Tochter, die natürlich Eleonore getauft wurde. Einschneidend aber schon das Jahr 1914, als sie an rheumatischen Anfällen litt. Nach einer Bircher-Kur in der Schweiz stellte sie ihre Ernährung komplett um auf Rohkost und Nüsse, wurde missionarische Vegetarierin. In ihrem Reise-Gepäck schleppte sie fortan immer ihre „Speisekammer“ mit.

Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte sie – wie Wilhelm Furtwängler – zu jenen europäischen Berühmtheiten, die nach Amerika eingeladen wurden, um dort die klassische Musik zumal auch auf Schallplatten zu popularisieren. Ihr erstes Konzert in der New Yorker Carnegie Hall bestritt sie – mutig – mit einem ausschließlichen Beethoven-Programm. Die späte Elly Ney: mit gläubigem BlickIn der Nazizeit gehörte Ney zu Hitlers „unersetzlichen“, im Volksmund „gottbegnadeten“ Künstlern, und sie fiel auch schon mal dadurch auf, dass sie eine Aufführung von Carl Orffs eigentlich gelittenen „Carmina Burana“ im Görlitzer Theater mit einem empörten „Kulturschande“-Ausruf verließ. Zu Kriegsende versenkte sie sich unterm Beethoven-Konterfei bei Soireen in ihrem Tutzinger Heim. Wie immer ging’s ums ewig „Schöne, Wahre und Gute“.

Mit der eisernen Disziplin, die sie vom Vater gelernt hatte als Kind beim Laufen-Schwimmen morgens um Fünf, beschwieg sie nach dem Krieg ihre Vergangenheit im Nazireich, verdrängte die – etwa mit einer Benefiz zum Wiederaufbau der Beethovenhalle. Zeitweise hatte sie Auftritts-Verbot. Einer Reporterin gegenüber meinte sie 1952 vielsagend:
NEY: In die Erinnerungen der Vergangenheit einzutauchen, heißt das nicht eigentlich still werden und schweigen? Zudem erlaubt mir mein Leben nicht, diese Rückschau vorzunehmen. Sie zwingt mich ja, die Gegenwart zu verlassen, die Aufgabe des Tages, der Stunde, ja jeder Minute.

Elly Ney starb am 31.März 1968 in Tutzing. Sie war eine der letzten Romantikerinnen am Klavier, nach dem Krieg im durch die NS-Zeit so ernüchterten Deutschland eher belächelte Randfigur, aber immer beseelt von ihrer „Weltbotschaft“, Beethovens „in unermesslicher Dimension“ schwingendes Genie zu verkünden. Dass sie mit ihrer wallenden Haarpracht, dem himmelwärts gerichteten Blick auch als gleichsam Inkarnation Beethovens bespöttelt wurde, störte sie wenig. Ihr ging es um die „Offenbarung“, das „Mitschwingen der Seele“.