Die Neurosen der Familie Wagner
- beim Richard-Stammhalter Siegfried sind sie wie im
Gewächshaus gehütet. Alles im Angebot: das
misshandelte, vernachlässigte oder verzärtelte
Kind, der von Häschern verfolgte Outlaw wie Kimble
auf der ewigen Flucht, die Ablenkungsmanöver mit
Verkleidungsaktionen oder falschem Bühnenzauber, das
Sich-abhängig-Machen von korrupten Politikern, der
Kampf mit der Scheinheiligkeit der Kirchen und ihrer
Amts- und Würdenträger.
Siegfried Wagners
vierte Oper Bruder Lustig [op.4] entstand 1903/05.
Der Titel ist eine doppelte Irreführung. Mit der
Gebrüder-Grimm-Märe hat er nichts zu tun. Es geht um
einen vom Kaiser Otto für vogelfrei erklärten Wildfang.
Der hat in Selbstjustiz einen kaiserlichen Kofferträger
erschlagen, als der ein Kind misshandelte. Um sich frei
zu pressen hat er den Kaiser am heiligen Bart gepackt und
ihn seine Manneswürde abzuschneiden gedroht. Und auch
wenn Lustig vom Kaiser am Ende zum neuen Rechtsverweser
erklärt wird - so "lustig" ist das (nach Gang
zu den Hexen, Flucht in die Kirche und
gotteslästerlicher Vereinigung mit einer Frau) ganz und
gar nicht mit einer Massenvergewaltigung der Mädchen
durch kaiserliche Soldaten. Die Abfuhr angestauter
Aggressionen als Mischung aus Venusberg und Meistersinger-Prügelorgie
zeigt auch etwas von der Wilhelminischen Hysterie, der
Siegfried stets in seine privaten Nischen zu entweichen
versuchte. Das diese Szene bei einer Aufführung des
Werks 1944 unter dem verbrämenden Titel Andreasnacht
in der Regie des jungen Wieland Wagner an der Berliner
Staatsoper gestrichen wurde - die Rollen zwischen
Vergewaltigern und Vergewaltigten begannen sich da zu
verkehren -, eine interessante Beobachtung. Wie tief
Siegfried Wagner selbst noch kompositorisch in den
väterlichen Puschen steckte und unter der Fuchtel der
gestrengen Cosima-Ma litt, zeigt seine Musik: Plötzlich
wähnt man sich da in einer Szene wie Parsifal bei den
Blumenmädchen, verstrickt in einen Hexenzauber, den
"Frau Urme", eine Mischung aus Kundry und
Cosima, für ihn aufbereitet. Oder man denkt sich ihn zur
Besinnung gerufen von Brünnhilde, als sei er schon ganz
vom Trank des Vergessens benebelt. Fluchtszenen wie in Walküre
wechseln mit Verwünschungen wie aus Lohengrin
oder Zerknirschungen des büßenden Tannhäuser.
Auch der schrullige Beckmesser-Bänkelsang der Meistersinger
klingt auf in einer Ballade der Urme. Aber immer schwebt
das zwischen ironisierenden Brechungen und ernstem hohen
Ton.
Die etwas krause
autobiografisch gefärbte und mittelalterliche
drapierte Szene an ein heutiges Publikum
heranzuholen, bedürfte es einer
blitzend-hochvirtuosen, ausgepicht anspielungsreichen
Regie. Bei dem Neuversuch in Hagen - mit dem
Siegfried-Wagner-Forscher
und Dramaturgen Peter Pachl als spiritus rector - ist das im
Arrangement von Renate Liedtke-Fritzsch aber leider
nicht geglückt. Allzu brav, buchstabengetreu hangelt
die Regie-Novizin sich am Text entlang. Ansätze für
Figuren-Profile versanden schnell im Konventionellen
oder wirken unfreiwillig komisch. Die
Sänger-Darsteller spielen sich selbst. Die
Ausstattung von A.Christian Steiof mit ihrem
schwarzen Gewinkel und Treppauf-Treppab schafft auch
nicht das Ambiente für ein assoziationsreiches
Vexierspiel. Immerhin musikalisch ist das höchst
achtbar gelungen. Vor allem Volker Thies als
jugendlicher Ausbrecher Heinrich von Kempten, genannt
"Bruder Lustig", kann aufwarten mit einem
biegsamen Organ. Die ihm Unterschlupf gewährende
junge Frau mit dem sprechenden Namen
"Walburg", die aber wie eine Elisabeth
später seiner entsagen will, ist von Dagmar Hesse
mit einem leuchtenden Sopran ausgestattet.
Bemerkenswert auch die Urme von Schirin Partowi als
bunter Hexenvogel mit freilich etwas zu viel
Brimborium und Gefuchtel um sich herum. Georg
Fritzsch am Pult kann immer wieder, zumal in den
orchestralen Vor- und Zwischenspielen plastisch etwas
vermitteln von den Versuchen Siegfried Wagners,
kompositorisch auf die eigenen Füße zu kommen.
Bedenkt man aber, dass im selben Jahr 1905 Bruder
Lustig (in Hamburg) und (des zweiten Richard)
Strauss' Salome (die Schwester Lustig
sozusagen in Dresden) das Bühnenlicht erblickten,
sieht man auch den himmelweiten Abstand der beiden
Richard-Thronfolger.
Freiberg in Sachsen, die Berg- und
Universitätsstadt zwischen Dresden und Chemnitz,
birgt in ihren Mauern nicht nur den berühmten Dom
mit einer der schönsten Silbermann-Orgel,
gebaut 1714. Es nennt auch das "älteste
deutsche Stadttheater" sein eigen. 1790 wurde es
eröffnet. Carl Maria von Webers Das stumme
Waldmännchen, später umgearbeitet zu Silvana,
wurde hier uraufgeführt. Es ist ein schmuckes
300-Plätze-Rangtheater, im Verbund betrieben heute
mit Döbeln. Seitdem Ingolf Huhn, Schüler einst von
Ruth Berghaus,
hier als Intendant residiert hat man immer wieder auf
die Neuerprobung von Spielopern des 19.Jahrhunderts
sich kapriziert. Lortzings Hans Sachs oder den
zu seinen Zeiten vielberühmten Trompeter von
Säckingen hat man hier wieder aufgeführt. Nun
des umstrittenen Hans Pfitzner Christ-Elflein,
gekoppelt mit einem kleinen Symposium.
Der
sächsische NS-Reichsstatthalter Mutschmann hielt das
für "religiöse Propaganda" und wollte das
Werk verbieten bei einer 1941 geplanten Aufführung in
Dresden. Der polnische "Generalgouverneur"
Frank hingegen, Pfitzner in Bewunderung verbunden, lud
ihn noch 1944 nach Krakau ein zu einer dann bejubelten
Aufführung des Christ-Elflein. Hans Pfitzner, der
Musikgeschichte des 20.Jahrhunderts umstrittenster
Exponent. Eichendorff, E.T.A. Hoffmann, Marschner und
Schumann galt seine besondere künstlerische Liebe,
Gustav Mahler, Bruno Walter und anfangs auch Thomas Mann
seine Dankbarkeit und Bewunderung. Gegen Busoni legte er
sich kämpferisch ins Zeug und witterte allüberall Futuristengefahr.
Schwer ihn einzuordnen. Er provozierte Streit und zog
viel Streit, ja Verachtung auf sich. Christ-Elflein
ist Pfitzners drittes Bühnenwerk. 1906 wurde es von Felix
Mottl in München uraufgeführt zunächst als
wenig erfolgreiches Melodram, genannt
"Liederspiel"; 1917, im Jahr der Palestrina-Uraufführung
und der Anti-Busoni-Schrift noch mal umgearbeitet von
Pfitzner, nun als "Spieloper", und in Dresden
uraufgeführt; nach 1945 so gut wie vergessen. Zu Recht?
Seit Ingolf Huhn als Intendant am Mittelsächsischen Theater Freiberg-Döbeln residiert, hat man sich dort immer wieder auch an Ausgrabungen versucht.
Die Story scheint reichlich verquast. Naturliebe und weihnachtliche Friedensbotschaft will sie ineinander verquicken. Frieder, der Zweifler, soll für seine todkranke Schwester Trudchen am Weihnachtsabend den Arzt holen. Im Wald begegnet er wieder mal dem Elfchen. Das wundert sich, was die Menschen am Weihnachtstag so Merkwürdiges treiben. Glocken lassen sie bimmeln, Bäumchen hacken sie in Kompaniestärke. Auch das Christkindchen ist diesmal unterwegs. Dem kranken Trudchen will es selbst den Weihnachtsbaum bringen. Die anderen Bäume sind deshalb mit einer Hack-Sperre geschützt. Aber auch Wünsche nimmt das Christkindchen entgegen. Frieder wünscht sich denn auch eine wiedergesundende Schwester - wofür er Gläubigkeit in Aussicht stellt. Das Elflein, das von allen immer alles wissen will, möchte nun auch noch den Himmel durchstöbern. Die Wünsche werden erfüllt. Und damit der Tannengreis, eine Art Ökowall- oder Waldvater, nicht ganz so alleine bleibt, wird aus dem Wald- ein Christ-Elflein, das alle Jahre wieder zu Besuch kommen darf hernieder auf Erden. Heikelster Weihnachtsgast, und in dieser Form erst in der zweiten Fassung aus dem Kriegsjahr 1917 zu der heiligen Familie gestoßen, ist Knecht Ruprecht. Als eine Art Kriegsheimkehrer erklärt er im musikalischen Gewand des Wagnerschen Hans Sachs den Menschen die deutsche Weihnacht und den zum Einschlag erlaubten Tannebaum als sozusagen "Leit-Kultur".
Was fasziniert an diesem seltsamen Stück, ist die in gleichsam naivem Glanz strahlende Musik - zwischen Wagnerschem Siegfried-, Rheintöchter- und Parsifal-Idiom, Mendelssohnschem Elfen-, Hoffmannschen Undinen- und Lortzingschem Buffo-Ton. Eine "Spieloper", die etwa Rudolf Stephan in seinen Anmerkungen beim Symposion, als "mittlere" Gattung rubrizierte, scheint es allerdings nur bedingt. Und so plädierte denn etwa Peter Paul Pachl in seinem Referat für die frühe Melodram-Fassung als die "ehrlichere". Nachvollziehbar ist an dieser mit großem Elan auf die Bühne gebrachten, um äußerste "Werktreue" bemühten Freiberger Aufführung der heftige Widerspruch, den dies Stück - zumal auch während des 2.Weltkriegs - auslösen musste und heute auslösen dürfte. Dass es sich gegen Humperdincks "harmlosere" Hänsel und Gretel als Kinder-Weihnachtsoper letztlich nicht behaupten konnte, liegt wohl zumal an dem philosophischen Überbau, der nicht jedermanns Geschmack sein dürfte. Kaum integrierbar scheint es in einen regulären Spielbetrieb heute, es sei denn in einer gleichsam Marthalerschen Form absurden Theaters. Es ist gleichwohl, wie Pfitzner selbst auch meinte, seine wohl interessanteste, vieldeutigste, facettenreichste Musik. Dankbar war das Freiberger Publikum für die von Christoph Sandmann mit viel Einfühlungsvermögen geleitete Aufführung, die sängerischen Leistungen zumal von Uta Simone als Elflein und des auch ins Spiel-Geschehen stark einbezogenen örtlichen Knabenchors. Für Raritäten-Fans ist diese Produktion eine Erkundungsreise wert.
Eine Revolte ist eine Revolte ist
eine Revolte. Oder wie die zeitgenössischen
Beobachter urteilten: Ein Platzregen im Sommer,
schnell wieder verdampft. Und, könnten wir aus
neuerer Sicht ergänzen, der Revolution schmeckte es
schon damals beim Fressen ihrer eigenen Kinder. Im
Sommer 1647 war das in Neapel. Um eine neue Brot- und
Früchte-Steuer ging es den Empörern damals in der nea
polis, der neuen Stadt, unterm Vesuv.
Der spanische Vize-König hatte die neue Abgabe
erhoben. Die Aufständischen pochten auf ihre einst
von Kaiser Karl V verbrieften
Privilegien: Freiheit von allen Steuern auf ewig.
Masaniello, ein feuerköpfiger Fischhändler, schwang
sich auf zum Anführer der Revoltierer.
Der Veroperung des bald
schon berühmten Stoffs durch François Esprit Auber 1828
verdankt sich die erste Grand Opéra,
ein "Bombenerfolg" mit spektakulären
Massenszenen, Hochzeitszügen und Kampfgetümmel. In
dieser Stummen von Portici (La Muette de
Portici) spuckt am Ende der Vulkan, lässt die Stadt
verglühen unter der Lava. Nach einer Aufführung der
Oper in Brüssel gingen die Leute gar spontan auf die
Straße, erkämpften die Loslösung Belgiens von den
Niederlanden. In dem "Musikalischen
Schauspiel", das der
Händel-Zeitgenosse
Reinhard Keiser und sein Librettist Barthold
Feind über die Historie 1706 fertigten, ist am
Ende wenigstens die gottgewollte Ordnung repariert, Recht
und Unrecht wieder säuberlich sortiert in der richtigen
Schublade.
Das Grollen von Pauken
& Trompeten untermalte freilich ein Grummeln in
der Stadt, deren Oper Keiser damals regierte:
Hamburg. Ein Prediger der Petrikirche (Christian
Krumbholtz) pflegte dort jahrelang gegen die
Stadtoberen zu wettern. Eine stattliche, wie es
heißt auch gewaltbereite Anhängerschaft konnte er
um sich scharen - bis man ihn des Amtes enthob und
ihm den Prozess machte, ein Jahr nach der
Keiser-Oper. Als Zeitstück, als Versuch des damals
berühmtesten deutschen Opernkomponisten und seiner
ersten Bürger-Oper am Gänsemarkt, loszukommen von
den immer gleichen mythologischen Stoffen mit ihren
endlosen Verwicklungen, darf man dies Stück werten.
Revolution und Oper - erst bei Richard Wagner
hatte dies dann wieder Konjunktur, wenn man von Lortzings
unglücklicher Regina absieht.
Brav verpackt ist Keisers Masaniello
furioso oder Die Neapolitanische Fischer-Empörung,
wie das Werk heißt, denn auch noch in ein zeitübliches
Gespinst von Liebes-Intrigen der Adelskaste: Sex and
Crime, das Feuer der Straße und das Feuer der Herzen als
Plot; die Verderbtheit des Blutes und der Adel der Seele
als Neben-Kriegsschauplatz. Am Ende ist zumindest die
Etikette wieder vergipst, die Oberfläche gepudert. In
den wilden End-Sechziger-Jahren versuchte man sich an dem
Stück mal in der DDR, ohne tieferreichende Folgen. Jetzt
hat die Stuttgarter Oper eine in der
Württembergischen Staatsbibliothek aufgefundene
Abschrift des Werks neu rekonstruiert. In Stuttgart hatte
Keiser einst, nach seiner Hamburger Zeit, bei Hofe als
Kapellmeister sich beworben. Mit diesem Stück? Oder
prüften anhand dieses Werks die Hofbeamten des Bewerbers
Gesinnung?
Der heute leider fast
vergessene Theater-Komponist Keiser jedenfalls
erweist sich auch in diesem Masaniello als
sehr viel "moderner", zeitnäher denn sein
heute berühmterer Kollege Händel. Sehr viel
"theaternäher", dramatischer ist Keisers
Umgang mit den Texten. Umstandslos mischt er deutsche
Rezitativ-Texte mit italienischen, gar französischen
für die Arien der Adelsclique. Auch musikalisch sind
die diversen Stile unvermischt gleichsam als
Original-Ton-Reportage neben einander gestellt. In
meist äußerst kurzen, gleichsam atemlosen Ariosi
schleudert Masaniello seine Rache-Koloraturen heraus.
Als "Wilder" ist der gezeichnet. Immer
singt er deutsch. Und wenn er für sieben Tage die
Macht erobert hat und nicht mehr mit Fischen um sich
werfen muss, verleiht Keiser ihm auch die
musikalischen Insignien der Macht.
Als eine Art Nero vom
Fischmarkt, der mit seiner Putztruppe durch die
Bodenplanken in die gute Stube der Herrschenden bricht,
zeichnet ihn der Regisseur der Stuttgarter Neuerprobung Tilman
Knabe. Wie ein oratorisches Stilleben in einem
mönchischen Refektorium beginnt die Aufführung - und
endet dann auch wieder so. Aus dem Einheitsbühnenbild
von Alfred Peter quellen die
Lebensmittel, die die Reichen gehortet haben. Von den
Sockeln werden die Statuetten ihrer Ebenbilder gestoßen,
die Köpfe abgebissen. Doch mit seiner plötzlich
gewonnenen Macht kommt dieser einfache Fischer und
Fischhändler nicht klar, das Ränkespiel um ihn herum
erkennt er nicht, verdämmert in seiner Imperatoren-Toga
im geistigen Halbschlaf. Von einem Mitverschwörer,
Überläufer und Verräter, der sich vom Vizekönig
kaufen lässt, wird Masaniello schließlich exekutiert.
Musikalisch sind es vor
allem die sehrenden Liebesarien in zarten
Pastell-Tönen, die diese Oper würzen. Allerdings
ist dieser Masaniello daran weit weniger reich
als der etwas später entstandene Croesus, den
René Jacobs 1999 an der Berliner
Staatsoper bravourös erprobte. Auch musikalisch kann
die von Alessandro de Marchi (einem
Jacobs-Schüler) am Pult des hochgefahrenen
Stuttgarter Staatsorchesters mit erkennbarem Feinsinn
gesteuerte Aufführung mit der damaligen Berliner Croesus-Produktion,
inzwischen auf CD eingespielt, kaum sich messen. Von
den Sängern erreicht einzig Simone Nold
als Marquise Mariane, eine von den Aufrührern
Verschleppte und fast zu Tode Gefolterte, die nötige
stimmliche Biegsamkeit, während Hernan
Iturralde in der Titelpartie doch immerhin
an darstellerischer Impulsivität einiges mitbringt.
Dass der mehr als
dreistündige Abend dann doch aber etwas lang wird, liegt
zum einen an den das eigentliche Geschehen allzu sehr
überwuchernden Liebes-Intrigen. Ein beherzterer Schnitt
ins Geflecht hätte hier gut getan. Zum anderen aber
liegt es an einer Regie, die keine inneren Vorgänge
zu gestalten vermag, die zwischen Aktionismus der
Revoltierenden und gespreiztem Posieren der Adelsbesitzer
keine szenische Sprache findet - außer wie in der
Krabbelkiste an Materialschlachten sich zu geilen. Die Stuttgarter
Dramaturgie hat mithin durchaus ihre Grenzen.
Gleichwohl großer Jubel im (zum dritten Mal ja) "Opernhaus
des Jahres". Verständigungsprobleme gibt
es nicht: Alle Texte, auch die deutschen Rezitative,
werden als Übertitel projiziert. Eine auch für
"geläufigere Opern" durchaus nachahmenswerte
Lösung.
Goldgerahmt ist das Bühnenportal. Am
Bühnenhintergrund sieht man Fotos einer hügeligen
Ideallandschaft: grüne Wiesen und Felder mit endlos
Mais, Weizen, Soja. Ein Spielzeug-Holzhaus mit
Veranda schwebt in der Luft. Ein Kind spielt mit
einem rosa Aufzieh-Schwein.
The Tender Land (Das behütete Land) ist
Aaron Coplands einzige große Oper. Entstanden ist
sie ab 1950, als auch Copland, die wohl schillerndste
Figur der amerikanischen Musikszene des
20.Jahrhunderts, in die Mühlen des Ausschusses von
Senator Joseph McCarthy geriet.
Aaron Copland,
1900 in New York geboren in einer Familie
jüdischer Einwanderer aus den polnisch-litauischen
Gebieten Russlands, Anlaufadresse für alle
Emigranten, engagierte sich früh für eine dezidiert
"amerikanische" Musik, auch wenn er, wie er
später zugab, nicht so recht wusste, was das
eigentlich sein könnte: amerikanische Musik -
es sei denn eine Musik, die stammt von im Land
Verwurzelten.
Während seines Studienaufenthalts in den Zwanziger Jahren in
Frankreich hatte er bei Nadia Boulanger
den Stolz der Franzosen auf ihre Musikkultur kennen
gelernt. So was wollte er auch in Amerika. Zunächst
experimentierte er mit einer Adaptation von
Jazz-Rhythmen, später mit Einbeziehung amerikanischer
Folk-Tunes. El Salon Mexico, die Ballette Billy
the Kid, Rodeo oder Appalachian Spring,
eine Musik für die
Martha Graham Dance Company, gehören
zu seinen bekanntesten Werken. In den Dreißiger Jahren
politisch engagiert auf Seiten der Linken, lehrte er an
der berühmten New School of Social Research und lenkte
den amerikanischen Komponistenverband. Mit Serge
Koussevitzky baute er das Berkshire Music Center
in Tanglewood
aus zu Amerikas führendem Festival neuer Musik. Ab 1951
gab er Vorträge über "amerikanische Musik" an
der Harvard University. The Tender Land ist so
etwas wie der Traum vom "Amerikanischen Traum",
die Beschwörung des "guten" amerikanischen
Lebens, eine Postkarten-Idylle wie aus dem Bilderbuch,
aber mit Rissen. Uraufgeführt 1954 in New York, spiegelt
die Oper etwas von jener Atmosphäre, als ganz Amerika
seiner Wurzeln sich zu vergewissern suchte. Das Libretto
evoziert den Mythos einer heilen Welt auf dem Lande mit
Nadel, Faden, Kochen, Sticken für die Mädchen, Sähen,
Ernten, Pflanzen, Bauen für die Jungs. Doch die
Horizonte weiten sich. Zwei Wanderarbeiter kommen auf die
Farm im Mittleren Westen. Laurie, die älteste Tochter,
durfte als erste zur High School. Morgen soll sie ihr
Abitur-Zeugnis bekommen. Sie verliebt sich in einen der
Jungs, Martin, und will mit ihm weg. Aber Großvater Moss
hält sie fest. Tief ist sein Misstrauen gegenüber
Fremden. Auf der Mist-Schiebkarre hat er auch immer die
Knarre griffbereit. Martin merkt, als mittelloser Fremder
wird er hier nie sesshaft werden. Mit seinem Kumpel macht
er sich aus dem Staub. Laurie versucht ihm zu folgen -
allein.
Hermann Schmidt-Rahmer, der Regisseur dieser
deutschen Erstaufführung von Coplands Behütetem
Land am Theater Nordhausen, lässt die Oper aus
der Perspektive einer Figur am Bühnenrand erzählen;
die könnte ein Komponist, ein Autor, ein Regisseur
sein. Anfangs wird sie zitiert vor den
McCarthy-Ausschuss für Unamerikanische Aktivitäten,
als Martin "springt" sie immer wieder in
die Handlung. In der Figur des Martin, der hier
endlich wurzeln will, Anerkennung sucht, aber dem
dies verwehrt bleibt, spiegelt Copland sich wohl
selbst. Um ein Kunstwerk zu schaffen, schrieb der
einmal, müsse er "den tiefen Glauben haben,
dass die Welt und das Leben, wie ich es lebe,
letztendlich gut sind. Negative Gefühle können
keine Kunst hervorbringen." Ganz bewusst auf
populäre, eingängige Melodien mit auch
choralartigen Hymnen setzt Coplands Musik.
Manches
klingt wie Filmmusik, manches wie Folk Dance, manches wie die
Frühformen von Minimalmusic, wenn das gute
amerikanische Gewissen - hier mit Kinderwagen und
Mistgabeln - zum Erntefest aufmarschiert. Immer
ängstigte sich Copland, der 90 Jahre alt wurde, als
elitär zu gelten; immer sehnte er sich, als
Komponist Teil einer Gesellschaft zu sein, die auch
für ihn sich interessierte. Zum Entsetzen mancher
Freunde wie
Leonard Bernstein versuchte er sich ab den Fünfziger Jahren
kompositorisch dann aber auch mit Arnold
Schönbergs Zwölfton-Methode, bevor er mit
70 das Komponieren ganz aufgab und nur noch die lang
ersehnten Ehrungen erntete.
The Tender Land
zeigt gewisse Ähnlichkeiten zu anderen in jener Zeit
entstandenen Werken wie etwa Kurt Weills
Down in The Valley oder
Love Life
oder Carlisle Floyds Susannah,
1997 mal herausgebracht an der Deutschen Oper Berlin. Die
Nordhäuser Inszenierung in der pointierenden Ausstattung
von Herbert Neubecker und Michael
Sieberock-Serafimowitsch und mit einem durchweg
guten Ensemble, voran Brigitte Roth als
Laurie Moss und Pere Llompart als
Martin, wird engagiert am Pult geleitet von Stefan
Ottersbach. Die
Interpretation verdeutlicht durchaus Parallelen zu heute
in einer latent fremdenfeindlichen Umwelt und ihrem Traum
von der Idylle. Eine überfällige Entdeckung.
Längst nicht mehr nur ein touristischer
Geheimtipp ist die alte Tuchmacherstadt an der Lausitzer Neiße mit ihren Gassen und Plätzen.
Die in DDR-Zeiten verblassten Pracht-Fassaden ihrer Patrizierhäuser vom Mittelalter bis
zur Gründerzeit haben wieder Farbe und Kontur gewonnen, die Kirchen
werden restauriert. Auch dem 150 Jahre alten Theater wollte man eine
Verjüngungskur angedeihen lassen. Mit in neuem Glanz gestaltetem
Zuschauerraum sollte das Schmuckstück nun mit einer Uraufführung
wieder eröffnet werden. Bei Jan Müller-Wieland, Schüler einst
von Friedhelm Döhl und Hans
Werner Henze, wurde eine neue Oper bestellt. Die Uraufführung kam
punktgenau zustande. Mit der Rekonstruktion wird es noch etwas dauern.
Man spielt auf dem als Spielfläche überbauten Orchestergraben. Das
Publikum ist - die Wirkung fast steigernd - platziert auf Podien in
der eigentlichen Hinterbühne.
Nathans
Tod ist Müller-Wielands siebente Oper. Dass die Stoff-Wahl auf das
alte Lessing-Sujet von der Toleranz der Religionen fiel, hat zum einen
mit der Tradition des Hauses zu tun. Mit Schillers Don Carlos
wurde es einst eröffnet. Mit der Oper wollte man auch der Frage
nachgehen, was denn geworden ist aus dem
Schillersch-Lessingschen Toleranz-Edikt von Religions- und
Gedanken-Freiheit. Aktuell gerade jetzt. Und zumal Müller-Wieland,
nochmals leicht verändert, eine Adaptation von
George Tabori benutzt, die dieser 1991
schrieb anstelle einer für die Kammerspiele geplanten Inszenierung des
Lessing-Textes. Lediglich Nathan ist da noch ein unverbesserlicher
Träumer, macht sich Illusionen. Sein Gleichnis von den drei Ringen als
dem friedlichen Nebeneinander der drei Religionen wird aber zur bloßen
Mär. Die Aufklärung ist schachmatt gesetzt. Nathan stirbt wie schon
seine Tochter, deren Kleider er anfangs aus einem brennenden Haus
gerettet hat.
Um das Thema zuzuspitzen, werden von Regisseur Klaus Arauner
alle sechs Personen in eine Art Gefängnis eingesperrt. Wie zu einem Tribunal, einem Endspiel.
Neben Nathan ist da der stets Schach spielende und fröhlich Schampus
trinkende Sultan Saladin, der von Nathan immer mal wieder Geld für die
Kriegskasse einsackt, Al-Hafi sein Schatzmeister, ein kieksiger ehemaliger
Bettelmönch und Derwisch, Sittah, seine
Schwester an der Bar, die als Dame Salome auch schon gern auf Nathans
erotische Anfragen reagieren würde und mit ihm im Tode wenigstens sich
vereint. Und als die Vertreter der beiden anderen Religionen gibt's da
noch den bulligen Tempelherren, der auch schon mal über die eigenen
Hürden springt, und den zugeknöpften Patriarchen. Musikalisch und
optisch am stärksten ist die Schlussszene. Die "Überlebenden" stürmen
da von der Bühne ins Publikum, versuchen wenigstens ihm noch die
einstige Botschaft hautnah zu bringen.
Das in Brahms-Stärke agierende Orchester hat Müller-Wieland für die
Dialoge weitgehend ausgedünnt. Strawinskys Rake
und vor allem Monteverdi waren ihm hier
Vorbild. Textverständlichkeit ist garantiert mit auch ironischen
Anspielungen, wenn etwa Saladin oder Al-Hafi
in jiddischem Bänkelsang sich versuchen. Lediglich in den die Szenen
bruchlos trennenden Zwischenspielen lässt Müller-Wieland den Apparat
voll brummen. Eindrucksvoll die musikalisch-dramatische Umsetzung
unter Christof Escher zumal mit großartigen Matteo de Monti
in der Titelpartie. Klaus Arauners verdichtende Regie versucht über manchen
Spannungsabfall, bedingt auch
durch die langen monologischen Einschübe, hinweg zu helfen, was nicht
immer gelingt. Viel Beifall am Ende der mit Pause gut zwei Stunden
dauernden Aufführung. Und für das Theater, das mit mancherlei
Schulprojekten das Thema auch einem jüngeren Publikum näher zu bringen
sucht, ein gelungener Kraftakt.