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Spielplan 2012-13
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Lulu
Al gran sole
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Verkaufte Braut
Totenhaus
Candide
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Rake's Progress
Rheingold
Metánoia

Alte Bekannte: der Spielplan der Staatsoper 2012/13

12.04.2012

Einen Tag vor der Deutschen Oper konnte Jürgen Flimm zusammen mit Daniel Barenboim gerade noch den Spielplan seiner im Schillertheater logierenden Staatsoper vorstellte. Wirklich Aufregendes kaum präsentieren. Er hält sich an hinlänglich eingeführte Regie-Namen wie Claus Guth (mit einem Purcell-Oehring-Amalgam "The Fairy Queen", Calixto Bieito (Hosokawas "Hanjo" als Koop mit der Ruhrtriennale). Hans Neuenfels will eine mit neuem eigenem Libretto unterlegte Mozartsche „Finta giardiniera“ inszenieren.

Und in der Werkstatt kann man u.a. (in der szenischen Handschrift von no-names) des verstorbenen Friedrich Goldmann bitterer Farce „R. Hot“ begegnen. Zu den Festtagen wird der mit Mailand koproduzierte aber szenisch arg unterbelichtete Wagnersche „Ring“ komplettiert. Nicht gerade der Renner.


Im Wald

Claus Guths „Don Giovanni“-Inszenierung, importiert aus Salzburg

24.06.2012

Statt der doch reichlich öden „Don Giovanni“-Inszenierung, die Robert Carsen im Herbst 2011 zur Saison-Eröffnung der Mailänder Scala auf die Bühne brachte und die man eigentlich hätte übernehmen müssen, hat Intendant Jürgen Flimm aus seinen Salzburger Restbeständen die im Wald angesiedelte Inszenierung von Claus Guth importiert.

Daniel Barenboim am Pult im weit hochgefahrenen Graben geht das musikalisch alles etwas knallig an, ohne die bei Mozart heute als nötig erachtete Delikatesse: mehr im Stil des Neunzehnten als des 21.Jahrhunderts. Dass man mit Christopher Maltman in der Titelpartie und Erwin Schrott als sein lästerndes Faktotum Leporello zwei stimmstarke Protagonisten hat, verleitete den Dirigenten vielleicht etwas dazu.

Für Anna Netrebko, die eigentlich die Donna Anna hätte singen sollen, sich aber mit mütterlichen Pflichten vorher aus dem Gastspiel verabschiedete, hat man mit Maria Bengtsson zwar einen lyrischen Ersatz, aber in dies Ensemble passt sie mit ihrer doch eher schmalen Stimme nicht. Dorothea Röschmann singt eine arg vibrato-starke Donna Elvira. Am besten gefällt Anna Prohaska als quirlige Zerlina.

Guths Inszenierung in der Wald-Bühne und mit dem Kostüm-Design von Christian Schmidt wurde oft als genial bezeichnet. So ganz überzeugen kann sie nicht. Es gibt einige hübsche Einfälle in diesem sich häufig drehenden Kunstwald, wenn etwa Bräutigam Masetto (Stefan Kocan) aus Wut über seine den Verlockungen Giovannis erliegende Zerlina auf deren am Baum aufgehängten Brautschleier prügelt.

Oder wenn Elvira im strengen dunkelroten Kostüm, in einem Wellblech-Häuschen am Waldesrand auf den Bus wartend, ihre Wut über den treulosen Giovanni tiriliert und der, auf dem Dach liegend, ihr feixend lauscht. Giovanni bekommt bei der Auseinandersetzung mit Donna Annas Vater (Alexander Tsymbalyuk), der mit Taschenlampe und Pistole den Wald nach ihm absucht, gleich zu Beginn einen Streifschuss.

So ist er, der seinen Diener vor allem auch braucht, dass er ihm einen „Schuss“ aus der Nadel verpasst, ein vom Tode Gezeichneter von Anfang an. Und die Wunde platzt immer wieder auf, bedeutungsschwanger beim Techtelmechtel etwa mit Zerlina. Anna allerdings wird keineswegs von Giovanni in irgendeiner Weise vergewaltigt. Sie weiß was sie tut, mit wem sie sich einlässt und hat auch das passende Wickelkleid an. Ihr Verlobter Ottavio (eher gequält: Giuseppe Filianoti) ist der eigentlich Gehörnte, so massig der PKW auch ist, mit dem er sie durch den Wald kutschiert.

Giovanni ohne Protz-Auto geht heute ja nach Bieito fast schon nicht mehr. Und das Fest auf dem „Schloss“ ist eine ziemlich flache Wald-Party mit Sekt aus Pappbechern, viel Plastik-Müll und einem mehr Aerobic-Gehopse als Tanz zu den Mozart-Klängen. Wie immer bei Guth: einige interessante psychologische Ideen, auch aus anderen Inszenierungen Eingesammeltes, aber ohne den inneren Drive, der einen Opernabend spannend machen würde. Am Ende vom Publikum mit vielen Buhs bedacht. Doch immerhin einige Prominenz im Publikum wie der Alt-Grüne Joschka Fischer und der über 90-jährige Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker.


Party zwischen Himmel und Hölle

René Jacobs und Achim Freyer mit Emilio de‘ Cavalieris Oratorium „Rappresentatione di anima et di corpo“

08.06.12

Man taucht mit dieser Musik zurück in die Anfänge der Oper. Die Trennung Oratorium-Oper gab es noch nicht. Diese musikalische Groß-Form war ja der Versuch der Florentiner Camerate, das antike Theater der Griechen wieder zu gewinnen. Den  Florentiner Humanisten stand Emilio de‘ Cavalieri nahe. Gleichwohl ist sein Oratorium „Rappresentatione di anima et di corpo“ entstanden in Rom im gleichen Jahr 1600, aber wenige Monate bevor man in Florenz die Oper „erfand“. Oratorio war der Name für den Betsaal der Römischen Bruderschaft des Padre Filippo Neri, die dort eine neue Form der Andacht suchte: Dialogisch in der Zwiesprache von Geistlichem und Gemeinde, nicht als liturgisches Zeremoniell in lateinischer Sprache, sondern muttersprachlich italienisch. Im Mittelpunkt stand das Bibelwort, musikalisch umrahmt, und mit dieser neuen Form des Gottesdienstes wollten Teile der Römischen Kirche reagieren auf die Fragen, die Luther aufgeworfen hatte und die dann im 1563 beendeten Konzil von Trient (begonnen 1545) erörtert worden waren.

Cavalieris Oratorium über „Das Spiel von Körper und Seele“, so der Titel in Deutsch, entstand auf einen Text des der laienkirchlichen Reform-Bewegung nahestehenden Lauden-Dichters Agostino Manni. Verteilt auf mehrere allegorische Figuren wird da zwischen anima (Seele) und corpo (Körper) die Frage erörtert, ob das irdische oder das himmlische Leben mehr Erfüllung biete. Zur optimalen Textverständlichkeit bedient sich Cavalieri eines neuen homophonen chorischen Stils, den er allerdings rhythmisch und instrumental sehr vielfältig auflockert. Mit der „Rappresentatione“ zum Heiligen Jahr 1600 wollte Papst Clemens VIII die auch vom Tridentiner Konzil geforderten Prinzipien einer neuen Kirchenmusik repräsentativ umgesetzt wissen.

Musikalisch gelingt der Berliner Staatsoper im Schillertheater unter René Jacobs eine fast mustergültige Aufführung – auch wenn man sich etwa für die Sängerin der „anima“ eine etwas biegsamere Stimme wünschen könnte als sie Marie-Claude Chappuis zu Gebote steht. Achim Freyers Bühne ist ein schwarzes, leicht schräg-perspektivisch ansteigendes Einheits-Spielfeld mit aufgemalten Nummernkästchen. Schon zu Beginn liegen dort einzelne Requisiten wie ein roter Ball, Schachfiguren, ein Stierschädel, eine Party-Glitzerkugel. Sänger, Chor und Instrumentalisten sind rund um das Spielfeld platziert. Im Mittelteil, wenn die diversen Lüste verhandelt werden, kann Freyer seine ganze Ikonographie weiß-behandschuhter Figuren von einem Heiligen Sebastian bis zum Spring-Teufelchen entfalten. Dazu regnet es Seifenblasen vom Bühnenhimmel, und vielfarbig beleuchteter Dampf steigt auf. Das Ende markiert ein prachtvoll das überirdische Leben preisender gemeinschaftlicher Chor. Danach entschwindet die Figur des „Intellekts“ langsam und stumm nach hinten, eine Freyersche Pointe.

Ob dies Oratorium eine szenische Umsetzung braucht, ob es einst szenisch oder halbszenisch uraufgeführt wurde, steht dahin. Aber nachdem man die Oratorien Händels mehr und mehr wieder für die Bühne entdeckt, ist diese Art musiktheatralischer Spurensuche legitim – und Freyer hat vor 30 Jahren mit seinem „Messias“ an der Berliner Deutschen Oper selbst wesentlich dazu beigetragen. Das Publikum applaudierte dieser 90-minütigen pausenlosen Aufführung am Ende anhaltend.


Im Aschebett mit Geschwitz

Andrea Breth und Daniel Barenboim mit Alban Bergs „Lulu“ zu den Oster-Festtagen

31.März 2012

Ist das die zeitgemäße Variante der „Gescheiterten Hoffnung“ oder eine Metapher auf die wahre Lust heutiger Männer? Ein phallisch sich auftürmender Berg schrottreifer Autowracks ragt im linken Eck der Bühne, darauf die Frauen, ältere Lulu-Doubles oder sie selber, und auch die Männer gelegentlich sich wälzen, in denen sie sich verklemmen oder in deren Scheiben ein Gesicht aufleuchtet. Geheimnis- und bedeutungsvoll beginnt diese „Lulu“ Alban Bergs an der Berliner Staatsoper. Der Vorhang hebt sich einen Spalt. Eine auf dem Rücken liegende Figur, der Theaterdirektor, rezitiert Kierkegaard, spricht von einem alten Mann, der, hinabtauchend ins Vergessen, einem Kind erzählen will, woran es sich schon erinnert, noch ehe es erzählt ist. Dann der gellende Schrei einer Frau – und der erste Akt beginnt.

Den Prolog von Bergs „Lulu“ hat Regisseurin Andrea Breth gestrichen. Das Zirzensische, in Wedekinds Schauspielfassung ohnehin erst später angefügt zur Abwehr der Zensur, wollte sie tilgen. Lulu ist für Breth eine Frau, die Liebe sucht, aber diese nicht finden kann, weil sie – Findelkind, das vom Ziehvater Schigolch an Männer verkauft wird – Liebe gar nicht kennt. Sol lastet über Breths Szene gespannte Dumpfheit. In slowest motion bewegen sich die Figuren zwischen den Gassen aus Eisengestängen von Erich Wonders Einheits-Bühne. Lulu, zunächst vorn in einem silbrigen Glitzerkleid, hängt ausgestellt wie eine Puppe mit ausgebreiteten Armen in einem gleichsam Bilder-Rahmen.

Die Männer hat Moidele Bickel in schwarzgraue Gehröcke, Mäntel, Anzüge gesteckt. Lediglich die lesbische Gräfin Geschwitz, der Breth allein Liebesfähigkeit zubilligt – auch wenn Berg mit ihr sich am meisten abquälte -, kommt wie ein Vamp der Zwanziger-Dreißiger Jahre im bodenlangen nachtblauen Ensemble daher – und Lulu immer näher. Im London-Bild des dritten Akts steckt sie sich eine Zigarre in den Mund. Am Ende häufelt sie ein Bett aus Asche, auf dem sie mit ihren verbrannten Emanzipations-Hoffnungen dahin dämmert. Jack the Ripper hat da seine Trophäe Lulu schon mit Benzin getränkt. Und Lulu reicht ihm selbst das Feuer. Das Schlussbild ist dann eine kleine Göttinnen-Dämmerung. Flammen schießen aus dem Eisengestänge. Der Rest ist Erinnern, oft mit murmelnden Dopplungen.

Klugerweise greift Andrea Breth nicht auf die von Friedrich Cerha schulmeisterlich ergänzte Partitur von Bergs unvollendet hinterlassener „Lulu“ zurück. Außer dem Prolog ist auch das Paris-Bild gestrichen. Für die Übergänge hat Musikchef Daniel Barenboim von David Robert Coleman aus dem Particell eine eigene Fassung herstellen lassen. Diese bleibt kammermusikalisch ausgedünnt, lässt durch den Einsatz von Steeldrums und Vibrafon gelegentlich an den Klang früher Musikautomaten denken. Dramaturgisch entsteht dennoch nicht die von Breth erhoffte Dichte. Die Figuren, mit Ausnahme der Frauen, bleiben ohne Profil. Zumal im London-Bild schleichen immer wieder Schlapphüte durch die Szene mit ständig repetierten Aktionen à la Wilson. Viel Beckett und Godard scheint mitassoziiert.

Musikalisch gelingt die Aufführung grandios. Barenboim disponiert im Graben die Staatskapelle höchst differenziert. Mojca Erdmann ist eine Lulu von engelhafter Leichtigkeit auch in den Spitzentönen. Deborah Polaski gibt eine Geschwitz mit eminenter Ausstrahlung. Michael Volle ist als eifersüchtiger Ehemann Dr.Schön und Jack the Ripper der abgebrühte Lulu-Pate und Hin-Richter. Begeisterter Beifall denn auch am Ende für die Sänger, fürs Orchester und für Barenboim. Andrea Breth und ihr Team mussten auch heftige Buhs einstecken. Die Regisseurin, deren „Wozzeck“ vor einem Jahr am gleichen Ort umjubelt war, trug es mit Fassung, und Barenboim stellte sich ihr demonstrativ zur Seite.

Einmal mehr erweist sich die Bergsche „Lulu“ als ein Brocken, der heute thematisch kaum sinnvoll zu stemmen ist. Für die an Höhepunkten ohnehin nicht gerade gesegnete zweite Saison der Berliner Staatsoper im Schiller-Theater leider kein dicker Pluspunkt auf dem Konto.


Revolution im Kabuff

Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ im Kraftwerk Mitte

01.März 2012

Zweifellos ein Event. In einem von Arbeitern und Maschinen entkernten Kraftwerk hält man nostalgischen Rückblick auf vergangene Revolutionen und ihre Männer, ihre Feinde und vor allem Frauen. Die der Pariser Commune, Bismarck, Lenin, Tania Bunke, die Geliebte des „Che“, und andere paradieren.

In kleinen Kabuffs schreiben sie mit Tinte und Feder oder klapprigen Schreibmaschinen auf Zettel oder verbrennen sie, putzen Waffen oder stopfen sie mit Pulver, waschen Wäsche, Gesicht und Hände. Das alles videogefilmt und live auf einen riesigen, marmorierten Screen über der Bühne projiziert.

Dazu Luigi Nonos Musik, mit oft kompakten Bläser-Tutti oder schrillen Klängen vom Band. Im Graben die Staatskapelle, an der Seite der Staatsopernchor. Die Frauen dürfen auch schon mal mit roten Blumen wedeln und die dann an einem Grab niederlegen. Die vier Protagonistinnen singen – immer am oberen Limit – ihre Partien, nachdem sie sich immer neue Einweghandschuhe angezogen haben.

Bei der Uraufführung in Mailand anno 1975 war das ein Politikum. Claudio Abbado dirigierte, Jurij Ljubimov, der berühmte Chef des Taganka-Theaters, inszenierte – man hatte zu kämpfen gegen die Moskauer Bürokratie, ihn frei zu bekommen. Und später wechselte Ljubimov ja in den Westen. Eher ein Oratorium, ein Memorial war das, wie es Nonos Intentionen auch entsprach.

In der von den Salzburger Festspielen 2009 übernommenen Produktion der Berliner Staatsoper zeichnet Katie Mitchell verantwortlich für die Regie. Aber ist solch abgefilmtes Theater, bei dem auf der Bühne vor allem „funktionale“ Bewegungen – der Kameraleute mit ihren Stativen, der Sänger/-innen für einen Standpunkt A oder B – zu beobachten sind, überhaupt Theater?

Die Aufmerksamkeit, so sie überhaupt ein Zentrum findet, ermüdet schnell. Und der Eindruck verfestigt sich, dies Stück in dieser Form und in dieser Inszenierung hat mit uns heute nichts mehr zu tun. Revolutionskitsch, meinte jemand. Mitchell behauptete auf eine entsprechende Frage zwar, sie inszeniere sehr wohl im Sinne Nonos: sie fragmentiere und arbeite mit modernen Mitteln.

Das ist’s dann aber auch. Und all die Promis bis hin zum Regierenden und zum Kulturstaatsminister, die sich in die Kraftwerksgrüfte begaben, schauten eher verdutzt aus der Wäsche. Der Event? Es gab Sekt. Und mit Plakaten war ja so gepowert worden, dass alle fünf Vorstellungen ausverkauft sind. Ingo Metzmacher, der Dirigent des Abends, und alle musikalisch Beteiligten durften einen souveränen Erfolg einfahren. Die ausgeklügelte Technik klappte exzellent. Ein Vorstoß in neue Welten war das nicht, eher ein Gründeln im Gestern und Vorgestern mit spitzen Fingern.


Mit Feta und Quax in die Plutokratie

Philipp Stölzl rubbelt an Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“

16.Dez. 2011

Brandaktuell fängt das ja an, denkt man. Da kommt die öffentliche Meinung auf die noch fast leere Bühne, schwadroniert was von Moral, Werte-Orientierung, korrekter Buchführung und so. Allerdings geht’s um ein Vorzeige-Ehepaar, das sich nun leider auseinander gelebt hat: Orpheus & Eurydike. Keinesfalls dürften sie sich trennen, fordert die öffentliche Meinung – derweil Madame in Erwartung neuer Amouren sich schon BH und Schlüpfer abstreift; und als ihr Mann, der Geiger Orpheus, sie entdeckt, zertrümmert sie seine teure Guarneri, sodass er darauf nur noch ein paar Cage-Geräusche trommeln kann.

Kräftig haben Regisseur Philipp Stölzl und Texter Thomas Pigor Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ umgerubbelt. Die von Stölzl mit Conrad Moritz Reinhardt entworfene Bühne ist ein auffaltbarer Popup-Scherenschnitt. Das Orchester ist geschrumpft zu einer Combo à la Weills „Dreigroschen“-Sound. Christoph Israel hat die Partitur bearbeitet und lässt statt Offenbachscher Meyerbeer-Parodien eher mal Wagners Blumenmädchen säuseln. Stölzl, der hier zum ersten Mal an Berlins Staatsoper arbeitet, verweist als cleverer Werbefilmer so schon auf sein nächstes Wirken ein paar Blocks weiter, wenn er im Oktober an der Deutschen Oper (wo er schon den „Rienzi“ stark rupfte) die Intendanz von Dietmar Schwarz mit „Parsifal“ einläuten soll.

Offenbach und seine Textdichter Halévy und Crémieux verstanden „Orphée aux enfers“, so der Original-Titel, 1858 als satirischen Angriff auf die Verkommenheit des zweiten französischen Kaiserreichs. Aber erst durch eine Polemik gegen diese Operette, bei der der Komponist in seinem kleinen Theater der Bouffes-Parisiens erstmals aus dem Vollen schöpfen konnte, wurde das Stück zum zeitgeistigen Renner. Selbst Napoléon III gab sich amüsiert. Der Spiegel, den Stölzl und sein Team ihrem Publikum vorhalten, ist da notgedrungen etwas blind. Schon weil das Ironisieren antiken Kulturguts keinen Stachel mehr löckt. Man kann da nur hoffen, dass so ein Abend wenigstens kurzweilig ist.

Stölzl und seine Ko-Regisseurin, die Choreografin Mara Kurotschka, versuchen es mit Anleihen bei den modernen Unterhaltungsmedien, wenn etwa eine Art Fernsehballett (der Frauenchor und einige Tänzerinnen) einen wogenden Blumenteppich knüpft, in den der als Fetakäse-produzierender Schäfer verkleidete Pluto sich mit der zu fast jedem Flirt bereiten Eurydike betten kann. Ben Becker gibt mit brummiger Stimme diesen später in Gründgens-Mefisto-Maske in seine höllischen Gefilde absteigenden Pluto. Luftiger Gegenpart, auch als gepanzertes Insekt am Bühnenhimmel schwirrend und mit einer schwäbelnden Juno am Telefon sich streitend, ist der hübsch krächzend an seinen Pfunden arbeitende Gustav Peter Wöhler. Den Orphée mimt Stefan Kurt, mal näselnd-gespreizt als kellnernder Theo Lingen, mal als Bruchpilot-Quax beim Absturz in die Plutokratie. Evelin Novak gibt die fast gemütliche Euridice, stimmlich durchdringend, die einzige Sängerin im Schauspieler-Ensemble.

Die kleine Combo, geleitet von Julien Salemkour, ist hinter der Spielfläche platziert; manchmal klappert’s ganz gehörig. Und obwohl fast alle Darsteller Mikrofon-gestützt agieren, versteht man nicht immer allen Text. Selbst nicht bei Cornelius Obonya, der plärrig öffentlichen Meinung. Die feinste und kleinste Partie hat Hans-Michael Rehberg als der von der Lethe-Plörre des Vergessens besoffene Styx in schwarzen Prinzenshorts (Kostüme: Ursula Kudrna). Intensiv aber knapp war der Beifall am Ende. Vielleicht auch weil man eine Paradenummer wie den Can-Can unkörperlich-verschämt hinter eine anonyme Kulisse verbannte. Prall überspringen wollte da kein Funke.



Amok um die Braut

Bedrich Smetanas „Verkaufte Braut“ („Prodaná Nevesta“)

19.Nov. 2011

Das Volk ist nicht tümlich, wussten schon Bedrich Smetana und sein Librettist Karel Sabina. Aber wie kann man die Suche nach nationaler Identität heute zeitgemäß darstellen? An der Berliner Staatsoper übergab man den Auftrag „Verkaufte Braut“ an ein Team aus Ungarn. Balázs Kovalik und Csaba Antal zeigen die tschechische Nationaloper gleichsam in einem multimedialen Museum. Ganz süffisant beginnt das. Zur Ouvertüre geht der Vorhang nur ein Drittel hoch. Man sieht Beine in roten Strick-Strümpfen, Ansätze von Kniebundhosen, Säume von bunten Röcken (Kostüme: Bettina Walter). Es wird ein bisschen getanzt, geschuhplattelt, ein Baumstumpf zersägt, ein Opa im Schubkarren vorbeigekarrt, auf einem Baumstamm gleichsam Bob gefahren.

Dann geht der Vorhang hoch. Man blickt in eine Art Heimat-Museum mit fahrbaren Vitrinen. Zwei über Eck gestellte Bildwände mit raumfüllenden Böhmerwald-Fotos öffnen sich. Die reich bestickten Brautmoden werden ausgestellt, Brauchtum demonstriert wie Gänserupfen, Entenstopfen, Fleisch durch den Wolf und in Därme zu Würsten drehen. Leicht ironisch geht‘s auch weiter in Balázs Kovaliks Inszenierung. Die Bühnenbild-Ästhetik seines Landsmanns Csaba Antal orientiert sich offensichtlich an moderner Computergrafik. Die einzelnen Szenen werden in vitrinenartige Fenster zerlegt, die Bilder auf Wägen herein- und wieder hinausgefahren.

Da ist der Kuhstall, in dem der leicht autistische Wenzel oder Vašek eine Kuh zu melken versucht als suchte er wie ein Automechaniker unter dem Wagen nach dem Euter. Da ist die Dorfkirche mit dem verschiebbaren Dachgiebel, an dem das Liebespaar Marenka und Jeník zum nächtlichen Stelldichein sich trifft. Da ist das niedliche Heim von Marenkas Eltern, bei denen der Hochzeitsvermittler Kecal sich selber zum Essen aus der Kühltheke einlädt. Etwas spannungslos geht es weiter mit hin- und hergeschobenen Szenenfenstern, Trachtentanz, Biergarten. Tiefgang gewinnt die Inszenierung erst gegen Schluss, wenn der verschüchterte Wenzel/Vašek aus seinem zwischenzeitlichen Engagement als Bärendarsteller beim Wanderzirkus „Adler“ aussteigt, mit der Pumpgun wild um sich schießt und in die Psychiatrie eingeliefert wird.

Der verschollene Bruder Hans/Jeník hat sich mittlerweile zu erkennen gegeben. Den Brautwerber Kecal hat er blamiert, der meinte einen Coup gelandet zu haben, indem er ihm die Braut Marenka für 300 Gulden abluchste für den vermeintlich einzigen Sohn des reichen Bauern Micha. Aber bei Marenka hat es doch auch einen Ruck gegeben. Im Schlussbild lässt sie ihren einstigen Geliebten Jeník am Rand sitzen, wendet sich sehnsuchtsvoll dessen Bruder Vašek zu, der in seinem Käfig rot-grüne Bäume an die Glaswand malt.

Was der Aufführung fehlt, ist eine Personenregie. Regisseur Kovalik ersetzt die mit seiner Bühnenwagen-Verschiebe-Technik, was etwas erinnert an Heiner Müllers Stasi-Spottgedicht über die Liebes-Fähigkeit von Schreibtischen. Auch gesungen wird nur zum Teil gut. Herausragend Pavlo Hunka als Aktenköfferchen tragender Brauthandels-Vertreter Kecal mit warmem Timbre wenn auch etwas schwachen Tiefen. Auch Florian Hoffmann als naiver Wenzel und Burkhard Fritz als gerissener Hans können überzeugen. Eine glatte Fehlbesetzung Anna Samuil als Marenka/Marie. Mit ihrem vibrato-intensiven dramatischen Sopran fehlt ihr alles Leichte für die von Bedrich Smetana ja als operettenhafter Anti-Wagner gedachte „Verkaufte Braut“.

Karl-Heinz Steffens am Pult leitet die Staatskapelle „preußisch“ straff und oft mit zu wenig Feingefühl. Nicht immer sind Bühne und Graben zusammen. Am Ende des dann doch etwas langen Abends neben ein paar schüchternen Buhs freundlicher Beifall für eine zu selbst-gefällige Inszenierung.


Maßstäbe gesetzt

Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ in einer Inszenierung von Patrice Chéreau zur Saisoneröffnung 2011/12

03.10.2011

Man sieht es ihr kaum an. Aber diese Inszenierung von Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ ist vier Jahre alt. Immer wieder hat Regisseur Patrice Chéreau mit den jeweils neu hinzugekommenen Sängern daran gefeilt. Zuerst herausgebracht bei den Wiener Festwochen 2007, wanderte sie weiter nach Amsterdam, zum Festival in Aix-en-Provence, an die Met und an die Scala. Nun also Berlin als letzte Station.

Die Bühnenmaße der im Schillertheater residierenden Staatsoper sind glücklicherweise fast die gleichen wie beim Theater an der Wien, für das Chéreau seine Inszenierung und Richard Peduzzi das aus verfahrbaren hohen „Beton“-Mauern gebaute Bühnenbild zunächst entworfen haben. Neu im Graben Sir Simon Rattle. Der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, der zum dritten Mal am Haus arbeitet, hält die Staatskapelle an zu forschen Tempi, schärft den Klang zu schroffen Gebirgen. Nicht immer gelingt das den Musikern ganz sauber, zumal in den hohen Lagen der Violinen.

Janáčeks Oper über das Leben und Leiden in russischen Straflagern der Zarenzeit bekommt in Chéreaus zu Recht hochgerühmter Inszenierung spürbare Härte. Chéreau hat viele Details der Roman-Vorlage von Fjodor Dostojewski in seine höchst konturierte Personenführung eingebaut. Hart wird da gestritten um den besten Platz bei der spärlichen Essensausgabe. Übel spielt man dem besser gestellten Neuankömmling mit, dem dann aber nicht nur die Füße sondern auch die Hände in Ketten gelegt werden. Von fast satirischer Schärfe die Pantomimen des 2.Akts beim Theater zum Feiertag. Etwas schwächer ist der Schluss-Akt.

Am Ende lang anhaltender Jubel für diese geschlossene Ensemble-Leistung. Auch wenn man skeptisch sein sollte über solche Importe zumal am Spielzeitauftakt – diese Aufführung von Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ hat doch Spielzeit-Maßstäbe gesetzt.


Schöner träumen

Die Berliner Opernbühnen am Saisonschluss - eine Bilanz

15.Juli 2011

Zum Saisonende noch ein Wink, wie das Musiktheater sich weiter entwickeln könnte, wenn es mehr sein will als Thesen-, Dramaturgen-, Design- oder Ausstattungs-Theater. Peter Eötvös‘ Oper „Tri sestri“ (nach Tschechows „Drei Schwestern“) kam da ins Berliner Schillertheater. Die mit der Theaterakademie München koproduzierte Aufführung wurde gezeigt im Rahmen des kleinen Festivals „Infektion!“, bei dem die Staatsoper einige ihrer Produktionen mit zeitgenössischem Musiktheater bündelt samt informativem Symposion. „Tri sestri“ wurde von der früheren Cranko-Tänzerin und Choreografin Rosamund Gilmore inszeniert, fantasievoll, aus der Musik heraus, körperlich-spielerisch, vielleicht etwas überästhetisiert – ein Kontrast jedenfalls zu der szenisch stumpfen, jetzt nochmal hervorgeholten Uraufführung der Christoph-Schlingensief-Gedächtnis-Oper „Metánoia“ am Saisonbeginn. Im Programm auch die mit Brüssel koproduzierte neue Oper von Toshio Hosokawa „Matsukaze“, für die Sasha Waltz als Regisseurin und Choreografin verantwortlich zeichnet. Waltz‘ Ansatz freilich ist ganz anders; sie ist fokussiert auf ihr Tanzensemble.

Das Gegenteil eines von innen heraus bewegten, zum Mitdenken einladenden Musiktheaters präsentierte die Komische Oper. Calixto Bieito inszenierte Francis Poulencs Märtyrerinnen-Drama aus dem Umfeld der Französischen Revolution, „Dialogues des Carmélites“. Ein Paukenschlag sollte das sein und Pendent gleichsam zu des Hausherren Andreas Homoki munterem Saisonauftakt mit den „Meistersingern“. Indes erlebte man den Regie-„Berserker“ Bieito, bar der bei ihm sonst üblichen Zutaten von Blut und Sperma, eher spröd ja dröge mit reichlich konventionellem Rampentheater, die Bühne zugestellt mit einem Gitter-Konstrukt (Rebecca Ringst). Kirche und Kloster sind ein Gefängnis, sollte das heißen, eine umwerfend tiefschürfende Idee. Spannend wird‘s erst am Schluss, wenn die Karmelitinnen als „Huren Gottes“ sich unter die Guillotine legen. Das Publikum beklatschte den Abend freundlich, vor allem aber die „Marke“ Bieito.

Bedrückend, was die von der Deutschen Oper scheidende Intendantin Kirsten Harms als letzte Novitäten ihrer Amtszeit präsentierte: Eine stocksteife Einrichtung von Camille Saint-Saëns‘ „Samson et Dalila“ durch den Regisseur Patrick Kinmonth (koproduziert mit dem Theater Genf) und den Import eines dreizehn Jahre alten Verdi-„Macbeth“ von Robert Carsen. Die Oper als blutleeres Museum – sollte das die „Große Oper“ sein, die das Haus so gern plakatiert? Und auch die beiden Produktionen, die zuvor der neue GMD Donald Runnicles verantwortete, hatten bloß musikalische Meriten. Für Berlioz‘ „Trojaner“ holte sich Runnicles als Monumental-Szeniker David Pountney, der prompt die Bismarckstraße mit dem Bodensee verwechselte. Bei „Tristan und Isolde“, seiner zweiten Premiere, bat Runnicles Graham Vick ans Regiepult. Der füllte das Personal mit zahllosen Nebenfiguren an, ohne das Werk auch anzureichern. Bewundern durfte man Petra Maria Schnitzer als Isolde mit ihrem luziden Sopran.

Ein Auf und Ab war denn auch das verlässlichste Merkmal der nach sieben Jahren endenden Intendanz von Kirsten Harms. Trotz interessanter Ausgrabungen überwogen die Enttäuschungen, auch wenn die Publikumsfrequenz zuletzt wieder nach oben drehte. Ob das in der kommenden Saison anhält, bleibt fraglich. Das von Runnicles als Quasi-Intendant vorgestellte Programm bestätigt die alte Erfahrung, dass gute Dirigenten selten auch gute Theaterleiter sind. Zudem muss das Haus wegen weiterer Rekonstruktions-Arbeiten zeitweise geschlossen werden. Und was danach kommt, wenn 2012 Dietmar Schwarz aus Basel nach Berlin wechselt? Seine Basler Linie wird Schwarz an der Deutschen Oper kaum fortsetzen können. Eine Kammerbühne möchte er dem Haus angliedern, war zu hören. Ankündigungen derart gibt es variantenreich seit dreißig Jahren. Schön wenn es diesmal klappte.

Eher über- als unterfordert hat Intendant Jürgen Flimm in seiner ersten Spielzeit den Staatsopern-Apparat. Mit der Werkstatt hat er sich zudem eine kleine Bühne organisiert, deren Angebot bislang allerdings nur begrenzt überzeugte. Punkten will Flimm nun mit prominenten Namen, vor allem mit Daniel Barenboim (68), der soeben seinen Vertrag bis 2022 verlängerte. Sorgen bereiten die gesunkenen Besucherzahlen. Das Haus liegt nicht an der touristischen Flaniermeile. So plant Flimm kommende Saison auch den Zukauf andernorts gefeierter Produktionen (ein neuer Trend?), inklusive einiger Reste seiner vorzeitig abgebrochenen Salzburger Amtszeit. Mit einer Ticketbox Unter den Linden und Bustransfer hofft man die Besucherzahlen wieder zu liften. Ohnehin verzögert sich die Sanierung der Staatsoper, wie Berlins aus Zürich kommende Senatsbaudirektorin Regula Lüscher kürzlich bei einer Begehung der Baustelle erläuterte. Bei der Prüfung der alten Fundamente ist man auf Einbauten gestoßen, die Umplanungen erfordern. Erst 2014, ein Jahr später, wird das Lindenhaus wieder eröffnet.

Von dem geschlossenen Lindenhaus profitiert die Komische Oper. Für die nächste Spielzeit verspricht sie das auf dem Papier interessanteste Programm. Andreas Homoki versammelt vor seinem Abgang nach Zürich noch einmal einige Matadore des Regietheaters alter Schule. Ob es das Zuschauvergnügen nachhaltig fördert? Alexander Kluge sprach mal von Theater als „wissender Naivität“. Aufgesetzte „Konzepte“, handwerklich oft mangelhaft, ohne Gefühl für Raum und Bewegung, verfangen beim Publikum immer weniger – wie an dem Haus zuletzt zu sehen mit einem krampfigen Mozart-„Idomeneo“ in der Regie des als Jungstar hofierten Benedikt von Peter. Musik-Theater – mit Akzent auf beiden Teilen des Begriffs – wäre was anderes. Dazu bedürfte es differenzierter szenischer Mittel und Fähigkeiten.

Bei Barenboims Vertragsunterzeichnung meinte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, jetzt wo die Strukturen gefestigt sind, könne man wieder mehr über Künstlerisches reden. Sogleich gestellte kritische Anfragen indes blieben unbeantwortet. Als „Opernhauptstadt Berlin“ werben die drei Häuser auf einem gemeinsamen Plakat allmonatlich für sich. Nur ein schöner Traum?


Hinter der Brecht-Gardine

Bernsteins „Candide“ als hübsches Design-Festival

24.Juni 2011

Die Ouvertüre kann man immer mal wieder in den Radioprogrammen hören. Dem ganzen „Candide“ begegnet man nur noch selten auf der Bühne. Als Menetekel gegen die nach dem zweiten Weltkrieg von dem Senator McCarthy veranstaltete Hexenjagd auf alles, was „links“ erschien, wollte Leonard Bernstein seine „Comic Operetta“ verstanden wissen. Voltaires Satire auf Leibniz und dessen Dictum, dass alles in der Welt gut weil von Gott sei, schien dem großen Dirigenten und Komponisten und seiner Librettistin Lillian Hellmann die geeignete Vorlage. Voltaire hatte seinen „Candide“-Roman geschrieben unter dem Eindruck des fruchtbaren Erdbebens von Lissabon, 1755, das die ganze Stadt zerstört und tausende Menschen zerquetscht hatte. Das sollte Gottes Wille sein? So wandert der junge Naive, Candide, mit seiner Geliebten Cunégonde, getreu den Sentenzen ihres Lehrers Pangloss, die Welt sei ein einziges Paradies, durch selbige bis nach Südamerika und zurück. Aber was sie finden, ist Elend und Zerstörung. So wollen sie am Ende bescheiden nur noch ihren Gemüsegarten beackern.

Regisseur Vincent Boussard, seine Ausstatter Vincent Lemaire (Bühne) und Christian Lacroix (Kostüme) packen das in seinen sehr schicken designerhaften Rahmen. Die Szenen werden getrennt durch eine schwarz-bunte Commedia-dell‘-arte-Brecht-Gardine. Um die wannenartige Bühne steht oben auf der Empore der Chor als Kommentator. Pangloss verschwindet immer mal wieder in einem Pappkarton, während Candide mehr beobachtend als handelnd die verschiedenen Schauplätze erkundet. Am Ende landet man in Venedig in einem Hospital mit einem „Garten“ aus Krankenbetten. Die Welt ist rettungslos verloren, soll das womöglich heißen. Aber es bleibt doch sehr an der Oberfläche, von einem Gag zum nächsten hüpfend.

Musiziert ist das unter der Leitung von Wayne Marshall exzellent. Die Staatskapelle kniet sich süffig in Bernsteins Partitur. Leonardo Capalbo gibt den glänzend in allen Lagen disponierten Candide. Maria Bengtsson als seine Cunégonde weiß sich trefflich zu räkeln im Paris-Bild, klingt aber manchmal etwas kehlig. Als komisch-satirisches Ur-Talent zeigt sich Graham F. Valentine als Pangloss. Raffiniert das Licht von Guido Levi und die dezenten Videos von Isabel Rosson. Insgesamt wirkt Bernsteins Satire von 1956 heute aber doch etwas langatmig, wenig pointiert und hier wie ein juxig-bunter Bilderbogen. Das Premieren-Publikum jauchzte. Eine Vertonung des Voltaire-Stoffs, die 1986 Reiner Bredemeyer für Halle komponierte mit Gerhard Müller als Librettist, war da freilich ungleich konziser. Kennt das noch jemand?


Ausflug ins Mädchenpensionat

Mit der „Walküre“ setzt die Staatsoper ihren Video-„Ring“ fort

17.April 2011

Musikalisch hat diese „Walküre“ sehr hohes Niveau. Impulsiv und mit viel Sinn für die Feinheiten der Partitur dirigiert Daniel Barenboim Wagners Musik. Das beginnt schon mit dem allerersten Vorspiel, das die Jagdszenen verdeutlicht, Hunding kontra den aufmüpfigen Wälsung Siegmund. Es setzt sich fort in der Begegnung der Zwillingsgeschwister Siegmund-Sieglinde, der Auseinandersetzung Wotans mit Fricka und dann mit Brünnhilde. Schließlich mit den Walküren. Immer ist da zu spüren eine enorme Klangsinnlichkeit und Durchsichtigkeit. Nie überdeckt das Orchester die Stimmen. Immer ist auf Textverständlichkeit geachtet.

Mit René Pape hat man allerdings auch einen Wotan, der in der Welt konkurrenzlos ist an differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten und Stimmkraft. Fabulös wie er in allen Stimmlagen die Partie bewältigt. Am ehesten noch Anja Kampe als leuchtend klare Sieglinde kann Ähnliches bieten mit ihrem schlanken und doch durchschlagskräftigen Sopran. Simon O’Neill als Siegmund singt leider nur vor allem laut. Erstaunlich der noble Hunding von Mikhail Petrenko, aber auch die Fricka von Ekaterina Gubanova. Von Iréne Theorin als Brünnhilde wünscht man sich etwas mehr Stimmkultur.

Szenisch bleibt in dieser – nein Inszenierung kann man das ja wirklich nicht nennen – Video-Einrichtung alles wie im „Rheingold“. Wechselnde Video-Farbwände mit einem hervor krakenden Glas-Bungalow als Hundings Hütte und seltsam bedeutungsschwangeren Schattenspielen, wenn jemand auftaucht. Der Wald des zweiten Akts sind staketenartige Pfäle, auf die Waldgrün projiziert wird – noch am akzeptabelsten. Wotan steht ausdauernd unter einer Weltkugel aus sich drehenden weißen Ringen, auf die Fotos (wohl) aus dem Wotan-Familien-Album projiziert werden.

Fürs Walküren-Mädchenpensionat werden ein paar Kistenstümpfe ausgefahren, über die die Damen mit ihren Pferdeschwanzartigen Kleidern (Kostüme: Tim van Steenbergen) wie Vögelchen hüpfen. Und Brünnhilde wird in ihren Tresor gebettet mit roten Laserlicht-Schnüren und einer Art Infrarot-Lampen-Batterie, damit sie nicht friert. Minimalste personen-regieliche Regungen zumal bei Wotan oder auch beim ersten Kuss des Zwillingspaars sollen das Manko überdecken.

Aber auch nach der „Walküre“ bestätigt sich der Eindruck von „Rheingold“: es war ein schwerer Fehlgriff, das belgische Team um Guy Cassiers und Enrico Bagnoli mit dieser Mailand-Berliner Koproduktion beauftragt zu haben. Ein Buhkonzert fürs Team wies den Verantwortlichen – wer immer es war/ist – den Weg.


Wie im Stummfilm schwarz-weiß

Daniel Barenboim und Andrea Breth mit Alban Bergs „Wozzeck“

16.April 2011

Streng, geradezu hermetisch, ohne Farbtupfer in einem grau-grünlichen Schwarz-Weiß – das ist das äußere Setting. Die Eröffnungsszene, wenn Wozzeck den Hauptmann rasiert, spielt in einem trapezförmigen halbhohen Gitter-Verschlag. Der Hauptmann sitzt da gestikulierend hinter zwei Tischchen. Wozzeck springt nervös, leicht gebückt wie ein halb geöffnetes Klappmesser um ihn herum. Wenn der Hauptmann ihm erklärt, was Moral ist, muss Wozzeck sich über den Tisch beugen und die Stiefel des Hauptmanns auf seinem Rücken fühlen. Der bräunliche Latten-Verschlag und die in mattiertes Seitenlicht getauchten Figuren bleiben das Grundmuster der Aufführung. Marie haust in dem Verschlag mit dem Kind, empfängt dort den Tambourmajor. Wozzeck bleibt hinter dem Rost, wenn er seine Löhnung fürs Bohnenfressen abliefert. Vom Doktor lässt er sich in dem Kabuff die grüne Brühe übers Gesicht gießen, und wieder abspülen. Mit Andres häutet er dort Hasen.

Die Szene weitet sich zu einem karussell-artigen Hexagon, wenn Hauptmann und Doktor miteinander über Wozzeck debattieren. Es ist der Ort für die Kirmes, ein Armeleute-Vergnügen rund um die Kloschüssel, und der Ort für die Kasernen-Szene. Wenn Wozzeck die Marie ans Wasser lockt, um sie zu töten, ist die Bühne leer geräumt. Und dann im Schlussbild kreist dort wieder sehr langsam das Karussell. Aber man sieht nur noch das ausgeweidete Gestänge. Und das Kind hoppelt auf einem Wischmopp als Stecken-Pferdchen. Fast wie ein Schwarz-Weiß-Stummfilm läuft das ab mit Blacks als harten Cuts. Bewusst haben sich Andrea Breth und ihr Bühnenbildner Martin Zehetgruber auf die Ästhetik der Zwanziger-Jahre-Entstehungszeit von Alban Bergs Opern-Fassung des Büchnerschen „Wozzeck“ eingelassen. Genial findet Breth diese Bergsche Fassung, mit der der Komponist die Büchnerschen Fragmente überhöht und auf einen „Kothurn“ gestellt habe, weswegen sie sich an das Schauspiel auch nie wagte.

BRETH: Diese Tiefe kommt durch die Musik und das hohe Verständnis von Berg, was Dramatik und Theater angeht – das ist ein solches Faszinosum. Man wird eher ohnmächtig, wenn man daran arbeitet, weil die Messlatte so hoch hängt, dass man jeden Tag von der Probe geht und sagt, ich laufe immer noch zu Fuß, statt dass ich schwebe.

Daniel Barenboim am Pult nimmt das Orchester so sehr zurück, dass Textverständlichkeit fast durchgehend garantiert ist. Nur bei den symphonischen Zwischenspielen lässt er die Staatskapelle voll ausspielen. Sängerisch kann die Produktion allerdings nicht mit höchstem Niveau prunken. Nadja Michael ist zwar eine gelenkige Marie, ihr stimmliches Vibrato passt allerdings wenig zu der Partie. Roman Trekel als hochgewachsener, glatzköpfiger Wozzeck bringt sein enormes Darsteller-Vermögen ein, ihm mangelt es aber etwas an stimmlicher Wärme. Gute Figur machen Graham Clark als hustengeplagter Hauptmann und insbesondere Pavlo Hunka als am „menschlichen Material“ experimentier-wütiger Doktor. Was der Aufführung insgesamt fehlt, ist die unterschwellige lakonische Ironie der Büchnerschen Vorlage. Gleichwohl gelingt es Breth über die gesamten hundert Minuten mit körperbetontem Spiel ein dichtes Feld von Spannung zu erzeugen. Am Ende einhelliger Jubel für das gesamte Team. Und das ist selten geworden in dem Haus.


Auf Messers Schneide

Henzes „El Cimarrón“ halbszenisch

18.02.11 - Werkstatt

Das Stück gehört zu den avanciertesten, die der bald 85-jährige Hans Werner Henze geschrieben hat. Virtuos verbindet er hier politisches Anliegen und moderne Musiksprache: vor allem in der Behandlung der Stimme mit einem höchst expressiven Sprechgesang und dem alle vier Mitwirkenden fordernden Spiel des dominanten Schlagzeug-Apparats.

1969/70 ist “El Cimarrón“ entstanden. Es erzählt die Lebensgeschichte des Cimarrón Esteban Montejo. Cimarrón nannte man in Kuba einen aus der Sklaverei entflohenen Schwarzen. 1886 erst wurde die Sklaverei in Kuba abgeschafft, nach jahrzehntelangem Guerillakampf. Zwölf Jahre später, als die Spanier die Insel aufgaben, rückten die Amerikaner nach. Kuba wurde Protektorat. Esteban kam schon als kleiner Junge in die Sklaverei auf einer Zuckerrohr-Plantage. Später floh er in die Wälder. Als die spanischen Kolonisatoren die Insel verließen, kehrte er zurück in die Stadt. Aber er merkte: das Leben jetzt war auch nicht viel besser. So ging er wieder aufs Land. Von einer neuen Brüderlichkeit unter den Menschen konnte er nur träumen.

Der kubanische Schriftsteller, Ethnologe und einstige Castro-Freund Miguel Barnet hatte 1963 den damals über hundertjährigen Cimarrón Esteban Montejo aufgespürt und seine Geschichte dokumentiert. Hans Magnus Enzensberger filterte daraus für Hans Werner Henze ein Libretto in fünfzehn Lebens-Stationen: Ein suggestiver Monolog in Ich-Erzählform. Castros Kuba war damals eines der gelobten Länder der europäischen Linken. Henze, auf der Suche nach Möglichkeiten für eine neue Kultur politisch intendierter Musik, reiste selbst voller Begeisterung auf die Zuckerinsel. Der Autor Barnet indes bekam schon bald das bittere Salz der Castro-Revolution in deren Gefängnis-Gruften zu schlecken.

In der Werkstatt der Berliner Staatsoper im Schillertheater hat man sich nun halbszenisch an dem Recital versucht. Ein junges Team um die Musiker des Ensembles Quillo und die Regisseurin Sophia Simitzis setze das als einen bunten Bilderbogen aus den romantischen Tagen der Revolution in den schmalen Raum. Das 80-Minuten-Recital ist geteilt in zwei Hälften, was den Abend allerdings mehr aufbläst als gliedert und ihm viel von der inneren Dynamik nimmt. Zeichentrick-Einspiel-Filmchen sollen fehlende Spielmöglichkeiten ersetzen. Auch Hubert Wild als szenisch sehr präsenter Esteban kann das nicht auffangen. Wild erzählt die Lebensgeschichte Estebans durch den Raum streifend: im ersten Teil als gleichsam Tourist im weißen Tropen-Anzug, im zweiten Teil als Beteiligter in Uniform. Am Ende, wenn er der Stadt wieder den Rücken kehrt, sieht man ihn sitzen auf einer Schaukel, deren Sitzfläche seine Machete ist. Er wird deren Schneide wohl wieder wetzen, will das sagen. Aber das Liebste waren ihm doch ohnehin die Frauen. Sie waren das Beste in seinem Leben, sagt er. Und er hatte viele.

Insgesamt ist das erstaunlich unkritisch angelegt, ideenarm und dürr – wie die Verhältnisse auf der Zuckerinsel heute. Die von Staatsopern-Intendant Jürgen Flimm mit so viel Vorschuss-Lorbeeren gepushte kleine Reihe in der Werkstatt-Bühne kommt nicht so recht in die Gänge: Zu wenig Sorgfalt bei der Auswahl der Teams oder der präsentierten Stücke. Und vor allem auch in der Organisation. Manche Besucher gingen in der Pause. Und das bei dieser wunderbaren Musik. Da muss wohl einiges neu justiert werden.


Schatten und Licht

René Jacobs und Vera Nemirova mit „Antigona“ von Tommaso Traetta

30.01.2011

Berühmt war der aus dem südlichen Italien stammende Tommaso Traetta (1727-1779) einst als Opernreformer. Stilistisch markiert er den Übergang vom Barock zur Klassik. Die Aufführung seiner „Armida“ 1761 in Wien regte Gluck an zu seiner Reformoper „Orfeo ed Euridice“ im Jahr darauf. Man wollte zurück zu den Ursprüngen der Oper und dem, was man verstand unter griechischem Drama. Die Grenzen zwischen Rezitativ, Arie, Ensembles und Chören sollten fließend, die musikalische Dramaturgie dem dramatischen Fluss angepasst werden. Die Rezitative sollten eingebettet werden in den Gang der Handlung, also meist vom Orchester begleitet, Koloraturen in den Arien sollte es nur geben, wenn sie einen inneren Zustand ausdrücken nicht als Virtuosen-Beiwerk. Mozarts „Idomeneo“ wäre ohne Traetta und seine „Antigona“ kaum denkbar, auch wenn Mozart sehr viel mehr für Bläser instrumentierte – was ihm in Italien vorgeworfen wurde.

Entstanden ist die „Antigona“ 1772 für den Petersburger Hof von Katharina der Großen. Traetta und sein Textdichter Marco Coltellini rücken die Tragödie um Antigone ins Licht der Aufklärung, was musikalisch durch den Einsatz der Klarinette und die dafür genutzte Tonart Es-Dur als Tonart des Lichts unterstrichen wird. Das von der barocken Konvention noch geforderte „lieto fine“, das glückliche Ende, deuten sie um als Appell an die Vernunft der Herrschenden. Antigone, die entgegen dem Befehl von König Kreon den von ihm als Verräter gebrandmarkten Bruder Polyneikes bestattet, wird zwar auch hier zum Tode verurteilt. Aber Kreon erkennt, dass am Schicksal der Menschen nicht irgendwelche Götter schuld sind, sondern die Menschen selbst.

„Dieses Stück könnte eine Tragödie sein von Voltaire, es hat wirklich zu tun mit dieser Idee von Aufklärung“ sagt der Dirigent und Musikforscher René Jacobs. Traettas Oper hat er sich als zwanzigste Produktion für seine alljährliche Barock-Stagione an der Berliner Staatsoper ausgewählt hat. Schon lange schwebte ihm das vor. „Es gibt hier eine sehr große Abwechslung an unglaublich schönen Melodien, an Arienformen – also keine Arie hat die gleiche Form wie die andere – und sehr rührende Chöre.“ Traettas „Antigona“ war zu ihrer Zeit sehr berühmt, wie die zahlreichen Libretti-Nachdrucke bezeugen. In dem das Musikleben der Zeit reflektierenden Roman „Hildegard von Hohenthal“ (1795/96) des Thüringer Dichters Wilhelm Heinse wird auch immer wieder von diesem Werk als Muster italienischer Opernkunst geschwärmt.

Regisseurin Vera Nemirova misstraut allerdings dem „lieto fine“. Sie zeigt das Stück mehr aus der Sicht Antigonas und ihres Verlobten Haimon oder Emone und ihrer bedrohten Liebe. Die Bühne von Werner Hutterli ist reduziert auf einen als Tennis-Schiedsrichter-Stuhl geformten Thron, am Boden verstreute Tier-Felle und eine Grube als Grab. Zwischendurch immer wieder spielende Kinder sollen die glücklichere Vergangenheit und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft symbolisieren. Manches wirkt freilich eher aufgesetzt, trotz der Reduktion, zu der sich die Regisseurin hier durchgerungen hat, ohne doch schon zu einer eigenen Bühnensprache gefunden zu haben. Nemirova ist offenbar dabei, von ihrem Mentor Konwitschny abzurücken und sich neue Vorbilder zu suchen. Man sähe dann freilich lieber das Original. Die Figuren der Antigona und ihres Geliebten Emone wirken schwankend zwischen Widerborstigkeit und Larmoyanz. Klarer profiliert sind Antigonas Schwester Ismene und der König Kreon.

Die Musik Traettas bleibt trotz ihrer bemerkenswerten dramatischen Durchformung an Kraft doch weit hinter dem Genie Glucks oder gar Mozarts zurück. So wirkt der (fast strichlos) mehr als drei-stündige Abend langatmig, und erst im Schlussduett der Liebenden finden sich auch sensiblere Töne. Freundlich gefeiert wurden am Ende alle Beteiligten, insbesondere Dirigent René Jacobs und die Akademie für Alte Musik. Veronica Cangemi ist eine Koloraturen-leichte, wenn auch weniger dramatische Antigona. Der Counter Bejun Mehta gibt mit stimmlichem Schliff den Verlobten Emone. Jennifer Rivera ist die resolute Schwester Ismene, Kurt Streit der innerlich gespaltene König Kreon. Gewichtig die Chöre. Immerhin musikhistorisch ist Traettas „Antigona“ eine interessante Ausgrabung.


Etüden übers Kreuz

Brice Pauset: „Les Exercices du Silence“

15.01.2011 - Werkstatt

Eine junge Adelige im Frankreich des 17.Jahrhunderts hört den Ruf eines Bußpredigers. Sie wird sich ihrer „Sündhaftigkeit“ bewusst, wechselt ihre Identität und beginnt sich zu geißeln in Selbsterniedrigungen, bis sie, von Angstattacken und Gewalt gegen sich selbst gepeinigt, in der Nervenklinik des Hôpital Salpêtrière landet. Dort verdämmert sie mit Bettelweibern, Diebinnen, Prostituierten, erlebt in den Selbstkasteiungen wie dem Schlecken von Eiterwunden die Ekstase verfallenden Fleisches.

In seinem zweiten Bühnenwerk schickt Brice Pauset diese Louise du Néant auf einen 14-stufigen inneren Kreuzweg. Er lässt sie lallen, in Stimmen sprechen und auf Stimmen hören. Ein Klavier und live-elektronische Zuspielungen (IRCAM) sind neben der Vokalistin die einzigen Instrumente. Mit stupender Virtuosität verkörpert Salome Kammer diese Louise, die sich löst aus ihrer adeligen Herkunft, hinabgleitet in die Niederungen ihres Ich. Ein Pelzmantel, den sie abwirft, genügt in Reinhild Hoffmanns und Mark Lammerts Inszenierung in der Schillerwerkstatt, um die Ausgangsposition zu markieren. Der Kreuzweg ist symbolisiert durch eine schwarze Eisenstange, um die Louise sich windet, unter der sie sich begräbt. Ein rotes Seil, das sie ab- und wieder aufwickelt, ist der schmale Steg, auf dem sie gleichsam gen Himmel zu balancieren sucht.

Sichtbar wird in dem erst vor einigen Jahren wieder edierten Text ein höchst interessanter Aspekt religiöser Mystik – und Selbstzerstörung. Bewundernswert Salome Kammer als Solistin. Reinhild Hoffmanns Regie reduziert in diesen Etüden über das Kreuz das Geschehen minimalistisch zu einer Art Performance. Adäquat verfolgen kann man die nur, wenn man des Französischen mächtig ist oder das Programmheft ausführlich studiert hat. Pausets Musik für diese „Exerzitien der Stille“ ist doch etwas zu „schweigsam“, um die Aufmerksamkeit die vollen 55 Minuten lang fesseln zu können. Viel Beifall am Ende vom kleinen Premierenpublikum.


MacTeufel trifft Beelzebub

Warlikowski versucht sich an Strawinskys „The Rake’s Progress“

10.Dez. 2010

Das Stück scheint denn doch etwas in die Jahre gekommen. Die große Warnung vor den geheimen Verführern Sex, Glücksspiel, Drogen verpufft angesichts einer Gegenwart, in der man nur den Fernseher anstellen oder durch die Städte streifen muss, um das alles frei Haus geliefert zu bekommen. Möglich, dass Igor Strawinsky und seine Librettisten W. H. Auden und Chester Kallman nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Umweg über den Kupferstichzyklus von William Hogarth eine politisch allgemeinere Warnung vor den Schattenmännern und Einflüsterern à la Nick Shadow auf die Opernbühne bringen wollten. Auch musikalisch greift Strawinsky auf die ältere barocke und nachbarocke Form der Nummernoper für seine einzige abendfüllende Oper „The Rake’s Progress“ zurück, er misstraut dem für sein Empfinden ins Formlose ausufernden Wagnerschen Musikdrama.

Für die Neuproduktion des 1951 in Venedig uraufgeführten Werks hat die derzeit im Schillertheater residierende Berliner Staatsoper den polnischen Regisseur Krzysztof Warlikowski verpflichtet. Mit viel Live-Video-Groß-Projektionen der handelnden Figuren versucht er dem Stück einen modernen TV-Touch zu geben. Der Schatten-Teufel Nick, der es auf den ahnungslosen Tom Rakewell abgesehen hat, trägt hier Andy-Warhol-Maske, mampft im Schnellrestaurant seinen Burger und beobachtet Tom samt seiner Freundin Anne. Bald sitzen die und Annes Vater mit am Tisch, Nick lässt seine vor allem homoerotischen Verführungskünste spielen. Und ab geht’s in die große (Halb-)Welt. Der silbrige Wohnwagen von Puffmutter Goose mit goldenen Luftballons drin wird vorgefahren, die bärtige Jahrmarkt-Sensation Türken-Baba für eine Hochzeit staffiert – und im Auktionshaus samt Mickymäusen wieder verkauft. Am Ende träumt sich Tom im Irrenhaus als Adonis, der seine Venus Anne erwartet, nachdem er seinen Schatten ins Jenseits abgenickt hat. Und zur Verkündung der Moral à la „Don Giovanni“ reicht Anne ihr Baby herum. Ja wieso, soll man sich wohl fragen, ist Tom eigentlich aus seinem beschaulichen Landleben ausgebüchst?

Warlikowskis Standard-Ausstatterin Malgorzata Szczesniak hat in die mit viel Neonröhren und spiegelnden Materialien drapierte Bühne ein fahrbares Haus gebaut. In dessen Oberstübchen sitzt der Chor, meist allerdings verborgen hinter einer Leinwand, auf die die hand-video-original-verwackelten Bilder projiziert werden – wie auch auf zwei Bildschirme am Rand des Bühnenportals. Die Bilder suggerieren ständige Aktion, wo kaum eine ist. Die Choristen, sofern sie im Bild sind, dürfen hin und wieder mal von ihren Sitzen aufspringen und à la Marthaler absurde Aktionen starten, wie: den Kopf über die Brüstung hängen lassen, die Krawatte kämmen, mit dem Kopf die Wand durchbohren. Spannend ist das nicht.

Im weit hochgefahrenen Graben steht allerdings Ingo Metzmacher. Umsichtig, präzis leitet er die in Mozartscher Stärke besetzte Staatskapelle. Trocken-transparent durchleuchtet er Strawinskys barockisierende Partitur mit den modernen „Wischern“. Von den Solisten kann sich vor allem Anna Prohaska als zierlich-schmale Anne mit hellem Sopran hervortun. Florian Hoffmann ist zwar ein gelehriger Tom Rakewell, stimmlich fehlt es ihm etwas an Tiefe. Gidon Saks gibt den eher bramabarsierenden als flüsterstarken Nick Shadow. Nicolas Ziélinski ist als Counter die herbe Türken-Baba, Birgit Remmert die vollbusige Mother Goose. Die Aufführung verdeutlicht nicht nur die die etwas abgestandene Moral des Stücks, sie macht auch Längen spürbar. Zumal am Schluss, wenn Tom nach seinem Ausflug ins sumpfige Stadtleben wieder integriert werden soll. Da hängt die Dramaturgie durch, und die Regie hat kein Rezept. Kurt Weill mit seinen „Sieben Todsünden“ war da ungleich konziser.

Szenenapplaus gab es denn auch allenfalls bei einzelnen „fetzigen“ Musiknummern. Beklatscht wurden vor allem Metzmacher und die Sänger, höflich-verhalten der Beifall für Warlikowski und sein Team. Man hatte doch etwas mehr erwartet als den Versuch, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.


Im Wasserbad

Die Rheintöchter kommen über die Alpen geschwommen

17.Okt. 2010

Lust machen auf mehr soll der Vorabend des „Ring“-Zyklus – eigentlich. Nach diesem „Rheingold“ in der Version des belgischen Regisseurs und Bühnenbildners Guy Cassiers ist man eher skeptisch, was (in Kooperation mit der Mailänder Scala) kommt.

Von Inszenierung kann man ohnehin nicht sprechen. Ein Becken mit Rhein-Wasser, das Bewegung auf der Bühne eher bremst als verflüssigt, ist schon die „spritzigste“ Idee. Dazu der Modernität vortäuschende Video-Schnickschnack und neun Tänzerinnen und Tänzer dazwischen, die verdecken sollen, dass wir hier das gute alte Steh-Theater geboten bekommen. Die Sänger haben’s ja auch schwer, die Stege zwischen dem Wasserbecken zu treffen.

Eine kleine Mini-Ideen darf man dann doch noch goutieren: die Tarnkappe etwa wird durch die Tänzer visualisiert, die ansonsten eher sinnfrei im Raum fluktuieren; die als Projektion gedoppelten Riesen, die Klein-Freia auf Gullivers Tages-Reise abschleppen; der Loge als eine Art Professor Unrat, der nicht nur dem begriffsstutzigen Wotan den Weg zum Nibelungenschatz weist, sondern auch die Rheintöchter weckt, dass sie ihr Gold einklagen.

Immerhin hat man mit Johannes Martin-Kränzle einen mimisch wie gesanglich exzellenten Alberich. Hanno Müller-Brachmann gibt einen bürokratie-verdächtigen Wotan. Ekaterina Gubanova ist seine wachsame Gattin Fricka, Stephan Rügamer der das Salz in die Suppe streuende Loge. Daniel Barenboim leitet die Staatskapelle klangschön und umsichtig. Die Akustik des Schillertheaters erweist sich auch für Wagner als sehr transparent. Die Textverständlichkeit ist nie in Gefahr.

Am Ende viel Beifall für Sänger, Orchester und Dirigent. Fürs Inszenierungsteam (Kostüme: Tim van Steenbergen, Video: Arjen Klerkx und Kurt d‘Haeseleer) und die einfallslose Choreografie des sonst hochgerühmten Sidi Larbi Cherkaoui kräftige Buhs. Auch der amerikanische Dramaturg Michael P. Steinberg, der im Programmheft ernsthaft die These vertritt, erst Patrice Chéreau habe im „Ring“ die Realgeschichte des 19.Jahrhunderts entdeckt, hat wohl einigen Nachholbedarf.

Einmal mehr erweist sich die mit viel Tamtam vor Jahren gepriesene Kooperation mit der Mailänder Scala als teures Missverständnis. Künstlerisch nach „Don Giovanni“ und „Simon Boccanegra“ ist das bislang - mit Ausnahme vielleicht der „Spieler“ - ein totaler Flop.


Über das Denken hinaus ins unendliche Schwarze

Mit einer Uraufführung (Metánoia) und einem Einakter-Abend bezog die Berliner Staatsoper ihr Interims-Quartier im Schillertheater

03.Okt. 2010

Es ist jetzt das kleinste der drei Berliner Opernhäuser: die Staatsoper im Schillertheater, mit knapp tausend Plätzen vierhundert weniger als Unter den Linden, wo jetzt drei Jahre lang saniert wird. Gleich geblieben ist das Einnahmesoll, und so muss der neue Intendant Jürgen Flimm gehörig ums Publikum buhlen. Aber trommeln konnte er schon immer gut. Den Umzug von Mitte nach Charlottenburg gestaltete er wie Siegfrieds Rheinfahrt – als nächstes Großprojekt startet bald der mit Mailand koproduzierte „Ring“. Diesmal war’s aber nur die Spree, auf der man sich dem neuen Domizil näherte, mit Empfang durch die neue Nachbarin von der Deutschen Oper, Kirsten Harms, und Kinderchor.

Das Schillertheater ist jetzt aber auch das schönste der drei Berliner Opernhäuser. Frisch hergerichtet in hellen Farben mit einladenden Foyers, kann das Haus auch akustisch voll punkten mit seinen gewellten Wänden, der unterstützenden Elektronik. Und man fragt sich, wie die Stadt ein so schönes Theater hatte aufgeben können. Dass man es mit einer Uraufführung wieder eröffnete, war ein weiterer bemerkenswerter Akzent, kaum denkbar ohne das persönliche Engagement von Daniel Barenboim, der die Uraufführung auch selbst dirigierte.

Riskant, weil zwei Tage vor Proben-Beginn der Regisseur und spiritus rector des Projekts, Christoph Schlingensief, gestorben war. Einen Plan B hatte man nicht, sonst wäre Schlingensief ausgestiegen. Und Theaterarbeit war für ihn Lebensdroge. Man entschloss sich ohne neuen Regisseur als Team weiter zu machen – fünfzehn Köpfe, sie sind im Programmzettel etwas unübersichtlich aber in alphabetischer Reihenfolge genannt. Laut Assistentin Anna-Sophie Mahler sagte man sich: „Wir nehmen jetzt einfach alles, was es gibt, verleugnen aber auch nicht die Situation, dass jemand fehlt, und setzen die Sachen auf die Bühne.“ Als Modell für selbstbestimmtes Theatermachen möchte Dramaturg Carl Hegemann dies aber nicht empfehlen. Eine Inszenierung ohne einen steuernden Kopf? „Normalerweise ist das selbstzerstörerisch“, sagt er.

Als Basis für das Projekt hatte Schlingensief sich Friedrich Nietzsches „Geburt der Tragödie“ erbeten. René Pollesch sollte auf Anregung von Flimm den Nietzsche-Text à la Heiner Müller „überschreiben“, Pollesch nennt das „beballern“. Der Komponist Jens Joneleit destillierte daraus dann sein Libretto: „Metánoia – über das Denken hinaus“. Viel metá also. Joneleit, 42, kommt vom Jazz, ist auch Maler, erfreut sich der Förderung durch Pierre Boulez und Daniel Barenboim. Joneleits Musik ist impulsiv, er weiß für großes Orchester zu schreiben. Geschickt mischt er Live- und Elektronische Klänge; aufbereitet waren die vom SWR-Experimentalstudio Freiburg.

Die Schwäche des Werks oder „Werkzeugs“, wie Joneleit die Partitur neutralisierend nennt, ist das Libretto. Joneleits im Programmbuch formulierten ästhetischen Ansichten klingen modisch bis naiv. Unterteilt ist das Libretto in fünf Abschnitte. Joneleit nennt sie „Zustände“, ohne genauer zu definieren, was er damit meint. Ganz abstrakt sei er da rangegangen, habe keinerlei „bildhaften Charakter vorgeben“ wollen, sagt er. Inhaltlich geht es um den Widerstreit von dionysischem und apollinischem Denken, Rausch und Genuss contra Traum und Formalisierung. Was ist es, was uns treibt oder „infiziert“, wie Pollesch das nennt.

Die Frage, die Schlingensief trieb, war – fixiert auf seine Krankheit und deren absehbare Folgen –, wie man eine Haltung entwickelt, mit der man „das Sterben bejahen“ könne, so Dramaturg Hegemann. „Christoph wollte die Oper im menschlichen Körper spielen lassen. Die Sänger, Choristen, sollten Organe, Parasiten, Fremdkörper, irgendwelche Lebewesen im Körper sein. Er hat die ganzen Körperorgane von innen nach außen stülpen wollen.“

Die von Schlingensief fürs Bühnenbild vorgeschlagenen Organe sieht man im Bühnen-Hintergrund platziert, aber fast bis ganz zum Schluss nur als Schemen im Dunkeln. Erst gegen Ende werden sie erkennbar: Herz, Lunge, Gedärme. Ansonsten flimmern auf drei Bildwänden ständig Schwarz-Weiß-Filme. Der Chor ist nahe der Rampe auf Stufen postiert in gelblichen Ganzkörper-Trikots. Dazwischen die fünf Solisten in plastik-artig glänzend-hellen Kostümen. Der Rezitator, der zwischendurch Texte vorträgt, funzelt sich mit einer Taschenlampe ins Geschehen, erscheint im Antiken-Outfit wie eine wandelnde Statue.

Gelegentlich wandern einzelne Solisten ins Parkett oder auf die Ränge und singen dort ihre Phrasen. Insgesamt bleibt das Ganze aber doch sehr statuarisch, ist mehr szenisches Oratorium denn Musiktheater. So war auch der Schlussbeifall des Publikums für die Sänger, darunter so namhafte wie die Sopranistin Annette Dasch oder der Charaktertenor Graham Clark, am Ende der 70 Minuten eher höflich-verhalten. „Metanoia“ bedarf zur Erprobung wohl einer Inszenierung, die unbelastet ist von den aktuellen Umständen.

Anderntags dann die Einweihung der Werkstattbühne. Der Regisseur Michael von zur Mühlen durfte da seinen Privatmythen frönen. Als Folie nahm er sich zwei Einakter vor: von Peter Maxwell Davies „Miss Donnithorne’s Maggot“ und von Salvatore Sciarrino „Infinito nero“. Bei Sciarrino sehen wir eine mit Tesa-Streifen an eine Holzwand gepappte weibliche Christusfigur, vor der zwei Männer allerlei absurde Handlungen vollführen, sich die Gesichter blau bemalen, auch die Figur am Ersatzkreuz bläuen, Grabpflanzen vor ihr aufstellen, als Nonnen auf den Knien um die Figur herumrutshen und am Ende sich ihr Plastik-Geschlecht abhacken.

Die Miss Donnithorne verpackt von zur Mühlen in einen riesigen Pappkäfig wie eine Kaaba, in der sie ihre täglichen Verrichtungen erledigt. Der Zuschauer darf das über kleine Gucklöcher oder an Video-Schirm-Wänden wie Altären verfolgen, bis die Dame sich aus ihrem Gefängnis befreit. Der Besucher steht um den Pappkäfig herum oder kann wie bei einer Haddsch auch drum herum pilgern. Müh(l)selig. Betrachtet man den Auftakt insgesamt, bedarf es vielleicht doch noch einiger ästhetischer Nachjustierungen im forschen Konzept von Jürgen Flimm. „Über das Denken hinaus“ wäre da kein schlechtes Motto.


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