Was ist diese «Frau ohne Schatten»? Eine letzte Romantische Oper wie Richard Strauss sie verstand? Ein Versuch des Textdichters Hugo von Hofmannsthal, den Übergang vom versteinernden K&K-Kaiserreich in eine neue bürgerlich-demokratische Zukunft zu bewältigen? Ein «Machwerk» à la «Zauberflöte»? Märchenhaftes mischt sich mit Emanzipatorischem, und das im Umfeld des Ersten Weltkriegs. Zwei Frauen stehen einander gegenüber: eine Bürgersfrau, die sich weigert von ihrem Mann, einem Färber, Kinder zu empfangen; eine Kaiserin, die aus dem Geister- und Feenreich stammt und die der Kaiser als «Gazelle» mittels eines Falken erjagt hat. Sie will Mensch werden, einen Schatten werfen und dem Kaiser ein Kind gebären, ansonsten der Gatte «versteinern» würde. Viel an märchenhafter Mythologie, Freudscher Psychologie, Zukunfts-Angst und -Hoffnung vermengt sich da zu einem – freundlich gesprochen – schwierigen Mix.
Aber auch viel
herrlichste Musik ist zu genießen – weswegen diese Oper auch immer
wieder auf den Spielplänen erscheint. An den Staatsopern von Berlin
und Hamburg innert einer Woche jetzt gleich zweimal. Wobei die
Berliner Aufführung zu den vorösterlichen Festtagen (die letzten im
Schillertheater) eine Koproduktion mit Mailand und London ist. Claus
Guth führte Regie. Dirigiert hat Zubin Mehta, und man kommt aus dem
Staunen kaum heraus, wie der 80-Jährige die Staatskapelle zu immer
neuen Farb-«Explosionen» führt, dabei aber den Klang so durchsichtig
hält, dass die Stimmen immer durchdringen. Camilla Nylund weiß als
Kaiserin ihre Kräfte klug einzuteilen und erblüht im dritten Akt zu
voller klanglicher Schönheit. Iréne Theorin ist die bodennahe
Färberin, am Ende stimmlich leider etwas übersteuernd. Burkhard Fritz
ist ein stämmiger Kaiser, Wolfgang Koch ein braver, lernfähiger Barak.
Und dazwischen wirbelt Michaela Schuster als Amme, die wie eine
mephistophelische Schlange die Kaiserin animiert, der Färberin, die
ohnehin keine Kinder will, ihren «Schatten» abzuluchsen.
Guths
Regie erzählt das als Traum. Tiermasken bevölkern die Bühne. Die ist
in Christian Schmidts Entwurf ein Apsis-ähnlicher, dunkel getäfelter
Raum. Eine Drehbühne im hinteren Teil ermöglicht schnelle
Szenen-Wechsel. Mal stellt das ein hochherrschaftliches Schlafzimmer,
mal die düstere Färberstube, mal die Felsenlandschaft mit der Tier-
und Vogelwelt dar. Dazu gibt es ein querlaufendes Transportband, auf
dem etwa die Betten oder auch Figuren wie in einem Film rein- und
rausgleiten. Die Kaiserin erlebt träumend die Färberin als ersehntes
Alter Ego, kauert meist beobachtend am Rande oder nähert sich ihr.
*
Einen konträren Weg versucht in Hamburg Andreas Kriegenburg. Die
«Menschwerdung» der Kaiserin will er aus dem Blickwinkel der Färberin
erzählen. Die Bühne von Harald B. Thor schichtet übereinander die
Geister- (oben) und die Färberwelt (unten). Verbunden sind beide
Welten durch eine Wendeltreppe. Wie im Paternoster wechseln Haupt- und
Unterbühne. Die Geister wedeln, kostümiert in weißem Tüll mit Bändern
an den Ärmeln (Andrea Schraad), im Oberhaus. An Barak und seiner Frau
im Unterhaus sind die Spuren ihres Arbeitsalltags kenntlich. Ihre
niedrige Behausung schummert in matten Brauntönen. Wenn die Amme und
im Schlepptau die Kaiserin hinuntersteigen, hellt die Düsternis sich
auf in leuchtendem Blau.
Sein Konzept erläutert Kriegenburg im
Programmheft. Es klingt interessant, aber bleibt papieren. Auf der
Bühne behilft er sich mit Verdopplung der Figuren. Krankenbetten sind
auch sein Hauptrequisit sowohl für die Kaiserin wie die Färberin. Der
versteinernde Kaiser wird in einem altertümlichen Rollstuhl
kutschiert. Das Kaiserin-Double ist ein Fall für die Psychiatrie, das
der Färberin einer für die häusliche Pflege. Am Ende, wenn die
Kaiserin auf den Schatten zugunsten des Wohlergehens der Färberin
verzichtet und sie dennoch mit ihrer Menschwerdung belohnt wird,
werden zwei Parkbänke auf die Bühne geschoben. Munter floatet nun der
Verkehr zwischen den beiden Paaren mit Blumen und Erdbeeren hin und
her. Aus lemurenhaften Figuren, die immer mal wieder im Hintergrund
lungern, schälen sich Kinder in bunten T-Shirts. Sie werfen sich Bälle
zu und reihen sich zum Schlusshymnus brav an die Rampe um die Paare.
Empathie will Kriegenburg evozieren. Es wirkt eher nahe am Kitsch.
Für seine Arbeit musste er denn auch reichlich Buhs kassieren. Bei
Guth in Berlin waren es nur ein paar verschämte Buhs. Auch Kent Nagano
bekommt einige Buhs ab, gelingt ihm doch nicht recht die Balance
zwischen Sängern und Orchester. Fast ständig müssen die Sänger
forcieren. Zumal die Frauen, Linda Watson als wuchtige Amme und Lise
Lindstrom als agile Färberin, haben Mühe. Um einiges besser behauptet
sich Emily Magee als Kaiserin. Roberto Saccà ist der
rollstuhlbedürftige Kaiser. Die beste Figur macht Andrej Dobber als
Barak, auch wenn er die Töne oft anschleift.
Wie also umgehen mit dieser «Frau ohne Schatten»? Vielleicht ist sie ja heute nicht mehr sinnfällig zu realisieren, jedenfalls nicht von szenischen Routiniers. Schon bei der Uraufführung 1919 in Wien fühlte das Publikum sich gleichsam im falschen Film. Beide Neuinszenierungen jedenfalls scheitern letztlich an diesem Sujet. Und das kann auch Richard Strauss’ schillernde Partitur kaum übergolden.
„Less is more“, verkündet Kent Nagano im Programmheft als Leitmotiv seiner Amtszeit als GMD der Staatsoper Hamburg. Für Hector Berlioz‘ sperrige „Les Troyens“, im Original über fünfeinhalb Stunden Musik, musste das als Eröffnungspremiere auch gelten. Aber nicht er oder der Regisseur Michael Thalheimer sollten dafür verantwortlich zeichnen, sondern ein Komponist der Gegenwart mit Neigung zum Musiktheater und natürlich französischsprachig. Gefunden wurde Pascal Dusapin. Und er hat eine Fassung von etwa dreieinhalbstündiger Spieldauer erarbeitet, die spannend wirkt und plausibel – auch wenn die Figuren immer noch kaum zu echten Dialogen fähig sind. Kassandra etwa verbleibt immer nur in ihrem Leidensmodus. Aber – so weit so gut.
Auch was Nagano als Dirigent an diesem quasi Eröffnungsabend seiner Hamburger Amtszeit leistet, ist bewundernswert – und wurde auch entsprechend vom Publikum gefeiert: ein Orchesterklang, rund, farbenreich, weich und vor allem luftig durchhörbar. Die Sänger haben keine Mühe durchzudringen. Man versteht sogar oft die französischen Worte. Und die Tafel mit der Übertitelung – leider viel zu hoch hängend, um auch noch auf den hinteren Plätzen ohne Kopfverrenkungen etwas zu sehen – benötigt man nicht immer unbedingt. Herausragend unter den Solisten Torsten Kerl als bulliger Enée, Catherine Naglestad als die Arme in Blut badende Cassandre, Elena Zhidkova als in Liebe sich verzehrende Didon und in der aparten Nebenrolle des Hylas Julian Prégardien.
Ein Fast-total-Ausfall allerdings die Regie. Der als szenischer Minimalist bekannte Regisseur Thalheimer lässt quasi szenisches Oratorium spielen. Die Solisten bleiben meist festgewurzelt auf ihren Plätzen nahe an der Rampe. Wenn mal die Andromache der Catrin Striebeck ihre Anfälle von Wut auf die Soldaten-Mannsbilder ausleben darf, ist das schon ein Ereignis. Der Chor marschiert meist im Block durch die wie ein Garagentor sich öffnende Rückwand des wieder sehr simplen Bühnenbilds von Olaf Altmann zu Auftritten nach vorn und dann wieder zurück, mal die Arme reckend zum Anflehen der Götter, mal in sich zusammen knickend. Oder über die Klapptür wird Blut gekippt. Mehr fällt Thalheimer zum Beispiel im ersten Teil des Abends nicht ein. Etwas beweglicher dann der zweite (in Karthago spielende Teil) mit den Akten 3-5 im gleichen Einheitsbühnenbild.
Nach der szenischen Nullnummer während der zehnjährigen Intendanz von Simone Young hatte man sich vom neuen aus zuletzt Basel angeheuerten Intendanten Georges Delnon eigentlich einen beherzten Schritt nach vorn erwartet oder erhofft. Ob er sich von Thalheimer etwas Anderes erwartet hatte, als was der nun vorlegte, oder ob GMD Nagano sich eine dirigentenzentrierte Szenografie wünschte – wir wissen es nicht. Thalheimer bleibt jedenfalls auch mit diesem Opern-„Arrangement“ seiner musiktheater-untauglichen Linie treu. An die Inkunabel aller jüngeren „Trojaner“-Inszenierungen, die von Ruth Berghaus mit Michael Gielen am Pult und im imposanten Schiffs-Bühnenbild von Hans-Dieter Schaal 1983 in Frankfurt, kratzt diese Aufführung jedenfalls nicht im Entferntesten. Und was Hamburg anlangt, hat das erhoffte Anknüpfen an die Glanzzeiten des Hauses unter dem Gespann Metzmacher-Konwitschny oder gar unter Rolf Liebermann erst einmal weiter Pause.
Vielleicht wollte Delnon sein neues Hamburger Publikum ja auch nicht überfordern. Das jedenfalls ist ihm gelungen. Und arte-tv mit seinen Kameras war wieder Mal am falschen Ort.