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Kraftwerk, Theatertier, sterbender Schwan

Die Regisseurin Ruth Berghaus

Von Georg-Friedrich Kühn

Was in der Erinnerung haften bleibt: viele magisch-suggestive Bilder, zumal von den Arbeiten mit dem Bühnenbildner Hans Dieter Schaal: Kassandra und Andromache, die den lemminghaften Durchmarsch der Heldenmänner durch die Geschichte nicht stoppen können und ihnen wie auf einer Galeere in die Gaskammern folgen; Dido, die den von den Schatten der Vergangenheit gebundenen Æneas nicht abhalten kann vom Aufbruch nach Rom und die das Gefühl der letzten gemeinsamen Liebesnacht zu löschen sucht im Fackelbrand, wenn sie, wie Brünnhilde ihr Ross, das am Steg bereite Ruderboot besteigt. So in den Berlioz-Trojanern 1983 in Frankfurt.

Oder das Schlussbild des Berliner und Pariser Wozzeck (1984/85). Da sieht man in einer betongrau verwüsteten Stadtlandschaft das Kind von Wozzeck und Marie. Dort, wo der Vater seine Sinnlichkeit versteckt hat: im Stall seiner Karnickelzucht. Es spielt mit Wozzecks "Revolutionsbesteck", dem Messer, mit dem er schon die Mutter umgebracht hat. Es simmert und summt so vor sich hin. Vorher war es stumm.

Und insbesondere die lautlose Gespenstigkeit des Orpheus-Balletts im Tschernobyl-Jahr 1986 in Wien: eine szenische Vision über Liebe, Geburt, Tod; die Kunst als Zuflucht und Mechanismus der Verdrängung; mit Zügen, die nirgendwo ankommen und nur noch Tote transportieren; mit einem Schwan, Inbegriff von Liebe und Tod, der zum Sterben sich schon eine Nische sucht, während Orpheus und Eurydike noch zu entrinnen versuchen, um dann doch nur in des Hades und der Persephone Kachel-Küche-Leichenschauhaus-Führerbunker zu landen. Ende eines Versuchs einer Rebellion. Absurd der Aufstand gegen den Tod.

Vieles, was er von ihr kannte, gestand einige Monate später Hans Werner Henze in einem Brief an Ruth Berghaus, habe ihm nicht gefallen. Und auch gerade, was sie mit dieser Version seiner OrpheusMusik machte, schien doch sehr weit entfernt von dem, was er und sein Librettist Edward Bond wollten. Aber er habe im Laufe der Zeit gelernt, ihre Arbeiten zu verstehen als "Forschungen", als "unablässiges Nachdenken über musikalische Inhalte", als "szenische Kunstwerke", die Freiräume schaffen und mittels solcher Leichtigkeit, solcher Schwebezustände Raum lassen für die Musik.

"Gewissermaßen aus der Vogelschau um so genauer analytisch interpretierend", habe sie die Gefühls- und Gedankenwelt dieses Balletts aufgefächert. Sie hat mehr verstanden und dem Stück mehr zugetragen, als ich selbst für denkbar gehalten hätte. Sie hat in das Stück, in seine Schluchten und Dunkelheiten hinein geleuchtet und dort Anderes, Unbewusstes, Neues entdeckt und bloßgelegt. Es hat mich außerordentlich bewegt, und es hat in mir etwas ausgelöst, ein Freiheitsgefühl, das mich in meiner zukünftigen Arbeit bestärken wird" – so Henze.

Brecht und Palucca

Mit dem Orpheus-Ballett war Ruth Berghaus (Arila Siegert assistierte ihr) zurückgekehrt gleichsam an den Ursprung ihrer Arbeit. Anknüpfend an das, was sie 1964 mit einem Schlag berühmt gemacht hatte: die Choreografie der Schlachtszene des Coriolan, am Berliner Ensemble inszeniert von Manfred Wekwerth. Nicht nur, dass diese Arbeit ihr ein Engagement am Hause durch die Prinzipalin Helene Weigel einbrachte. Die Produktion wurde exemplarisch dafür, wie sie selbst das Brechtsche Theater verstand, seit sie ihm in dessen Mutter Courage erstmals begegnete: dass die einzelnen Künste selbständig und in Reibung zueinander vielschichtig eine Fabel erzählen, die auch dem Zuschauer ein freies Assoziieren und Weiterdenken ermöglicht.

Tiefer wurzelte Ruth Berghaus in dem, was sie von Gret Palucca lernte. Von 1947 bis 1951 studierte sie bei ihr in Dresden Tanz, entwickelte selbständig daraus Tanzregie und Choreografie. Daher rührt bei ihr dieses spezifische Gefühl für den Körper und seine Kraft im Raum, und wie man den Raum und seine Kraftlinien für eine bestimmte Aussage zum Sprechen bringt; dies Gespür für nicht-naturalistische Bewegungsformen, und wie man den Sinn  eines Vorgangs oder einer Figur umsetzt in Form, indem man nicht einfach den Vorgang zeigt, sondern mit den Darstellern improvisierend zu finden sucht, was „dahinter“ ist, seine „Übersetzung“.

"Ihr müsst den Widerspruch mitspielen", war eine ihrer wiederkehrenden Mahnungen an die Darsteller.Sie sollten so mit der Kraft des ganzen Körpers das Gefährliche einer Situation, das "auf Messers Schneide" verdeutlichen – und dass alles auch ganz anders sein könnte. Für den Dirigenten Michael Gielen war das später einer der Punkte, an denen er, wie er meinte, erstmals begriff, was Musiktheater sein könnte.

Dass Ruth Berghaus – aus einer ärmlichen Bergarbeiterfamilie stammend, der Vater früh gestorben, der Bruder im Krieg verwundet – mit zwanzig keine Ballerina mehr werden konnte, dass ihre körperliche Struktur den klassischen Tanz auch eigentlich gar nicht zuließ und Palucca ohnehin eher die die harmonischen, ausgeglichenen Körper schätzte, wusste Berghaus schon da zu stilisieren. "Eigensinn" bescheinigt ihr Palucca, die selbst, berühmt für ihre Sprungstärke, ihre wesentlichen Impulse im Freien Tanz der Zwanziger Jahre und bei den Bauhaus-Künstlern gefunden hatte. "Eigensinn" – das war höchstes Lob von einer, die Widerspruch immer herausforderte.

Szenische Metaphern

Das Theater in Bewegung halten durch Reibung, Widerspruch, das Theater nicht als die Künste verschmelzendes Gesamt-Kunstwerk, sondern als Ort, wo man in einer Geschichte auf vielen Ebenen viele Geschichten gleichzeitig erzählt, Assoziationsfelder spannt, so dass die „vielfältigen Gestalten, Motive, Seiten, die in den Menschen und Dingen sind, sich hervorkehren können“ (Ruth Berghaus anlässlich ihres  Lukullus von 1983 in Berlin) – zusammen gehalten wurde das unter dem Begriff der szenischen Metapher. Der begriff prägte sich in der Zusammenarbeit mit Heiner Müller. Es war eine Variante dessen, was bei Brecht das „erzählende Arrangement“ hieß und die Art meinte, welche Figuren und Accessoires wann und wie im Raum sich bewegen und was dies dann dem Zuschauer „erzählt“ und als Sinn transportiert.

Ein einziges Mal, für ihre Frankfurter Entführung (1981 mit Michael Gielen am Pult), hatte Ruth Berghaus auch selbst das Bühnenbild entworfen: ein weißes Kabinett, offen wie ein Innenhof oder auch geschlossen wie eine Kaaba, dreidimensional beweglich wie an Marionettenfäden schwebend, ein Raum im Raum, ein Labor. Alles war hier beweglich gehalten, erst am Ende wieder in die Starre festgefahrener Raster fallend – hie Orient, dort Okzident. „Für mich ist das Arrangement kein punktuelles, sondern ein sich bewegendes, ein in Fortsetzung begriffenes; es löst sich fortwährend auf“, begründete Ruth Berghaus, warum sie diesen Raum auch selbst in dieser Weise beweglich zeigen wollte. "Weil: Statik gibt es zwar in Hochhäusern, aber das ist nicht das Leben. Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir mitteilen dürfen, dass Menschen in Bewegung sind – in einem übertragenen Sinn." 

Im Mittelpunkt: das Stück

Genaues Lesen der Texte, die Dinge auf den Punkt bringen durch eine differenzierte Zeichen- und Gestensprache, exakte Vorbereitung eines Inszenierungskonzepts im Team und Umsetzung im spielerischen improvisieren mit den Darstellern, Motivierung eines ganzen Bühnenapparats zu Höchstleistungen durch kalkuliertes Verblüffen, Humor wie auch ätzenden Spott – im Mittelpunkt stand „die Sache“, das Stück. Den Figuren sollte Gerechtigkeit widerfahren. Vermieden wurden einseitige Festlegungen, auch der Darsteller – wozu Felsenstein neigte (und seine Schüler) in der Absicht, möglichst „fasslich“ ein Stück „auf einen Nenner zu bringen“, wie Berghaus einmal die Arbeit des gleichwohl als „Meister“ geschätzten einstigen Kollegen charakterisierte.

So bekamen bei ihr auch scheinbar nicht zentrale Figuren wie die Donna Elvira im Giovanni (Cardiff/Berlin 1984/85) als Frau, der das Glück erfüllter Liebe und eines Kindes versagt bleibt, eigenes Gewicht. Oder es wurde Wagners winzige Bühnenanweisung aus dem Rheingold-Vorspiel, der Rhein fließe „von rechts nach links“ ernst genommen und in dem Frankfurter Ring (1985-87 mit Michael Gielen und Axel Manthey) interpretiert als: Wagner sieht in seiner Tetralogie dies Deutschland distanziert von außen, aus Frankreich, aus der Schweiz.

Auch der düpierten Gutrune wurde am Ende der Götterdämmerung Gerechtigkeit als Erbin dessen, was Brünnhilde besaß, aber nicht behalten konnte: die Macht und Siegfrieds Liebe. Wagners offenen Schluss des Ring aufnehmend und Wotans Einäugigkeit paraphrasierend, ließ Ruth Berghaus Gutrune am Ende durch ein Fernrohr blicken, einäugig mittels Technik. Für sie, die ihre ganze Ring-Lesart auch unter dem Eindruck der damals drohenden SDI-Raketen-Weltraumrüstung erarbeitet hatte, der "erwartungsvolle, einäugige, schreckliche Blick ins All".

"Die Sache", paradigmatisch zugespitzt in ihrer Janáček-Interpretation von Sache Makropulos (1982 mit Anja Silja in Frankfurt, im wilden Bühnenbild von Erich Wonder) – das war für Ruth Berghaus auch eine immer gegenwärtige politisch-moralische Verpflichtung. Die „Sache“ feite indes vor partieller Blindheit nicht, das Dogma diente auch als Versteck vor der Wahrheit. Die DDR war und blieb für sie das bessere Deutschland, auch wenn sie deren Untergang an der Premierenfeier des Grazer Lohengrin 1990 mit Sekt begoss. 

DDR-Bindung

"Luxus-Dissidentin" wurde sie nach der Wende vom "Spiegel" tituliert, der zuvor kaum oder nur abschätzig von ihr und ihrem Werk Notiz genommen hatte. Und Ruth Berghaus münzte das 1992 um zu einer ironischen Pointe über die gottähnliche Anbetungswürdigkeit von bunten Magazinen in ihrer Stuttgarter Mahagonny-Inszenierung. 1977 hatte sie die Intendanz des von ihr mit Heiner Müller als „Autoren“-Theater verstandenen Berliner Ensembles abgeben müssen, nicht nur auf Druck der Brecht-Erben. Bei der Ausbürgerung Wolf Biermanns im Jahr davor opponierte sie nicht gegen die Parteibürokratie, befand die Attacke Biermanns gar als „Nestbeschmutzung“. Die Arbeiterklasse im Kopf und der Daimler in der Garage, für sie kein Widerspruch – so ein geläufiges abschätziges Bonmot damals über sie.

In ihrer ersten Frankfurter Arbeit,  der Zauberflöte 1980 mit Michael Gielen am Pult – an der (Ost-)Berliner Staatsoper war ihr dort geplantes erstes Ring-Projekt im Vorjahr nach dem allzu kessen Rheingold-Vorabend gekippt worden -, zeichnete sie ein gleichwohl bitterböses Abbild der Partei-Hierarchen auf der Bühne: Die Eingeweihten Sarastros trugen da Mehlwürmern gleich ihre Menschlichkeit zwischen Buchdeckel geklemmt als Brett vor dem Kopf nach dem Motto der drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen; und im Keller stapelten sich die Leichen (Ausstattung: Marie-Luise Strandt). Zugleich wurde mit dieser Produktion auch eine neue kritische Rezeption dieser Mozart-Oper, des „Machwerks“, eingeleitet.

Trotz der politischen Läuterungs-Wanderung von der SED zu den Grünen nach der Wende – treu blieb Ruth Berghaus vor allem sich: ein Theatertier, das den Ruhm brauchte und genoss, das vom Vampir Theater sich aufsuagen ließ und diesen Apparat zugleich aufzusaugen wusste.  In ihrer letzten, von ihr nur noch (mit der Dramaturgin Antje Kaiser) konzipierten, von ihrem Assistenten Thilo Reinhardt realisierten Leipziger Fledermaus hat sie das 1995 chiffrenhaft thematisiert. Zugleich zeichnete sie darin ein eher düsteres Bild von der möglichen Zukunft des Theaters. Ohnehin verdüsterten sich die Bilder ihrer späten Arbeiten – Freischütz (mit Nikolaus Harnoncourt), Otello, Katja, Holländer in Zürich, Traviata, Macbeth in Stuttgart – immer mehr.

Dass sie ihre Urnenbestattung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof Berlins im Februar 1996 als stumme Choreografie der Verbeugungen sich wünschte: keine Musik, keine Reden und das Familiengrab mit ihrem Mann Paul Dessau bedeckt mit einem Teppich roter Rosen, die Köpfe strikt ausgerichtet gen Osten, und danach "fröhlicher Umtrunk" der Getreuen in ihrem Haus in Zeuthen – es war ihre allerletzte Inszenierung. 

Vergebliche Rebellion?

Manches blieb Konzept, wie die ursprünglich für die erste Bastille-Saison Daniel Barenboims geplanten Soldaten von Bernd Alois Zimmermann oder die auch für Dresden schon vorbereiteten Henzeschen Bassariden. An Verdi, gar Puccini ließ man sie erst spät.

Ein für Berlins Staatsoper kurz vor der Wende noch geplanter Nabucco wurde von der ängstlichen Intendanz gekippt. Ironisch ersetzte sie ihn mit einer Così fan tutte. Auch ihr Lieblingsstück, den Figaro, durfte sie nirgendwo inszenieren, nachdem der in Frankfurt geplante Mozart-Zyklus abgebrochen worden war. Bayreuth rief sie nie, obwohl 1982 die Kritik einhellig ihren Frankfurter Parsifal (mit Gielen am Pult und Axel Manthey als Ausstatter) als die eigentliche Jahrhundert-Premiere des Bühnenweihfestspiels feierte. Dass fast keine ihrer Arbeiten, außer etwa dem szenisch doch eher überanstrengten Wiener Schubert-Fierrabras (mit Claudio Abbado), in Bildschirmproduktionen festgehalten wurde – ein Armutszeugnis der zuständigen TV-Redaktionen.

Auch wenn Ruth Berghaus sich gern auf Gustav Mahler und dessen Wiener Musiktheaterreform berief, auf Klemperer und seine Krolloper und teilweise sogar auf Felsenstein – keiner im 20.Jahrhundert hat das Musiktheater so umgekrempelt wie sie. Und sie war sich dessen sehr wohl bewusst. Immer waren ihre Lesarten ganz neuartig. Immer waren die Erfolge ihre Erfolge. Aber immer brauchte sie dazu ein Team, ein ergebenes und eines, das Widerspruch herausforderte. Mit Ruth Berghaus zu arbeiten, war ein ungemein kreativer Prozess – aber zumal in den Endproben Nerven zerreibend.

Die Faszination ihrer Arbeiten schwand bei vielen Beobachtern, zumal nach der Wende, als sie auch wieder mit Schauspiel begann. Als zu "anstrengend" wurde ihr Theater nun befunden. Dass mit ihrem Tod ein Kraftwerk erloschen war, vielleicht auch mit ihr und dem kurz zuvor gestorbenen Heiner Müller eine Epoche zu Ende ging, konnte man dennoch ahnen. Der sterbende Schwan durchzog immer wieder ihre späten Arbeiten; besonders eindrucksvoll neben dem Orpheus-Ballett auch in Lohengrin und Fledermaus. Für sie war es Erinnerung an ein nicht gelebtes Leben, aber auch Metapher für ein langsames Sterben von Bühnenkunst, wie sie sie verstand: eine, die mehr ist als Unterhaltung und Zeitvertreib, nämlich „große Form“, die den Zuschauer fordert und fördert. Eine vergebliche Rebellion?


Unter dem Titel
Regie: Ruth Berghaus - Geschichten aus der Produktion

erschien im August 2010 ein von Irene Bazinger im Rotbuch-Verlag herausgegebenes Buch mit Beiträgen ehemaliger Mitarbeiter und Weggefährten von Ruth Berghaus.
Lesenswerte Nahaufnahmen sind das mit Beiträgen u.a. von Achim Feyer, Anja Silja, Catarina Ligendza, HD Schaal, Marie-Luise Strandt, Arila Siegert, Sebastian Baumgarten, Jürgen Flimm, Hans Neuenfels, Erich Wonder.
(ISBN 978-3-86789-117-2)