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Auserwählt in der Wüste

Arnold Schönbergs Oper
„Moses und Aron“,
szenisch uraufgeführt
in Zürich vor 50 Jahren

06.06.2007

Schoenberg in seinem "Paradies"Der Teil aus Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“, der zuerst erklang und auch am berühmtesten blieb, war „Der Tanz ums Goldene Kalb“. Hermann Scherchen, langjähriger Freund und Förderer neuer Musik, dirigierte das Stück Anfang Juli 1951 zu den Darmstädter Ferienkursen. Wenige Tage später, am 13. Juli, starb Schönberg 76-jährig in Los Angeles. Seit 1934 lebte er dort im Exil, „vertrieben ins Paradies“, wie er seine neue Heimat ironisch pries. Ein „Paradies“ war das Heim der Familie in Hollywood zwar klimatisch; Schönberg kränkelte. Alles andere als paradiesisch aber waren seine Arbeits-Möglichkeiten dort. Zunächst bekam er einen Job an der Southern University of California, dann einen etwas besser dotierten an der UCLA, der Nachbar-Hochschule in Berkeley, wo gerade ein Music Department aufgebaut wird. Aber Schönberg klagt über den „Brotneid“ der Kollegen, der hier „heftiger wütet“ als in Europa. Und über die Studenten, die er zu unterrichten hat, notiert er:

SCHÖNBERG: Leider sind [sie] … so ungenügend vorbereitet, dass ich etwas so Überflüssiges zu tun habe wie Einstein, wenn er in einer Mittelschule Mathematik zu unterrichten hätte.

Zur Weiterarbeit an seiner noch unvollendeten Oper „Moses und Aron“ drängt ihn wenig; die Oper bleibt auch Torso. Und als Scherchen 1950 bittet, wenigstens den „Tanz ums Goldene Kalb“ aufführen zu dürfen, ängstigt er sich wegen der McCarthy-Hysterie. Scherchen ist bekennender Linker; so lässt Schönberg in Washington erst erkunden, ob gegen den Dirigenten etwas vorliege. Entschuldigend schreibt er ihm:

SCHÖNBERG: Sie müssen verstehen, dass heute, wo wir eigentlich im Kriegsstand stehen, jede leiseste Spur … mindestens zu unangenehmen Untersuchungen führen kann.

Schoenberg komponiertMit Skizzen zu der Oper hatte Schönberg bereits 1928 in Deutschland begonnen. Er spürt die drohenden politischen Veränderungen, will zurück zu seinen Wurzeln. Die beiden ersten Akte – Moses‘ Berufung in der Wüste und den Tanz ums Goldene Kalb – komponiert er im Tessin und in Spanien. Zuhause machen ihn die braunen Aufmärsche depressiv. Bei der Sitzung der Preußischen Akademie der Künste im März ’33 erkennt er, er muss gehen. Und er geht zunächst nach Paris, tritt wieder ein in die jüdische Gemeinde, will für eine „Alljüdische Bewegung“ kämpfen. Ein geplanter Kongress in Boston bringt ihn mit der Familie nach Amerika. Sie bleiben. Das raue Ostküstenklima lässt Schönberg dann weiter wandern nach Westen.

Konzertant wird „Moses und Aron“ 1954 in Hamburg erstaufgeführt. Der Dirigent ist Hans Rosbaud, der drei Jahre später, am 06. Juni 1957, auch die Zürcher szenische Uraufführung leitet. Die Rolle des Moses ist als Sprechgesang angelegt. Die Schwierigkeiten insgesamt sind gleichwohl immens. Rosbaud erinnert sich, dass er Schönberg 1931 danach fragte und der ihm antwortete:

ROSBAUD: Da ich in den nächsten Dezennien gar keine Möglichkeit sehe, dass dieses Werk überhaupt aufgeführt wird, habe ich mir hinsichtlich der Schwierigkeiten gar keine Reserven auferlegt.

Schoenebrg 1950Den dritten Akt lässt Schönberg unkomponiert. Der Einzug des auserwählten Volks ins Gelobte Land bereitet ihm Kopfzerbrechen. Immer wieder tüftelt er am Libretto. Und liest man nach in der Bibel, versteht man des Komponisten Zweifel: Der Weg durch die Wüste war ein Fegefeuer, blutig.

Inszenierte man das in Zürich noch ganz „textgetreu“, haben jüngere Produktionen die Sicht geweitet. Ruth Berghaus zweigte Parallelen zur DDR-Geschichte: ein Volk will heraus aus seinen Höhlen. George Tabori verknüpfte das Werk mit dem Holocaust. Peter Konwitschny interpretierte Moses‘ Gesetzgebung als Schnapsidee eines Hirten in der Wüste. Jossi Wieler verlegte den Bruder-Streit um den wahren Gott ins Parlament.

Ein Wagnis wäre, „Moses und Aron“ aus der nahöstlichen Wirklichkeit von heute zu interpretieren. Schönberg selbst hielt ja zum neuen Israel auf Distanz.


Das Gewissen
des Kunstwerks

Arturo Toscanini zum 50.Todestag

16.Jan. 2007

Arturo ToscaniniLeidenschaft, Schmerz, Enthusiasmus fordert der Maestro von seinen NBC-Musikern. Ob sie ihn für verrückt halten? Nein, er sei nur besonders sensitiv. Seinen Dirigentenstab hat er diesmal nicht zertrümmert oder zerbissen, keine Verwünschungen oder Noten in den Raum geschleudert. Und einfach vom Podium verschwunden ist er auch nicht.

Geboren wurde Arturo Toscanini 1867 in Parma. Der Vater war Schneider, glühender Anhänger Garibaldis, antiklerikal. Der nationale Eifer übertrug sich auf den Sohn. Im Ersten Weltkrieg heizte er den Soldaten ein mit einer Militärkapelle. Mit neun Jahren kam Toscanini ans Konservatorium. Schon dort fiel er auf durch eiserne Disziplin und eine stupende Merkfähigkeit. Mit 19 dirigierte er seine erste Oper, „Aida“, in Rio. Mit einer kleinen Operntruppe war er als Chorleiter unterwegs zu einer Tournee in Südamerika. Als der Dirigent abtauchte, drängte man ihn ans Pult. Es war sein erster Triumph.

Schon da hatte er 50 Opern auswendig im Kopf. Immer wieder, ob in New York oder in Bayreuth, verblüffte er später die Orchester damit, dass er die kleinsten Druckfehler in den Stimmen korrigierte. Über Provinz-Theater und Turin führte der Weg 1898 erstmals an die Scala. Wie überall, wo er hinkam, krempelte er auch die Mailänder Mutter aller Opernhäuser so um, dass Höchstleistungen möglich waren. Unfähige und faule Musiker wurden gefeuert, Sängermarotten gebrochen. Wiederholungen beliebter Arien verweigerte er. Von der Regie bis zur Beleuchtung kontrollierte er alles.

Gleich die zweite Premiere, Bellinis „Norma“, ließ er nach der Generalprobe platzen. Sie genügte nicht seinen Ansprüchen. Ähnlich rigoros räumte er auf an der New Yorker Met ab 1908: gegen Widerstände, aber mit glänzendem Erfolg.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann er wieder an der Scala, brachte dort 1926 Puccinis nachgelassene „Turandot“ heraus. Schon vorher hatte er dessen „Bohème“ und „Fanciulla del West“ uraufgeführt. Viele Werke setzte er in Italien durch, insbesondere von Wagner (zumal den „Ring“, „Tristan“, „Parsifal“ und immer wieder die „Meistersinger“), von Strauss die „Salome“, um die ein kurioser Erstlingsstreit entbrannte, von Mussorgsky den „Boris“ oder von Debussy den „Pelléas“. Sein Abgott allerdings blieb der späte Verdi.

1928 wechselte er erneut nach Amerika, nun ans New York Philharmonic, dann an das eigens für ihn erweiterte NBC-Orchestra. Anfangs Anhänger der Mussolini-Partei, war er bei deren Kurswechsel von links nach rechts geflohen ins gegnerische Lager, lieferte sich ewige Scharmützel mit den Faschisten. 1933 sagte er auch seine Rückkehr nach Bayreuth ab, um Hitler nicht zu hofieren. Aber auch das Ausweichen nach Salzburg währte nur bis zum Anschluss ‘38. Dann ging er ins neu gegründete Emigranten-Festival von Luzern, bereiste mit sensationellem Erfolg Palästina. Der Verkehr auf der Straße soll bei der Direktübertragung eines seiner Konzerte zum Erliegen gekommen sein.

Nach dem 2.Weltkrieg trat er in Italien erst wieder auf, als ein demokratischer Neuanfang sich abzeichnete. Aber die körperlichen Schwächen lähmten ihn immer mehr: Schmerzen in Schultern und Knien, dazu die Augen fast blind. Einer Freundin schrieb er, er habe es „so satt, M[aestro] Arturo Toscanini zu sein, dass es mich schon langweilt, auch nur meinen eigenen Namen lesen zu müssen.“ Bei seinem letzten NBC-Konzert 1954 streikte erstmals auch sein fotografisches Gedächtnis. Er starb in New York am 16.Januar 1957, kurz vor seinem 90.Geburtstag.

Wie kein anderer Dirigent wusste Toscanini die Musiker und das Publikum mit seinem Feuer zu entzünden. Sogar die Wiener Philharmoniker fingen plötzlich an, vor einer Probe mit ihm zu üben – wie seit Mahlers Zeiten nicht mehr.

Aber Toscanini, als Schneidersohn immer picobello gekleidet und mit täglich mittels einer Brennschere gestriegeltem Schnauzbart, wusste auch Frauenherzen zu entzünden. Unzählig seine Affären, die Familie aber blieb tabu. Er hörte Karajan und war gelangweilt. Er hörte den jungen Abbado und war entzückt. Er hörte die Callas, aber er fand ihre Textverständlichkeit ungenügend. „Theater ist Textverständlichkeit“ war sein Motto. Und er bewunderte Furtwängler, so verschieden sie künstlerisch einander waren und so sehr er seine politische Unentschiedenheit missbilligte.

Toscanini war das Gewissen des Kunstwerks. „Hexer“ nannten sie ihn. Vorbild bleibt er durch dieses unbedingte künstlerische Wollen, diese völlige Hingabe ans Werk – und die entwaffnende persönliche Bescheidenheit. Er sei nur „Diener“. Als die wichtigste Eigenschaft eines Dirigenten nannte er: Demut. „Wenn irgendetwas schief läuft, so deshalb, weil ich den Komponisten nicht verstanden habe. Es ist immer meine Schuld.“

Zehntausende defilierten an seinem Sarg erst in New York, dann in Mailand. Zur Trauerfeier erklang aus dem Verdi-Requiem, das „Libera me“, unvergleichlich in seiner eigenen Aufnahme aus den späten Jahren mit dem durch Mark und Bein gehenden pochenden Donnergrollen. Die Pranke seines Dirigier-Genies blitzt noch durch die miserabelste Tonqualität der von ihm letztlich gehassten Schallplatten.


Post für
die nächste Generation

Uraufführung der Oper
„Ariadne auf Naxos“
vor 90 Jahren (op.60, 2.Fassung)
an der Wiener Hofoper

04.Okt. 2006

StraussDie erstaunlichste Erkenntnis, die der Komponist Richard Strauss aus seiner „Ariadne“-Oper zog: er habe „ein großes Talent zur Operette“, ja er fühle sich „geradezu berufen“ zum „Offenbach des 20.Jahrhunderts“. Eine seltsame Mischung war das schon: Schauspiel und Oper, eine Kombination von burlesker Commedia dell’arte und heroischem Götterdrama, repräsentiert in den beiden weiblichen Hauptfiguren. Hier Zerbinetta, die das Leben nimmt, wie es kommt, von einem Mann zum andern. Dort Ariadne, nur einem, Theseus, sich zugehörig fühlend, dann aber, von ihm verlassen, todtrunken, in den Armen des Circe-Flüchtlings Bacchus landet.

HofmannsthalSchon der Weg zu diesem Zwitter war holprig. Librettist Hugo von Hofmannsthal hatte dem Regisseur Max Reinhardt für sein Deutsches Theater in Berlin eine Bearbeitung von Molières „Bürger als Edelmann“ versprochen. Das Schauspiel handelt vom Bürger Jourdain, der eine Oper in Auftrag gibt – allerdings mit skurrilsten Auflagen. Ein bissiger Seitenhieb auf Neureiche sollte das sein, die sich mit schmalem Kunstverstand als große Mäzene aufspielen. Räumlich ließ sich die Kombination mit Strauss’ Oper „Ariadne auf Naxos“ in Reinhardts Theater freilich nicht realisieren.

In Stuttgarts Kleinem Haus fand der Komponist schließlich ein Theater, das die Sänger und Reinhardts Schauspieltruppe aufzunehmen bereit war – Hofmannsthals Bedingung. Strauss selbst dirigierte die erste von drei „Musteraufführungen“ am 25.Oktober 1912. Die Presse reagierte vernichtend. Aber auch die nachspielenden Bühnen erwiesen sich, zumal was das komödiantische Talent der Schauspieler anlangte, den Erwartungen der Autoren kaum gewachsen. Dazu kam, dass Strauss eine Amerika-kompatible Version einrichten wollte. Und so sehr beide die Erstfassung mit Schauspiel und Oper als die gültige betrachteten, machten sich die Autoren doch an eine Umarbeitung. Der Schauspielteil wurde in eine Art rezitativisches Vorspiel mit Musikeinlagen verwandelt, in dem das vom Auftraggeber geforderte Ineinander-Schneiden der heroischen Oper mit der Commedia thematisiert wird.

U Ariadne IIUraufgeführt wurde diese „Ariadne II“ – die Fassung, die wir heute kennen –am 4.Oktober 1916 in Wien. Franz Schalk dirigierte. Es war der sogenannte „Novitätentag“ der Hofoper, der Namenstag des greisen Kaisers Franz Joseph, sein letzter. Die Presse reagierte diesmal weniger bissig. Man lobte die „unübertreffliche Delikatesse“ von Strauss’ filigranem Orchester, wo man ihn zuvor als „Meyerbeer des 20.Jahrhunderts“ schalt, fand das Ganze aber nach wie vor ein bloß „ergötzliches Puppenspiel“. Für uns heute ist Strauss’-Hofmannsthals „Ariadne auf Naxos“ eines der Schlüsselwerke des 20.Jahrhunderts. Es holt die große Oper vom Sockel, öffnet sie durch ihre „Collage“-Technik der Moderne.

Hofmannsthal erspürte aus der Zeit die Notwendigkeit des Sich-Verwandelns und dabei Sich-treu-Bleibens. Und beide Autoren fühlten in der Arbeit, wie sie sich selbst wandelten. Strauss war sich sicher, den Wagnerschen „Musikpanzer“ künftig ganz ablegen“ und ins Gebiet der „Spiel-, Gemüts- und Menschenoper“ schlüpfen zu können. Worauf ihm Hofmannsthal, inzwischen (Sept. 1916) zur Truppe eingezogen, antwortete: „ Es ist schön, wenn ein Mann wie Sie nicht starren und stocken, sondern sich verändern und weiter kommen will, und es ist schön, dass wir einer den anderen gelegentlich zu belehren imstande sind, in einer Welt, wo alles ohne Belehrung, ohne Zucht, dumm und störrisch und selbstgerecht vor sich hinrasen will.“

Das Libretto für eine „politisch-satirisch-parodistische Operette“ indes blieb Hofmannsthal ihm schuldig – schon gar, wie Strauss es vorschwebte: „Aus den Prachttypen [dieses Kriegs], der Wucherer als Mäzen, der Spion, der Diplomat … ließe sich doch eine herrliche Komödie machen.“ Das war Post für die nächste Generation: Brecht & Weill.


Aschenputtel am Broadway
es jrient so jrien

Vor 50 Jahren: Uraufführung
des Musicals „My Fair Lady“

15.März 2006

I could have danced all night: Julie Andrews & Rex Harrison, NYC 1956Eigentlich ist es ja eine Aschenputtel-Geschichte: die von Eliza Doolittle, die aus kleinsten Verhältnissen als Cockneykind von Covent Garden zur Dame von Welt aufsteigt. Im Land, wo der Fama nach aus Tellerwäschern Millionäre werden, schien es die ideale Musical-Story. Doch weit gefehlt. Da war erst einmal George Bernhard Shaw, der Autor der aus der griechischen Mythologie in die Moderne transportierten Vorlage. Zwar gestattete er die Verfilmung seines Stoffes von „Pygmalion“, dem Bildhauer – bei ihm ist es der Phonetik-Professor Higgins. Der glaubt, dass man den sozialen Aufstieg schafft durch eine gewählte Sprache; im Blumenmädchen Eliza findet er die gelehrige Schülerin. Indes: Dass man aus dem Film auch noch ein Musical machen wollte, verbat sich Shaw. Seine Erben waren da weniger zimperlich.

Doch nun kapitulierten die Musical-Schreiber. Sogar Koryphäen wie Rodgers & Hammerstein, Cole Porter und auch die beiden späteren Autoren, der Komponist Frederick Loewe und sein Librettist Alan Jay Lerner – sie alle hielten das Sujet für unverwandelbar in ein „Musical Play“. Erst im zweiten Anlauf fanden Loewe & Lerner in monatelangen Diskussionen einen Weg zu ihrer „Fair Lady“. Parallel wurde dann auch schon gecastet: Rex Harrison als Sprachprofessor Higgins, Stanley Holloway als Vater Doolittle und Julie Andrews als seine Tochter Eliza. Für das so genannte „Try Out“, die Testaufführung in der Provinz, wählte man New Haven/Connecticut. Der Erfolg war so groß, dass Regisseur Moss Hart und die Wigman-Schülerin Hanya Holm als Choreografin für die Broadway-„First Night“ wenige Wochen später kaum mehr etwas ändern mussten. Am 15.März 1956 fand die Uraufführung statt.

„Ein legendärer Abend“ beschrieb die Kritik den überwältigenden Erfolg. Und allein in New York spielte man „My Fair Lady“ sechs Jahre lang en suite. Weltweit wurde es nachgespielt von London bis Melbourne. Aber war es überhaupt ein genuin amerikanisches Musical? Frederick Loewe war der Sohn eines österreichischen Operettentenors. In Berlin war er 1904 geboren; hier hatte er studiert, ein pianistisches Wunderkind. 1924 ging er mit dem Vater ins Lehár-selige Amerika.

ALLERS: Ich kenne ihn erst von drüben, aber er ist ein Absolvent des Sternschen Konservatoriums, hat mit Busoni und mit d’Albert gearbeitet und ist einer der wenigen Komponisten im New Yorker Theater, ein wirklicher Komponist, der auch orchestriert und ein vollkommen geschulter Kontrapunktiker ist.

So Franz Allers, der Dirigent. Er musste auswandern, 1938. Gewiss gehört „My Fair Lady“ in die mehr „europäische“ Linie des Musicals. Es hat nicht die revueartige Struktur mit lose eingesetzten Songs wie das aus dem Varieté gewachsene „amerikanische“ Musical. Wie die Wiener Operette setzt es auf eine in sich stringente Geschichte, zugkräftige Melodien. Vielleicht ließ es sich auch deswegen so gut nach Europa umtopfen. Der Komponist Loewe [de], der 1962 eine Aufführung der Berliner Produktion im eigens dafür umgebauten Theater des Westens besuchte, war jedenfalls „bejeistert“ vom „es jrient so jrien“.

LOEWE: Janz jenau so. Wenn nicht noch schöner. Und die Darstellung ist einfach fabelhaft, und ich war restlos begeistert. Es ist unglaublich, dass es sich so fabelhaft hat übersetzen lassen. Mit jeder Nuance. Und den Empfang, den ich im Theater hatte, das kann man nie vergessen.

Einen auch nur annähernd vergleichbaren Erfolg konnten Loewe und Lerner nie mehr landen. Aber die Einnahmen, die ihnen diese Lady bescherte, sprossen so immens, dass sie den gar nicht mehr brauchten. „My Fair Lady“, längst auch (von George Cukor) verfilmt als Musical, war zum Klassiker geworden.


„Brunnenvergiftung

Vor 80 Jahren wurde Alban Bergs Oper Wozzeck uraufgeführt

14. Dezember 2005

Szenenbild 1925Marie bei ihrem Abendgebet, ahnungsvoll - es ist eine der ergreifendsten Szenen aus Alban Bergs Wozzeck. Und eigentlich ist Marie ja ihr Mittelpunkt. Der historische Woyzeck brachte sie um. Hunger, Erniedrigung, Eifersucht waren die Motive. In Leipzig wurde er 1824 öffentlich hingerichtet.

Das Dramenfragment Georg Büchners lernte Alban Berg kennen im Mai 1914 in Wien. Man spielte nach der Erstausgabe von Karl Emil Franzos. Den Namen Woyzeck hatte Franzos in dem schwer entzifferbaren Manuskript als Wozzeck missdeutet. Berg behielt den falschen Namen bei, obwohl der Fehler bald bemerkt wurde. Was den Komponisten faszinierte, war nicht nur das Schicksal dieses „von aller Welt ausgenützten und gequälten armen Menschen“ Woyzeck, sondern auch „der unerhörte Stimmungsgehalt“ der Szenen. Berg komprimierte sie und ordnete sie nach symphonischen Aspekten neu. Der Erste Weltkrieg verzögerte die Arbeit. Berg wurde eingezogen. Aber auch sein Lehrer und musikalischer Mentor, Arnold Schönberg, versuchte immer wieder, ihm den Opernplan auszureden. Er war, wie Berg klagt, von gelegentlich „bevormundender“ Fürsorge.

Im Frühjahr 1922 war die Komposition fertig. Mit Alma Mahler-Werfels Hilfe ließ Berg einen Klavierauszug drucken. Aber die meisten Theaterleiter zögerten. Das Werk galt als unaufführbar. Hinzu kam die inflationsbedingt desolate wirtschaftliche Lage. Eine ausführliche Analyse in einer Fachzeitschrift bahnte dann den Weg. Erich Kleiber, soeben zum neuen Musikchef der Berliner Staatsoper ernannt, bereitete die Uraufführung in allein 34 Orchesterproben vor. Und er flankierte sie mit einem Parforce-Ritt von hochkarätigen Aufführungen aus Klassik und Moderne. Die Wozzeck-Uraufführung am 14.Dezember 1925 war, wie Berg anerkennend meinte, eine, die „sich gewaschen hat“. Dass eine Intendantenkrise das Haus fast lähmte, erhöhte die Spannung. Aber Kleiber blieb gelassen. Angst hatte er sie sich abtrainiert, wie er später sagte.

Auf Störungen bei der Premiere war Kleiber gefasst. Aber das anfänglich reservierte Publikum steigerte sich immer mehr in Jubel. Es war sich bewusst, einem Jahrhundertereignis beizuwohnen. Die eher rechts gerichtete Presse allerdings sprach von „Kapitalverbrechen“, „Höllenspektakel“, „Brunnenvergiftung“. Und auch als Clemens Krauss in Bergs Heimatstadt Wien 1930 den Wozzeck herausbrachte, versuchte die NS-nahe Presse einen Skandal anzuzetteln. Erfolglos. Prag, Leningrad und Oldenburg hatten das Werk als spielbar erwiesen. Im Rom des Duce konnte es sogar noch 1942 als „beste deutsche Oper des 20.Jahrhunderts“ aufgeführt werden. Erich Kleiber wollte 1935 auch noch Bergs zweite Oper Lulu in Berlin herausbringen. Aber Hermann Göring, der neue Herr Unter den Linden, verhinderte es. Lediglich die Uraufführung der konzertanten Lulu-Suite gestattete er. Die Opern-Partitur hatte Berg noch nicht fertig. So blieb die Lulu Fragment.

Im Januar 1935 schied Kleiber aus Berlin. Er ging ins Exil nach Südamerika. Der immer kränkelnde Alban Berg starb 50-jährig an Weihnachten desselben Jahres.


Bekenntnismusiker
wider Willen

Zum 100.Geburtstag von
Karl Amadeus Hartmann

Am 2.August 2005

HartmannDas 1.Streichquartett war einer seiner wenigen internationalen Erfolge vor dem Krieg. Bekannt wurde Karl Amadeus Hartmann damit als „unabhängiger Deutscher“. Erst nach dem Krieg konnte er Fuß fassen im Musikleben seiner Heimatstadt. Die Nazi-Zeit über war er abgetaucht in einer Art innerer Emigration, von Zuwendungen der Schwiegereltern lebend. Er hasste die Nazis. Aber sie verfolgten ihn nicht. Das Unheil, das mit Hitler aufzog, versuchte er schon 1933 zu formulieren in einem MISERAE genannten Orchesterwerk, nach dem Krieg eingeschmolzen in seine 1.Symphonie, ein Requiem nach Walt Whitman: „Ich sitze und schaue auf alle Plagen der Welt.“ So das Motto. „Ich wurde am 2.August 1905 in München geboren und habe niemals vermocht, von dieser Stadt loszukommen“, beginnt Karl Amadeus Hartmann seine melancholisch-autobiografischen Erinnerungen und fährt fort: „Anerkennung oder Dank darf man in München weniger als anderswo erwarten. München ist eine schnell vergessliche Stadt.“

Die Münchner Bohème war sein Humus. Der Vater war Maler, die Mutter Theater-enthusiasmiert. Im Familienkreis mimte man Wagners Ring. Der älteste seiner drei Brüder, Adolf, avancierte als Porträtmaler. Selber wollte er früh zur Musik. Die Not nach dem I.Weltkrieg diktierte erst mal den Brotberuf Lehrer. Dann wechselte er an die Musikakademie, fand Anschluss bei einer Gruppe unabhängiger Künstler, den „Juryfreien“. In deren Räumen veranstaltete er Konzerte, begegnete dort seiner späteren Frau Elisabeth.

Mit dadaistisch jazzigen Stücken reüssierte er – und verbrannte sie wieder. Durch Einladungen zu den Festen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, IGNM, lernte er seinen wichtigsten Mentor kennen, den Dirigenten Hermann Scherchen. Mit Scherchen traf er sich immer wieder, auch während des Kriegs, in der Schweiz. Hartmanns Organisatoren-Talent war gefragt nach dem Krieg. Die Amerikaner suchten einen Intendanten für die Bayerische Staatsoper. Der Komponist beschied sich als Dramaturg.

Er veranstaltete Matineen mit moderner Musik, konnte ab 1948 auch Radio München, den späteren Bayerischen Rundfunk, ins Boot ziehen. Geboren war die noch heute lebendige „Musica Viva“-Reihe zeitgenössischer Musik. Auf Moden gab er nichts. Oder wie er es in seinen Erinnerungen notiert; „Ich lasse mich von den allzu varianten Zeitströmungen nicht stören. Vor allem möchte ich so schreiben, dass man mich versteht. Jede Note ist durchfühlt und jede 1/32-Pause durchgeatmet. Wenn meine Aussage depressiv erscheint und den in diese Zeit Geworfenen wenig Hoffnung gibt, so ist dies ein Zeichen dafür, dass ich nicht traumwandelnd durch die Welt gehe, sondern dass ich mit meinen Ohren sehe und mit meinen Augen präzis höre.“

„Bekenntnismusiker“ nannten ihn viele – er hasste den Titel. So tilgte er aus seinen frühen Werken die NS-Zeit-bezogenen Hinweise. Zumal auch aus seiner Simplizissimus-Oper, die erst nach dem Krieg szenisch uraufgeführt wurde. Strawinsky, Berg, Schönberg – das war seine Welt. Anton Webern, bei dem er während des Kriegs Privatunterricht nahm, schätzte er als Analytiker – und erschrak über seine politische Naivität. Menschlich integer förderte Hartmann in seinen Konzerten die Jüngeren, vor allem Hans Werner Henze und Luigi Nono. Mit seinen Lokalrivalen, Carl Orff und Werner Egk, die in der NS-Zeit nicht verstummten, versöhnte er sich, auch wenn die anfangs gegen ihn intrigierten. Skeptisch blieb er, der sich „anarchistische Neigungen“ testierte, ob der Restauration im Nachkriegs-Deutschland.

Einem Abwerbeversuch der DDR, die seinen alten Freund Robert Havemann als Kurier schickte, verweigerte er sich gleichwohl. Hartmann starb 1963 an Krebs. Sein Œuvre ist schmal, zudem verwirrend durch die vielen Umarbeitungen. Er war ein langsamer Arbeiter trotz seines bajuwarischen Temperaments. Eine gewisse Renaissance erlebte seine Musik durch die Symphonie-Einspielungen von Ingo Metzmacher. Vieles bleibt noch wieder zu entdecken.


Prinzip: Verdrängen

Winifred Wagner (1897-1980) -
zu ihrem 25.Todestag

5.März 2005
1930-45 „regierte“ sie Bayreuth: Winifred Wagner. Die Fäden hielt sie als Erbin Siegfrieds auch danach noch fest in der Hand. In Erinnerung geblieben ist sie vor allem als Hitler-Verehrerin. Den Streit um die Erbfolge in Bayreuth heute, die Ausgrenzung der Wieland-Kinder, versteht man besser mit einem Blick auf ihre Biografie.

Als „Monster“ galt sie bei den Enkeln. Dabei kannte keiner wie Winifred Wagner das Prinzip des Hauses Wahnfried, auf dem auch „Neu-Bayreuth“ aufbaute: „Verdrängen“. Dass Sohn Wieland Wagner noch mit Hitlers Hilfe die Macht am Grünen Hügel ergreifen wollte; dass er dafür seinen Lehrer, den Bühnenbildner Emil Preetorius als „Entarteten“ der Gestapo in die Fänge trieb; dass er seinem Schwager Lafferentz als KZ-Aufseher in Bayreuth assistierte, dann mit dem Parsifal-Autograph unterm Arm in die Schweiz türmen wollte und, um die Entnazifizierung zu vermeiden, in der lascheren französischen Zone abtauchte – es war getilgt. Und auch Winifred schwieg, obwohl sie sonst unverblümt sagte, was sie dachte.

Aus ihrem Herzen machte sie keine Mördergrube. Auch wenn der berühmt-berüchtigte Satz, den sie am Rande von Filmaufnahmen mit Jürgen Syberberg 1975 sagte, nicht eigentlich für die Öffentlichkeit bestimmt war. „Wenn Hitler z.B. heute hier zur Tür hereinkäme, ich wäre genauso so fröhlich und so glücklich, ihn hier zu sehen und zu haben, wie immer.“ Für Winifred zählte an Hitler nur die Privatperson, sein „österreichischer Charme“. Schon im Haus der Berliner Pflege-„Großeltern“ Klindworth hatte das Walisische Waisenkind Winifred die in der dortigen alternativen Kommune übliche Dosis Antisemitismus empfangen. Die Figur der Senta - „treu bis in den Tod“ – wurde für sie die liebste Wagner-Figur; zeitweise nannte sie sich auch so. Und von „Winnie & Wolf“ träumten ihre Kinder noch vor dem Tod des Vaters. Sohn Wieland hätte gern Vater Siegfried gegen Hitler eingetauscht: den „Onkel Wolf“, der sich noch spät abends ans Bett setzte und so schöne Geschichten erzählte.

1915 war die eben 18-jährige Winifred „Senta“ Klindworth (geb. Williams) mit Siegfried verheiratet worden. Zuvor musste sie allerdings von ihm noch adoptiert werden. Als „feindliche Engländerin“ hätte sie sonst Berlin nicht verlassen dürfen. Den einzigen Wagner-Sohn Siegfried, den es eher zu Männern trieb, hatten Mutter Cosima und die Schwestern gedrängt, endlich für den Stammhalter zu sorgen. Und Winifred hielt sich wie immer mit Volleinsatz ran: vier Kinder gebar sie ihm, Jahr für Jahr eins. Ein Dutzend hätte es nach ihrer Lust werden können. Dass Hitler seit 1923 regelmäßiger, wenn auch aus Angst ums Festspiel-Renommee oft heimlicher Gast in Wahnfried war, wünschte die Familie. Siegfried machte ihn mit einem „Du gefällst mir“ hoffähig, stand bereit für ein Festkonzert in München nach dem (freilich dann missglückten) NS-Putsch in München. Nach der Mein Kampf-Lektüre allerdings ging er wieder etwas auf Distanz. Schwager Houston Stewart Chamberlain, dessen Rassetheorien die Bibel der Rechten war, pries in Hitler den „Retter Deutschlands“.

Dass Winifred nach dem Tod von Ehemann und Schwiegermutter 1930 Hitler nicht heiratete, war auch Siegfrieds Testament geschuldet. „Herrin von Bayreuth“ durfte sie nur sein als Witwe. In Heinz Tietjen, Generalintendant der Preußischen Theater in Berlin, fand Winifred den neuen Künstlerischen Leiter – und Liebhaber, der mit ihr den alten Cosima-Muff wegblies, verhasst bei den Kindern. Ihrer beider größter Erfolg: der Lohengrin im Olympiajahr 1936. Hitler hatte ein Vielfaches der üblichen Ausstattungssumme ausgespuckt. Preetorius durfte aus dem Vollen schöpfen. Wilhelm Furtwängler, sonst meist im Clinch mit der Festspiel-Leiterin, dirigierte. Tietjen inszenierte.

Bis ins Kriegsjahr 1944 mussten auch die Festspiele „durchhalten“, zuletzt als KdF-Veranstaltung. Hitler ordnete es an; er selbst kam 1940 zum letzten Mal. Danach blieb er, der sich sonst mit der Bayreuthchefin so gern als Repräsentationsfigur schmückte, auf Distanz. Die Hilfegesuche, die sie ihm hätte vortragen wollen, häuften sich. Ihr reger Einsatz für Menschen bewahrte sie bei der Entnazifizierung vor dem Arbeitslager. Das ‚System Hitler’ wollte sie nicht erkennen. Für Verfehlungen machte sie untergeordnete Stellen und Hitlers Helfer, zumal Bormann und Himmler, verantwortlich, obwohl sie spätestens 1942 wusste, was in den KZ geschah. Bis zuletzt hatte sie den Ausbruch des Kriegs durch Vermittlungen mit dem englischen Botschafter verhindern wollen. Dass Tochter Friedelind in der Schweiz blieb und an Hausfreund Toscanini sich hielt, verzieh sie ihr erst spät.

Das Wagnersche Werk in einer Stiftung zu sichern, sah sie als Aufgabe nach dem Krieg. Wieland hatte vor seinem frühen Tod 1966 noch versucht, das Tristan-Autograph zu versilbern. Schon verloren waren die Partituren, die die deutsche Industrie aus dem Wittelsbacher-Vermögen gekauft und Hitler zum 50.Geburtstag geschenkt hatte. Der Staatsvertrag wurde 1973 signiert. Die Familie bekam endlich Bargeld. Zuletzt reiste die leidenschaftliche Autofahrerin Winnie viel, spann eifrig das Netz der „Ehemaligen“, sandte „Gesinnungs“-Grüße an NPD-Größen. Das moderne Regie-Theater verachtete sie, freute sich, dass Sohn Wolfgang ihm nicht frönte. Winifred Wagner starb am 5.März 1980 in Überlingen, 82jährig. Zu verdanken hat Bayreuth ihrem überragenden organisatorischen Geschick und ihrer Leidenschaft zum Briefeschreiben und Senta-Fäden spinnen, dass es zwischen den Kriegen nicht unterging. Der Preis dafür allerdings war sehr hoch.


Dr. „Fu

Zum 50.Todestag von
Wilhelm Furtwängler

30.November 2004

Am Ende überwachte ihn die GeStaPo. In seiner Jugend hatte Wilhelm Furtwängler in denselben Münchner Kreisen um George und Wolfskehl verkehrt wie der Hitler-Attentäter Graf Stauffenberg. Nur mit einem Trick konnte der Dirigent seinen Häschern über Wien in die Schweiz entwischen. Der Reichs-Rüstungsminister Albert Speer hatte ihm geraten nach seiner letzten Berliner Aufführung, einer Götterdämmerung im Staatsopern-Ersatz-Bau Admirals-Palast, in der Schweiz das Kriegsende abzuwarten. Vor 1945 hatte er es immer abgelehnt, aus Deutschland zu emigrieren.

Umstritten war er und umschwärmt. „Des Teufels Dirigent“ nannten ihn die einen, den Wahrer deutscher Kultur die anderen. Er wusste die Machtmittel des NS-Staats zu nutzen und er musste sie erleiden. Dabei – Dirigent wollte er ursprünglich gar nicht werden. Er fühlte sich als Komponist. Erst als es mit der Komponisten-Karriere nicht klappte, lernte er Dirigieren. Das Komponieren blieb Kraft- und Ruhe-Zentrum seines Lebens. Berliner Studenten erläuterte er den feinen Unterschied des schaffenden und nachschaffenden Künstlers bei einem Colloquium 1951 so: „Ein Dirigent, der nicht gut begleitet, kann nie ein symphonisches Werk ausgezeichnet dirigieren. Ein Dirigent, der nicht gut begleitet, ist einfach kein Dirigent - ist nur eine halbe Sache. Das Dirigieren muss ja auch eine Kunst sein.“

Geboren wird Wilhelm Furtwängler am 25.Januar 1886 in Berlin. Der Vater, Archäologe, zieht bald mit der Familie um an die Isar. Nach den dirigentischen Galeerenjahren in Breslau, Zürich, Straßburg, Lübeck, Mannheim, Frankfurt entdeckt ihn Richard Strauss. Er holt den 34-Jährigen an die Staatsoper Berlin. 1922 wird mit dem Tod Arthur Nikischs der Chefposten frei bei Berlins Philharmonikern und am Leipziger Gewandhaus. Furtwängler erklimmt beide Stühle, tauscht bald Leipzig gegen Wien. Und auch New York lässt bitten. Sinnlich-hypnotisierend ist er in seiner Wirkung am Pult – und auch bei Frauen, mit Folgen.

Eigenbrötlerisch kann er sein bis zum Jähzorn, dickköpfig, aber auch scheu, die Einsamkeit suchend beim Wandern und Skilaufen in den Bergen. Nicht zimperlich ist er beim Verdrängen von Kollegen. Den „Primadonnerich“ nennt ihn bissig Kollege Hans Pfitzner, „Fu“ oder „Herr Doktor“ ehrfürchtig die anderen. Für Hitler und Goebbels ist er die Inkarnation des Pultgenies. Alles erlauben darf er sich dennoch nicht. Als er Paul Hindemiths Mathis der Maler aufführen will und auch noch öffentlich Front macht gegen die NS-Kulturpolitik, die den Komponisten als „entartet“ verdammt, bekommt er die „Instrumente“ gezeigt. Furtwängler verzichtet auf seine offiziellen Ämter, lässt sich gleichwohl als „Staatsrat“ weiter hofieren und bekränzt die Nürnberger Parteitage mit Meistersinger-Galas, wenn auch gelegentlich schon mal vor leeren Sitzen.

Bayreuth – da hat er seine Probleme mit der viel gerühmten Akustik. „Das Orchester klingt unten wie in einem Sack, wie in einem luftleerer Raum“ klagt er später. Mehr Probleme allerdings hat er mit der „Wolf“-Verliebten Bayreuth-Herrin Winifred. Gern würde er Salzburg zum Gegen-Bayreuth umfunktionieren. Aber da ist der Reichspropagandaminister und Herr über alle Musik-Festivitäten Goebbels vor. Nicht verhindern kann er das „Wunder Karajan“. Goering will als oberster Dienstherr der Staatsoper eine Alternative zu ihm etablieren, lanciert nach einer Tristan-Aufführung eine Hymne auf den jungen Nachwuchsdirigenten und doppelten Parteigenossen. Für Furtwängler ist der „Herr Ka“, wie er ihn nennt, aber fortan ein rotes Tuch. Der stromlinienförmig gestylte Klangstil Karajans ist ihm verhasst wie der seines älteren Rivalen Arturo Toscanini.

Bei einer Festrede 1949 in Salzburg klagt er seherisch: „Wenn die Dirigenten nur ihre gewohnten Paradestücke herunterrasseln, wird das ganze Musikleben entweiht und herabgewürdigt zu einer Schau.“ Zwei Jahre hatte er harren müssen am Genfer See auf die Entnazifizierung: „Mitläufer“ konstatiert die Spruchkammer. Die Sowjets machten im dessen ungeachtet in der Zwischenzeit Avancen, wieder die Berliner Staatsoper zu übernehmen. Ihn aber interessieren nur die Philharmoniker. Die will er wieder dirigieren. Und die Rückkehr Pfingsten 1947 ins Ausweichquartier Titania-Palast wird ein Triumph.

Aber Furtwängler spürt auch: das bildungsbürgerliche Publikum, für das er seine Kunst zelebrieren will, schwindet. Zuletzt räumt er für den „hungrigen“ Herrn „Ka“ in Berlin immer öfter das Podium. Er sorgt sich um sein Gehör. Immer mehr versagt es den Dienst, sodass er schon mit Gehörapparaten experimentieren muss beim Dirigieren. Es bedrückt ihn aber auch eine für 1955 geplante Tournee mit den Philharmonikern in die USA. Er hat Angst vor Fragen dort nach der Vergangenheit und vor Demonstrationen. Schon zwei Dirigier-Einladungen nach Amerika, Chicago und New York, sind geplatzt deswegen. Die Politik indes drängt zu dieser Reise. Nach dem Volksaufstand 1953 in der DDR möchte man eine Manifestation des Freiheitswillens Berlins in Amerika. Dass das Orchester so schnell nach seinem Tod Herbert von Karajan als seinen Nachfolger bestimmt, resultiert auch aus diesem Druck. Sergiu Celibidache, sein Statthalter in der Nachkriegszeit, hatte sich mit den Musikern tief zerstritten.

Wilhelm Furtwängler hat eine verschworene internationale Fan-Gemeinde bis heute. Er war ein Meister des musikalischen Augenblicks und der zum Bersten gespannten Bögen. Jede Aufführung war für ihn ein durchlebter Schöpfungsakt. Idealist, Fantast, Utopist, der er war, glaubte er in einer politisierten Welt an die Reinheit der Kunst, an ihre Autonomie. Ein Leonard Bernstein, ein Carlos Kleiber, der späte Celibidache versuchten künstlerisch ihm nachzueifern. Ein Daniel Barenboim, ein Christian Thielemann versuchen es heute. Furtwängler starb am 30.November 1954 in einer Klinik nahe Baden-Baden. Das offizielle Bonn hielt sich bedeckt bei seinem Tode.


Müde geworden
am Fortschritt

Vor 25 Jahren starb Paul Dessau

Aum 28.Juni 2ßß4
DESSAU: Ich glaube, man muss als politischer Mensch beim Schreiben daran denken, dass die Menschen müde sind. Man kann einem müden Menschen nicht was vormachen, das ihn veranlasst das Radio abzustellen oder den Konzertsaal zu verlassen.

Paul Dessau 1973 im Gespräch mit dem Komponisten Luca Lombardi zu der Frage, wie „anstrengend“ zeitgenössische Musik sein dürfe, damit sie die arbeitenden Menschen in der damaligen DDR noch erreiche. Dessau war zwar grundsätzlich optimistisch, zugleich aber auch skeptisch über die Methoden. Selber unterrichtete er regelmäßig eine Schulklasse an seinem Wohnort. Das Thema Müdigkeit war freilich auch eines im übertragenen Sinn, das gegen Ende seines Lebens immer mehr auf ihm lastete. Seine letzte Oper Leonce und Lena, uraufgeführt postum Ende 1979 – drei Jahre nach dem Biermann-Ausschluss, der Vereisung des kulturpolitischen Klimas –, handelte vom Müdewerden am Leben, an der Zukunft, an dem verheißenen Fortschritt.

Musik: Leonce und Lena „Die letzten Tänzer heben die Masken ab, sehen todmüde einander an…“

Geboren wurde Paul Dessau 1894 in Hamburg als Sohn eines jüdischen Tabakhändlers. Noch der Großvater und der Urgroßvater waren Kantoren. Eigentlich wollte Dessau Geiger werden, aber physiologische Gegebenheiten verhinderten die Solistenkarriere. Nach dem Kriegsdienst in einer Militärkapelle und dem Studium in Berlin wird er Kapellmeister. Hamburg, Köln, Mainz, Berlin sind die ersten Stationen. Er arbeitet mit Otto Klemperer, Bruno Walter. Nach einem Konflikt mit Walter zieht er sich zurück aufs Komponieren. Für 30 Stumm- und 17 Tonfilme schreibt er die Musik, lernt Ernst Udet und Leni Riefenstahl kennen. Bei Aufnahmen zu dem Film S.O.S. Eisberg 1933 kommt es zum antisemitischen Eklat. Dessau flieht über die Schweiz und Frankreich 1939 nach Amerika. Dass die Mutter in Deutschland zurück bleibt und im KZ stirbt, ist ihm ein ewiger Stachel.

Musik: Porter „Yes Sir“

Das Exil ist ihm eine besondere Schule. Er besinnt sich auf seine jüdischen Wurzeln. Bei René Leibowitz in Paris vertieft er sich in Schönbergs 12-Ton-Kompositions-Methode. Schönberg selber und auch Brecht und Eisler begegnet er in Amerika. Zeitweise muss er sich seinen Lebensunterhalt auf einer Hühnerfarm verdienen, bis er Zugang zu den Studios in Hollywood findet und erwägt, in Amerika zu bleiben. Aber das Kaltekriegs-Klima der McCarthy-Ära befördert seine Rückorientierung auf Europa. Politisiert im spanischen Bürgerkrieg 1936, als er für die sozialistischen Brigaden das berühmteste seiner Lieder, die Thälmann-Kolonne, komponierte, war er zum Kommunisten geworden. Im Juli ’48 kehrt Dessau über Paris zurück nach Deutschland.

Musik: Lilo Hermann „Denn Du wusstest um unsere Sache“

„Die Sache“, wie hier im Melodram über die Kämpferin Lilo Hermann - das war für ihn die Hoffnung. Für die FDJ schreibt er das Aufbaulied. Am produktivsten ist die Zusammenarbeit mit Brecht, auch wenn nach dem Parteieinspruch gegen die erste gemeinsame Oper Lukullus die Warnsirenen aufheulen.

Musik: Brecht-Lied Kellerassel „Es war einmal eine Kellerassel, die geriet in einen Schlamassel“
DESSAU: Brecht sagte mir mal: wenn ich Verse schreibe, dann „murmele“ ich sie vor mich hin, d.h. für einen Musiker, er sang sie.

Für die jüngere Komponistengeneration der DDR war Dessau die Identifikationsfigur. Sein Haus in Zeuthen bei Berlin, das er mit seiner vierten Frau, Ruth Berghaus, bewohnte, wurde zum Treffpunkt. Luigi Nono, Hans Werner Henze, Heiner Müller, Karl Mickel waren dort zu Gast. Berghaus’ bahnbrechend neuen, an Brecht und Palucca orientierten Inszenierungen verdankte er viel vom Erfolg seiner weiteren Opern Puntila, Lanzelot, Einstein und eben Leonce und Lena. Das jüdische Erbe, das er in den frühen DDR-Jahren aus politischen Gründen verleugnete, pflegte er zuletzt wieder. Testamentarisch legte er fest, wie er beerdigt werden wollte: im schlichten Holzsarg, nur mit der roten Fahne bedeckt, ohne die Genossen der Partei. Am 28.Juni 1979 ist Paul Dessau, 74jährig, gestorben. Freunde trugen den Sarg vor Sonnenaufgang zum Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.

Musik: Heine-Doktrin, „Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht – und küsse die Marketenderin“


Ein Pionier der
Musik für Kammerorchester

Sir Neville Marriner
zum 80.Geburtstag

am 15.April 2004

Man habe Glück gehabt, sagt Sir Neville Marriner im Jahre 2000 auf die Frage, warum er und seine „Academy of St Martin in the Fields“ so viele Platten machen und so berühmt hätten werden können. Es gab das neue LP-Format damals, und die Firmen brauchten Kammermusik für ihre Kataloge. Was Marriner auch half bei seiner Orchestergründung: In den Symphonie-Orchestern fanden sich viele Gleichgesinnte, Musiker, die frustriert waren von der Anonymität der großen Apparate und lieber solistisch arbeiten wollten. In einem Kammerorchester waren sie eigenverantwortlich.

1959 war das. Sir Neville und seine Musiker waren Pioniere. Einige ihrer Aufnahmen wurden legendär wie diese mit Alfred Brendel. Geboren ist Marriner in Lincoln am 15.April 1924. Sein Studium führte ihn über London, Paris zu einem Experten der alten Musik, Thurston Dart. Marriner spielte in Quartetten, Trios, Orchestern, zumal der London Symphony. Arturo Toscanini, Wilhelm Furtwängler und vor allem Herbert von Karajan wurden seine Leit-Sterne. Das Dirigier-Handwerk lernte er bei Pierre Monteux, einem Musiker eher gegensätzlicher Prägung, sehr zurückhaltend, sehr ökonomisch in seiner Art.

Das Meiste, sagt Marriner, müsse man als Dirigent in den Proben erledigen. Hauptaufgabe, wie er den Beruf versteht, ist es, die technischen Standards einer Aufführung zu setzen, die musikalischen Intentionen zu vermitteln. Eine kontinuierliche Arbeit wie mit der Academy machte es einem leichter. Aber Marriner hatte auch keine Schwierigkeiten mit fremden Orchestern, wo der Funke in den ersten Minuten springen muss. Und er sprang immer wieder. Einladungen kamen aus aller Welt. Los Angeles, Berlin, New York, Amsterdam, Dresden, Stuttgart waren einige Stationen. Anfangs sah man in ihm nur den Spezialisten fürs vorklassische Repertoire. Die Musik der Romantik und klassischen Moderne zu dirigieren, musste er sich erkämpfen. Auch die Oper rief mit Einladungen zu Festivals in Edinburgh oder Aix en Provence. Eine neue Erfahrung.

Inzwischen tritt die Academy in sehr unterschiedlichen Besetzungen auf, vom kleinsten Kammermusik-Kreis bis zum Symphonie-Orchester mit Chor. Heute spielt man aus finanziellen Gründen öfter wieder in der Londoner Kirche, die dem Ensemble einst den Namen gab. Was dies Orchester unterscheidet von anderen mit ihren häufig wechselnden Dirigenten, ist der spezifische Klang, wie er nur wächst in einer längeren Bindung. Ob er selber noch mal die Perspektive wechseln und Geige spielen würde?

Ein striktes Nein ist Marriners Antwort. 40 Jahre habe er gegeigt, und als er einmal das Glück gehabt habe, mit Jascha Heifetz Quartett zu spielen, seien ihm die eigenen Grenzen bewusst geworden. Für Marriner war das der Moment aufzuhören. Seine Geige verschenkte er an einen Jüngeren. Den Druck täglichen Übens war er los. Etwas ruhiger ist es mittlerweile um den heute 80-Jährigen Ritter des Britischen Empire geworden. Die Konkurrenz im Bereich der vorklassischen Musik schläft nicht. Und in die so genannte „historische Aufführungspraxis“ hat Marriner sich nie verbissen. Er wollte und will universaler Musiker sein.


 

Der "jüngere"
des Dioskurenpaars

Erhard Mauersberger
zum 100.Geburtstag

Am 29.Dez. 2003

Das alte Weihnachtslied Wach Nachtigall, wach auf in einem Arrangement von Erhard Mauersberger - wie viele seiner Vorgänger pflegte auch der vierzehnte Thomaskantor nach Johann Sebastian selbst zu komponieren. Die Qualität des Knaben-Alts zeigt, zu welcher Leistung Mauersberger den Thomanerchor damals wieder empor führte.

Das war, als man ihn 1960/61 dazu bat, keineswegs selbstverständlich. Nach dem abrupten Abgang seines Vorgängers Kurt Thomas, der im Clinch mit den Behörden das Land verließ, war der Chor einige Zeit verwaist. Insbesondere die älteren Choristen zeigten sich widerborstig. Da half nur Sachautorität. Die konnte Erhard Mauersberger zu Genüge vorweisen. Dabei galt er lange Zeit immer nur als der kleinere Bruder des großen Rudolf Mauersberger, der seit 1930 den anderen der beiden mitteldeutschen Traditions-Chöre, den Dresdner Kreuzchor, leitete. Anders als der vierzehn Jahre ältere Bruder war der jüngere in dem Chor, dem er dann vorstand, auch selbst aufgewachsen. Vom damaligen Thomaskantor Gustav Schreck war er 1914 in Leipzig aufgenommen worden. Dessen Andenken fühlte er sich immer verpflichtet.

Beide Brüder wurden geboren in dem erzgebirgischen Dörfchen Mauersberg: Erhard 1903 am 29.Dezember. Der Vater war dort Schullehrer und Kantor. Beider Brüder Berufs-Wege liefen dioskurenhaft-kanonisch: Über das Leipziger Konservatorium, eine Organisten- und Chorleiterstelle in Aachen und das Kantorenamt an Bachs Taufkirche St.Georgen in Eisenach in die Ämter von Kreuz- bzw. Thomanerchor. Erhard Mauersberger indes auch noch den prägendsten Thomaskantor im 20.Jahrhundert, Karl Straube, selbst erlebt. Der erkannte nicht nur seine herausragende Begabung. Bei ihm studierte Mauersberger nach der Alumnatszeit Orgel. Unter seinen Kommilitonen waren Günter Raphael, Kurt Thomas, der Dirigent Franz Konwitschny. Mit Konwitschny spielte er Duo, Konwitschny an der Violine, er am Klavier.

Die Stelle, die Erhard Mauersberger 1925 in Aachen vom Bruder übernahm, bedeutete die für ihn glücklichste Zeit. In Aachen begründete er eine neue Tradition Bachscher Oratorienaufführungen. Hier lernte er seine spätere Frau kennen. Die Erfolge verschafften ihm 1928 den Ruf nach Mainz, wo er neben Hans Rosbaud als Dozent an der Musikhochschule wirken, einen eigenen Knabenchor gründen konnte. Die Berufung 1930 nach Eisenach als Thüringischer Landesmusikwart –wie man das damals nannte – eröffnete neue Möglichkeiten. Bruder Rudolf hatte in Eisenach einen Bachchor gegründet, der schon zu einiger Berühmtheit gereift war. Mit diesem Chor begann Erhard 1937, was zuvor Karl Straube in Leipzig mit Direktübertragung im damaligen Rundfunk erprobt hatte: allwöchentlich eine Bach-Kantate aufzuführen. Die Mitwirkung beim großen Bachfest 1950, die Gestaltung des Bach-Fests 1957 in Thüringen und die Gründung der Kirchenmusikschule dort waren Höhepunkte seiner jahrzehntelangen Arbeit.

Zur Übernahme des Thomaskantorats hatte er sich nicht gedrängt. Anfangs leitete er auch noch den Gewandhauschor. Und das Misstrauen der Obrigkeit begleitete ihn trotz staatlicher Dekorationen bis zu seinem altersbedingten Rücktritt 1972, ein Jahr nach des Bruders Tod. Seinen Leipziger Chor ließ man im Unterschied zu dem Dresdner in jener Zeit außer nach Finnland nicht ins westliche Ausland. Beim Nachfolger, Joachim Rotzsch, ging der Staats dann bekanntlich auf Nummer "sicher". Den eigenen Traditionen blieb Mauersberger dennoch treu, auch als Präsident des Bach-Komitees der DDR. 1986 wurde beiden Brüdern in ihrem Heimatort Mauersberg ein kleines Museum eingerichtet. Aber anders als Rudolf ließ sich Erhard Mauersberger nach seinem Tod 1982 nicht dort sondern in Leipzig begraben. Immerhin kam es während beider Amtszeit in Dresden bzw. Leipzig auch zu mehrfacher Kooperation. Etwa die h-Moll-Messe gleich zu Beginn oder die Bachsche Matthäuspassion 1970 führten die Brüder mit ihren beiden Chören unter gemeinsamer Leitung auf, dokumentiert auf Schallplatte.


"I love Paris"

Cole Porter's Can-Can

Am 7.Mai 1953 wurde das Musical (Libretto: Abe Burrows, Musik und Lyrics: Cole Porter) am New Yorker Shubert Theatre uraufgeführt - zur 50.Wiederkehr

Bal du Paradis heißt der Schauplatz des Geschehens, ein Café am Pariser Montmartre um 1890. Der Skandaltanz Cancan wird hier gepflegt zum Leidwesen von Richter Aristide. Der will das anstößige Beinchenschmeißen endlich verbieten und sucht nach Beweisen. Da die Polizei augenzwinkernd immer nur zuschaut, macht er sich selbst ans Beweise Sichern – und verliebt sich prompt in die Chefin des Etablissements. Statt Fotos vom sündigen Treiben in dem Café gibt’s nun kompromittierende von Madame und Monsieur. Der Richter muss seinen Dienst quittieren. Aber Madame ersinnt einen Trick – mit ihren Mädchen -, Aristide zu rehabilitieren. Alle zusammen lassen sie sich einbuchten, um einen Gerichtstermin zu erzwingen. Was kann schon Schlimmes sein an einem harmlosen Can-Can?

Am 7.Mai 1953 wurde Cole Porters Musical Can-Can am Broadway uraufgeführt mit fast 900 Reprisen. 1960 wurde es wie so viele Porter-Musicals verfilmt – etwas modifiziert – mit Frank Sinatra, Shirley MacLaine und Maurice Chevalier in den Hauptrollen. Der leicht exotische Trip in die Vergangenheit kam gut an in jenen 50iger Jahren des kalten und – siehe Korea – auch gelegentlich heißen Kriegs. Man suchte zu vergessen. The King and I hieß das Erfolgsmusical jener Jahre aus der Traumküche Rogers & Hammerstein. Sogar Homers Ilias wurde in ein Musical verwandelt, Titel: The Golden Apple. Die Zeiten, da die Brüder Gershwin mit Of Thee I Sing (zu deutsch: "Von Ihnen spreche ich") eine Realsatire auf einen unfähigen Präsidenten samt seinem paranoiden Vize präsentiert oder der an den Broadway geflüchtete Kurt Weill mit Johnny Johnson eine Anti-Kriegs-Satire gewagt hatten – die Zeiten waren vorbei. Realitätsbezogen wie in den 30-iger Jahren, wurde das Musical erst wieder in den späten 50-igern, wenn etwa der nämliche Cole Porter mit Silk Stockings ("Seidenstrümpfe") nun dem Kalten Krieg satirische Laufmaschen verpasste, indem er den Lubitsch-Film Ninotschka adaptierte und Hildegard Knef als Musical-Garbo am Broadway promovierte. Oder wenn Leonard Bernstein mit West Side Story den Blick lenkte auf die schmutzige Welt der Bronx-Kids. Seine Adaptation von Romeo und Julia war nach Porters Kassenschlager von 1948, Kiss me Kate, ein weiterer höchst erfolgreicher Versuch mit Shakespeare.

Auch für Cole Porter selbst war Can-Can eine nostalgische Erinnerung; ein Skandal, wie der Name besagt, war dieser Tanz ja seit hundert Jahren nicht mehr. 1917 war Porter nach seinem ersten kläglich mit einer patriotischen Show gescheiterten Broadway-Versuch nach Paris gekommen mitten im Krieg. 26-jährig und mit einem großväterlichen Millionen-Erbe gesegnet, wollte er der französischen Fremdenlegion beitreten. Eine Legende. In Wirklichkeit studierte er weiter am Pariser Konservatorium, feierte Orgien mit seinen Freunden. In einer Paris-Revue zehrte er davon noch später, wenn er die Liebe besang in all ihren Varianten, "Let’s do it", oder wenn er in Dubarry was a Lady das ausschweifende Leben am Hofe des Louis XV in die New Yorker Nachtclubs verpflanzte. Mit "Live And Let Live" ("leben und leben lassen") zitiert Porter in Can-Can einen weiteren Slogan aus dem „alten Europa“, der ihm Bekenntnis war: In den prüden 50igern fast eine Kampfansage: gegen Zensur, aber auch ein Hunger-Schrei nach Leben. Infolge eines Reitunfalls war Porter seit 1937 an den Rollstuhl gefesselt. Seine Ehefrau Linda, geschieden, reich, selbstbewusst, die er 1919 in einem platonischen Arrangement geheiratet hatte, half auch hier. Nach ihrem Tod vergrub er sich, sonst immer auf der Flucht auf Reisen, in einem New Yorker Hotel.

Porter, der ein so treffsicherer Songtexte-Schreiber wie Melodienerfinder war und in seinem letzten High Society-Film-Musical das Leben seiner Klasse bös karikierte, starb 1964 eher vereinsamt in Santa Monica, 73jährig. Wie von seinen Zeitgenossen sonst wohl nur Kurt Weill wusste er amerikanisches und europäisches Lebensgefühl zu verknüpfen. Die aus Can-Can, "I love Paris“, wurde Kult.


Der "sinfonische Aschuge"

Aram Chatschaturian
[Khachaturian]

Am 6.Juni 1903 wurde er in in Tibilissi geboren und starb am 1.Mai 1978 in Moskau - zum 100.Geburtstag/25.Todestag

Es war sein größter Erfolg: Gajaneh – die Geschichte von der jungen Kolchosbäuerin, die im Kampf ums eigene Glück zur Volksheldin wird. Glück – so hieß das Ballett ursprünglich. Es flopte. 1942, mitten im Krieg, machte der Komponist sich ans Umarbeiten. In Perm, im fernen Ural entstand die glücklichere Version. Dorthin war das damalige Kirow-Theater ausgelagert aus Leningrad. Die Story ist so einfach wie lebensnah: Gajaneh, die junge Baumwollpflückerin, ist mit einem Trinker verheiratet, unglücklich. Sie wirft ihn hinaus, er zündet die Kolchose an. Gajaneh heiratet ihren Retter, einen ukrainischen Offizier. Aischa, eine Kurdin, bei der Gajanehs Ex zunächst unterschlüpfte, heiratet gleich mit. Aber nicht den Trunkenbold, sondern Armen, einen Armenier. Den liebt sie ethisch korrekt – ein treuliches Loblieb auf Stalins damals so hoch gepriesene Nationalitäten-Politik. Der Säbeltanz ist nur einer von mehreren Volkstänzen, die Aram Chatschaturian im Schlussakt seines Gajaneh-Balletts wirkungsvoll verarbeitete. Die Uraufführung im Dezember ’42 wurde für den armenischen Tonsetzer zum Triumph.

In Tiflis/Tibilissi, Georgien, wurde Aram Chatschaturian am 6.Juni 1903 geboren. Der Vater arbeitete dort als Buchbinder. In der armenischen Großfamilie wächst Aram auf und mit der Tradition der transkaukasischen Folklore. Die Aschugen, fahrende Volkssänger, und die orientalischen Vorfahren europäischer Streich-, Zupf- und Blasinstrumente wie Ssas, Kemantscha, Tar, Duduk lernt er früh kennen. 1920 klopft die Revolution an im Kaukasus. Chatschaturian bricht auf mit einer Gruppe junger Schauspieler nach Moskau. Die Reise im Güterwagen verdient man sich mit Agitprop. In Moskau saugt er die neuen divergierenden Kunst-Strömungen von Stanislawski bis Majakowksi auf wie ein Schwamm. Am Konservatorium, wo er nach einem Ausflug in die Biologie und einem Propädeutikum in der Gnessin-Musikschule Aufnahme fand, wird Prokofjew auf ihn aufmerksam. Von sich reden macht er mit einem bald auch in Amerika bei Serge Koussevitzky nachgespielten Klavierkonzert, einem noch heute geschätzten Violinkonzert und einer Sinfonie – aber auch mit einer Ode an Stalin.

Musikalische Ergebenheitsadressen wie dies Poem, die langjährige Mitarbeit im offiziellen Komponistenverband oder in einer "Kommission für Verteidigungsmusik", die (ähnlich wie bei den Nazis) vaterländische Märsche für den Kriegs-Agitprop rekrutierte – all das bewahrte Chatschaturian nicht, wie Schostakowitsch und Prokofjew 1948 ins Fadenkreuz von Stalins Kultur-Auspeitscher Shdanow zu gelangen. Auch er wurde der lässlichsten Sünde, des "Formalismus", geziehen. Nach Stalins Tod 1953 muckte Chatschaturian auf gegen "administrative Bevormundung". Die Partei dürfe sich nicht einmischen in "Schaffensfragen", forderte er. Da allerdings war er auch schon "Reisekader", hatte in Italien die Kollegen Luigi Dallapiccola und Goffredo Petrassi kontaktiert. Auch in Finnland bei Sibelius schaute er vorbei, in England bei Benjamin Britten. Argentinien, Wien, die DDR, Ägypten waren weitere Reiseziele des nun auch als Dirigent Gefragten. Eines der Reisemitbringsel aus Italien war die Idee zu einem Spartacus-Ballett. Die Uraufführung wiederum in Leningrad 1956 wurde kein rasender Erfolg. Allzu schwarz-weiß gepinselt schien dies "Befreiungsballett". Erfolgreicher war Chatschaturian mit Musiken für Filme, etwa von Michael Romm, oder auch fürs Schauspiel. Shakespeares Macbethund Othello hatten es ihm angetan. Und Lermontows Masquerade. Und Zum Hit machte Stanley Kubrick ein Adagio aus dem Gajaneh-Ballett in seinem Film A Space Odyssey - wenn die Discovery-Mannschaft sich aufmacht zu ihrer langen Reise Richtung Jupiter.

Am 1.Mai 1978, knapp 75jährig, starb Chatschaturian in Moskau. In Masquerade bediente sich der "sinfonische Aschuge", wie man ihn nannte ob seiner orientalischen Melodik, seiner suggestiv aufpeitschenden Ostinati, clownesk wie es sich für einen zum Überleben in diesem System Gewillten gehörte, vor allem der russischen Tradition, zumal der Tschaikowskis.


Medusa der tschechischen Musik?

Leoš Janáček

3.Juli 1854 - 12.August 1928: Zum 75.Todestag

"Janáček mit langem ā" – pflegte er am Telefon sich zu melden. Auf die Eigentümlichkeiten seiner mährischen Herkunft legte er immer besonderen Wert. Verwunderlich bei jemandem, der in seiner Heimat sich fühlen musste wie kolonisiert? Als "Leo Eugen" mussten die Eltern ihn 1854 eintragen lassen ins Register von "Hochwald", eigentlich Hukvaldy. Der Kampf für die eigene Kultur wird für den jungen Leoš zur Obsession. Als 15-Jähriger schreibt er ein flammendes Gedicht gegen alles Nicht-Slawische. Als 19-Jähriger gründet er einen mährischen Arbeiter-Chor, mit dem er dieser Institution die Stammtisch-Bierseligkeit austreiben will.  Als er 1896 erstmals die "Mutter des Slawentums" Russland besucht, fühlt er sich wie auf einem anderen Planeten. "Bedrückt war ich durch Galizien gefahren", notiert er. "Nun ist mir so froh. Erwachen, Auferstehung! Ich schüttle die Sklaverei ab".

Die Oper Aus einem Totenhaus ist sein letztes Bühnenwerk. Dessen Uraufführung erlebte der 74jährig (am 12.August 1928) in Mährisch-Ostrau Verstorbene nicht mehr. Die Vorlage, Dostojewskis Erzählung aus Sibirischen Gefangenenlagern, hatte Janáček selbst bearbeitet. Sie öffnete ihm den Blick auf das „andere“, erst eher verdrängte Russland. "In jeder Kreatur ein Funke Gottes" schreibt er pathetisch über die Partitur. Die Hinwendung zu allgemein menschlichen Fragen von Werden und Vergehen, kennzeichnet die späten Werke: Sache Makropoulos und Füchsin Schlaukopf – so eigentlich der Titel des als "Tieroper" von seinem Übersetzer und Biografen Max Brod zum Schlauen Füchslein verniedlichten Werks. Ein Vortrag von Rabindranat Tagore in der Prager Karls-Universität 1921 lenkte Janácek auf dies Thema. Im eben, nach dem Zerfall der K&K-Monarchie, neu entstehenden Tschechischen Staat ein Politikum.

Dass Brod Janáček zum nationalen Heros dieses jungen Staats stilisierte, dass er ihn zur "Medusa" erklärte, "vor der die Irrungen des Alltags erstarren", ließ der sich allerdings gern gefallen. In Brünn lebend, galt er lange als bloße Lokalgröße. Erst mit 52 Jahren erlebte er seinen nationalen Durchbruch. 1916 (12 Jahre nach der Uraufführung in Brno) hatte seine erste bedeutende Oper endlich auch in Prag Premiere. Ihre Stieftochter hieß dies Werk eigentlich. Bei Max Brod war für den Druck daraus Jenůfa geworden. Und der Prager Kapellmeister Kovarovic hatte die Partitur so gründlich retuschiert, dass er 70 Jahre lang Tantiemen mitkassierte. Immerhin Wien (1918) und die New Yorker Met (1924) brachten das Werk so verstümmelt-eingedeutscht heraus. Die neue Oper Káťa Kabanová (1921) wurde da fast zum Selbstläufer.

Als Feldforscher mit Fonograf und Notizbuch reiste Janáček zeitlebens durchs Land, dokumentierte, analysierte die Melodie seiner Sprache und ihre Lieder, hielt sogar den Tonfall seiner mit 21 Jahren sterbenden Tochter in Noten fest. Und wie er Sprache in Komposition verwandelte, das war, Wagner klug weiter denkend, Bahn brechend neu. Das Nervös-Hektisch-Brüchige seiner Musik spiegelt indes auch einen höchst widersprüchlichen Charakter. Der überirdisch Reine, zu dem Brod ihn verklärte, war er, wie neuere Forschungen zeigen, durchaus nicht: eher starrsinnig, in seinem Nationalismus engstirnig, cholerisch, zynisch. Seine deutschstämmige Ehefrau - Zdenka -, die er früh aus Karrieregründen heiratete, quälte er mit Demütigungen und wechselnden Liebschaften bis hin zum versuchten Selbstmord – 47 Ehejahre lang. Das Verdienst, ihn einem breiteren Publikum bekannt gemacht zu haben, kommt vor allem Otto Klemperer zu: mit Aufführungen zumal der Káťa erst in Köln, dann in Berlin. Die Werke in ihrer Original-Gestalt wieder freigelegt zu haben, ist das Verdienst von Sir Charles Mackerras. Und es gibt (bis zum 150.Geburtstag 2004) noch einiges zu entdecken.


Selbstbewusstsein
und Gottvertrauen

Krzysztof Penderecki
zum 70.Geburtstag

am 23.November 2003

Donaueschingen 1960. Ein neuer Name tauchte auf, erstmals der eines Polen im geheiligten Mekka der Neuen Musik: Krzysztof Penderecki, knapp 27 Jahre jung. Sein Aufstieg war kometenhaft. Anaklasis hieß das gut 8-minütige Orchesterstück. Übersetzen kann man den Titel in etwa mit „Umbiegung“, „Rückstrahlung“. Gleich zweimal musste das Werk gespielt werden. Ein Ausnahmefall. Alles zwischen Klang und Geräusch hatte seinen Platz hier. Manche Zuhörer fühlten sich erinnert an die frühen Zeiten des Bruitismus eines Edgard Varèse. Andere an Schönbergs Klangfarbenmelodie. Singende Säge, sirrende Sirene, das Spielen auf einem bloßen Rohrblatt-Mundstück – vielfältige Aktionen prägten diese Musik. Ein neues Markenzeichen war kreiert: „Polnische Schule“. Sein Schul-„Meister“: eben jener Krysztof Penderecki, der seine Musik aber durchaus nicht verstanden wissen wollte als „Kursbuch der Geräusche“, wie einige unkten.

Geboren wurde Penderecki 1933 in Debica, nahe Krakau. Der Vater, Rechtsanwalt, spielte Geige und Klavier. Auch der Sohn durfte Geige lernen nach dem Krieg. Neben dem Unterricht im Violinspiel interessierte er sich heimlich auch fürs Komponieren. Und obwohl der Vater ihn gern als künftigen Architekten gesehen hätte, träumte der Sohn sich als Maler, Bildhauer, Ingenieur, oder bei der Marine. Am Ende entschloss er sich zur Musik, hörte daneben Philosophie, lernte Griechisch, Latein und Klavier. 1958 beendete er sein Studium an der Krakauer Musikakademie, der er später viele Jahre als Rektor vorstand. Aufmerksam auf ihn wurde man, als er 1959 alle drei Preise, die der Polnische Komponistenverband jährlich auslobte für den Nachwuchs, auf einmal gewann. Schon in jener Zeit entstand auch Threnody, gewidmet den Opfern von Hiroshima. Politisch motivierte Werke komponierte Penderecki immer wieder, für die Ermordeten von Auschwitz etwa ein Dies Irae. Als Kind hatte er aus nächster Nähe ein Juden-Massaker miterlebt.

Im Innersten ist Penderecki religiös motiviert. Zwischen Hieronymus Bosch, Bach und Palestrina kreist sein Denken. 1966 wagte er sich gar ans Schreiben einer Passion – und überzeugte selbst Skeptiker. Damals lebte er als Dozent an der Folkwang-Schule Essen. Die Lukaspassion war und blieb einer seinen ganz großen Erfolge. Aber auch in der Oper hat er sich mehrfach versucht. Am erfolgreichsten sein Erstling, Die Teufel von Loudun nach Aldous Huxley’s authentischer Exorzismus-Erzählung. Das Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper von 1969 durfte in Warschau damals nicht original gezeigt werden. Die Kirche erhob Einspruch. Zur „selbst ernannten Avantgarde“, wie Penderecki gern spöttelt, zählte er sich bald nicht mehr; „Neoromantik“ schimpften die Kritiker. Dabei glaubt er von sich selbst, „immer Neues auszuprobieren, vor allem mit den Streichinstrumenten und der menschlichen Stimme“. Immerhin – Penderecki hat oder hatte sein Publikum.

Erst in allerletzter Zeit begann die Zustimmung zu bröckeln. Beim Warschauer Herbst (Warszawska Jesień) 2002 quittierten Zuhörer die Erstaufführung seines Klavierkonzerts mit Pfiffen. Effekthascherei, Selbstzitate, Anwandlungen gar von „Sozialistischem Realismus“ wurde ihm in Kritiken vorgeworfen. Ins Gerede kam sein feudaler Lebensstil. Nahe seiner Residenz Luslawice will er sich mithilfe des Kulturministeriums eine eigene Akademie bauen lassen. Nach Streitigkeiten ums Programm wurde ausgerechnet in diesem Jahr auch das nach ihm benannte Krakauer Musikfestival abgesagt. Er wolle der Stadt möglicherweise den Rücken kehren, hieß es. Seinen internationalen Ruhm hat das bislang nicht gebremst und auch nicht sein Gottvertrauen. Auf den Spuren von Bach und Beethoven lässt er der Passion von einst eine Messe folgen. Das Credo ist schon fertig, uraufgeführt bei einem Festival in Amerika.

PS: Am 21.Oktober 2004 erhielt er den "Premium Imperiale", der als Nobelpreis der Künste gilt zusammen mit mit dem deutschen Maler Georg Baselitz (Kategorie Malerei), dem US-amerikanische Bildhauer Bruce Nauman (Kategorie Skulptur), dem brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer (Kategorie Architektur) und dem iranischen Regisseur Abbas Kiarostami (Kategorie Theater/Film).