Es war Giacomo Puccinis erster großer Erfolg. Auch wenn Freunde ihm heftig davon abrieten, überhaupt an diesen Stoff sich zu wagen. Den gab es schon erst wenige Jahre vorher erfolgreich vertont von Jules Massenet. Aber Puccini brannte der Stoff auf den Nägeln. Er selbst fühlte sich wie die tragische Figur des Liebhabers dieser Manon im Roman von Abbé Prévost aus dem 18.Jahrhundert. Freiwillig folgt dieser Des Grieux ihr, die wegen angeblichen Schmuck-Diebstahls verbannt wird nach Übersee und dort bald stirbt. Er selbst verfällt in tiefe Depression, mittellos. Puccinis Musik, die sich an der eigenen Empathie gleichsam immer wieder selbst begeistert, ist nicht gerade dazu angetan, ein kritisches Durchleuchten auf der Bühne zu fördern. Dem Regisseur Philipp Himmelmann schwebte gleichwohl solches vor wie im Programmheft nachzulesen. Die „Versuchsanordnung einer seelischen Situation“ habe er zeigen wollen. Ohne realistische oder gar naturalistische Verweise. Das Geschehen gleichsam im Kopf wollte er darstellen.
Was man auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper sieht, ist dann freilich von ernüchternder Unbeholfenheit. Der sozusagen Patient Des Grieux sitzt da auf einem Stuhl ziemlich weit vorn, meist mit Blick über die Rampe. Hinter ihm und um ihn herum sitzen oder kauern ebenfalls meist auf Stühlen lemurenhafte Gestalten in unterschiedlich gemusterten schwarz-weißen Kostümen. Irgendwann taucht im bordeaux-roten Rüschenkleid mit blonder Perücke die Frau auf, die eigentlich ins Kloster soll, in die er sich sofort verliebt, Manon. Aber da gibt’s auch einen alten reichen Nebenbuhler, der mit grauem Gesicht sie ihm wegschnappt, worauf Des Grieux und Manons Bruder sich entschließen, Manon zu entführen – mit dem geschilderten Erfolg.
Sehr oberflächlich als eine Art Sitz-Oper mit einigen verkrampften Tanz-Einlagen ist das inszeniert in einem Bühnenbild von auf Drehtüren geklebten Fotos mit Clowns-Masken. Im zweiten Teil, dem Exil, drehen die Türen auf die Rückseite und zeigen dunkle Spiegel. Da sind die beiden Hauptfiguren allein mit sich. Und es wird dann auch musikalisch intensiver. Im Zwischenspiel strahlen die Philharmoniker sogar eine große Wärme aus. Dass Hamburg seinem einstigen Opern-Ruhm seit einigen Jahren hinterher guckt, hat sich herum gesprochen. Aber man musste sich kaum über unterdurchschnittliche Sängerleistungen beklagen. An diesem Abend sind es lediglich zwei Nebenfiguren, die den Ansprüchen gerecht werden: Dovlet Nurgeldiyev als Manons fast tänzerisch agiler Bruder Edmondo und Tigran Matirossian als der alte Finsterling Geronte.
Carlo Ventre als Des Grieux bewegt sich in seiner Tongebung vorzugsweise zwischen Forte und Fortissimo. Norma Fantini überdeckt mit starkem Vibrato alle Unsauberkeiten ihres Ansatzes. Szenisch beide konventionell. Am Pult braucht Carlo Montanaro doch einige Zeit, um das Band zwischen Bühne und Graben zu knüpfen. Etwas undiszipliniert dabei auch der Chor. Das Publikum beklatschte zwar am Ende Sänger und Musiker. Philipp Himmelmann und sein Team mussten sich kräftige Buhs gefallen lassen. Indes hat man von Johannes Leiacker auch schon inspiriertere Bühnenbilder und von Gesine Völlm geschmackvollere Kostüme gesehen.
Es gab mal eine Zeit, da war Hamburg das Mekka der zeitgenössischen Oper. Nicht unbedingt der avantgardistischen, aber auch. Und weltberühmt. Einige Jahrzehnte ist das her. Die bislang nicht sonderlich glücklich agierende gegenwärtige Intendantin und Chefdirigentin des Hauses, Simone Young, mag sich an diese goldenen Rolf-Liebermann-Jahre erinnert haben oder erinnert worden sein, dass sie jetzt, wo sie ihren Abgang in Hamburg auf spätestens 2015 terminiert hat, neben ihren Lieblingen Wagner und Strauss auch mal (wieder) etwas Moderneres wagt.
Aribert Reimanns „Lear“ entstand in den 1970iger Jahren. Ursprünglich war er mal geplant für Hamburg. Inzwischen eine der meistgespielten Opern der Nachkriegszeit. Der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau hatte sie bei seinem Freund angeregt und 1978 dann in München uraufgeführt. Youngs Interpretation jetzt zeichnet die Partitur durchaus klangschön und präzise. Die grellen Cluster ebenso wie die verinnerlichten, kammermusikalischen Partien. Und insbesondere das sonore Streicher-Unisono am Schluss, wenn der abgetretene König Lear, bzw. sein Alter Ego, der Narr, auf das blutige Fazit von Machtteilung und Machtgier der beiden Töchter blickt. Und mit Bo Skovhus in der Titelpartie steht auch ein Sängerdarsteller auf der Bühne, der mit seiner musikalischen und szenischen Präsenz den ganzen Abend fast alleine trägt.
Regisseurin Karoline Gruber lässt den Lear in schwarzer Reithose, Schaftstiefeln und Hosenträgern über dem weißen Hemd anfangs brutal wie einen SS-Mann agieren, der schnell seinen Ledergürtel zieht, um Ungehorsam bei seinen Töchtern zu ahnden (Kostüme: Mechthild Seipel). Etwas zu jung erscheint er doch, auch wenn Gruber damit den Akzent legen will auf die innere Einkehr dieses Mannes. Jedenfalls erläutert sie das so im Programmheft. Inszeniert sieht man davon allerdings wenig. Roy Spahn lässt auf der Bühne stattdessen Stellwände mit Buchstaben und Worten kreisen wie: Tat, Angst, Gericht, König, Vergessen, Schuld. Wenn Lear in die Heidelandschaft verstoßen ist, sieht man auf die schwarze Rückwand projiziert die Buchstaben N-I-C-H-T-S, nichts, die anschwellen in bedrohliche Übergröße.
Die Reichs-Aufteilung zu Beginn ist situiert in einer Art parlamentarischem Sitzungssaal. Dann dreht die Bühne in einen neon-beleuchteten Wellblechgang, aus dem trainierende Boxer quellen. Bei Glosters wird am spießigen Kamin ein Papp-Puter geröstet, von dem die dem Learschen Reich Richtung Frankreich entsagende jüngste Tochter Cordelia sich mit ihrem Mann später an getrennten Tischen servieren lässt. Die Töchter Goneril und Regan, die das Lear‘sche Reich unter sich geteilt haben, richten sich ein in kleinen Häuschen mit Garten oder wedeln den Staub von Silberpokalen. Eine Metapher für Nachkriegs-Deutschland?
Sehr spannend ist das alles nicht. Eher etwas angestrengt und gequält. Katja Pieweck als die älteste Tochter Goneril und Ha Young Lee als die jüngste, Cordelia, können immerhin stimmlich neben Skovhus brillieren. Am Ende gab es viel Beifall für die Sänger, enthusiastischen für Skovhus. Auch Simone Young, diesmal ohne Orchester, das sich "auseinandergelebt" hat mit ihr, wurde beklatscht. Auch Reimann selber konnte den Dank des Publikums einheimsen. Zur Pause allerdings strebten schon einige Besucher dem Ausgang zu. Fürs Inszenierungs-Team gab es einige Buhs. Ein mitreißender Abend war es ja wirklich nicht.
Nach dem angekündigten Rückzug der Hamburger Opernchefin Simone Young will sich die Stadt in Ruhe nach einem Nachfolger umschauen. 'Wir fühlen uns nicht unter Druck, aber werden die Augen und Ohren offenhalten', sagte ein Sprecher der Kulturbehörde am Freitag. Young hatte am Donnerstag angekündigt, ihren bis 2015 laufenden Vertrag nicht zu verlängern. An der Staatsoper kam der Abgang der 50-jährigen Intendantin und Generalmusikdirektorin nicht überraschend. 'Das war ein offenes Geheimnis', sagte Sprecherin Bettina Bermbach am Freitag. 'Zehn Jahre für eine Intendanz sind eine lange Zeit.'
Die australische Dirigentin war 2005 an die Staatsoper gekommen und hatte einen erfolgreichen Start hingelegt. Doch wie schon bei ihrem Vorgänger Ingo Metzmacher wurde die Zusammenarbeit mit den Musikern wohl zunehmend schwieriger. Inzwischen soll das Verhältnis zum Orchester zerrüttet sein. Man habe sich wie in einer schlechten Ehe auseinandergelebt, sich musikalisch nichts mehr zu sagen, zitierte das Hamburger Abendblatt ein Orchestermitglied.
Warum sie nicht schon möglichst bald geht, nachdem sie den Opernstandort Hamburg derart herunter gewirtschaftet hat und ihr nun ja inzwischen sowas wie der Anflug einer Erkenntnis kommt?
Die neuerliche Karriere eines als nicht mehr zeitgemäß empfundenen Werks erstaunt. Erst München, dann Frankfurt brachten kurz hintereinander Neuproduktionen heraus. Die Münchener Produktion mit der Hamburger Opernchefin Simone Young am Pult und Christian Stückl als Regisseur ist jetzt auch in Hamburg zu sehen.
Hans Pfitzners „Palestrina“ galt bei seiner Uraufführung 1917 durch Bruno Walter als Meisterwerk der ausgehenden Spätromantik in der Wagner-Schopenhauer-Nachfolge. In der Figur des Pierluigi da Palestrina und seinem Kampf mit den Kirchen-Potentaten hat der nationalkonservative und später faschismus-vernarrte Pfitzner seine Skrupel an der Moderne abgearbeitet.Palestrina fühlt sich ausgepowert. Dennoch soll er eine Messe im von den Kirchen-Oberen oktroyierten alten Stil komponieren. Im mittleren zweiten Akt kühlt Pfitzner mit dem Tridentiner Konzil sein Mütchen am Parlamentarismus, zeigt „Demokratur“ als Nahkampf-Einsatz mit schießwütigen Ordnungshütern, ätzt in der Gestalt des Kaisers den Musikverstand von Politikern als spatzenmäßig und überhöht demgegenüber den einsamen Künstler.
Regisseur Stückl, bekannt geworden als Entlüfter des Oberammergauer Passionsspiels, arbeitet mit (freundlich gesprochen) bescheidenen szenischen Mitteln. Die kirchlichen Machthaber zeigt er als bloße Knallchargen eines verkrusteten Machtapparats. Palestrina-Aufpasser Kardinal Borromeo rennt immer um des Komponisten Tisch und lässt seine Faust darauf niedersausen. Der Papst tritt auf als Schlumpf mit Riesen-Pappmaché-Kopf, um dem Tonsetzer und seiner von nächtlich einschwebenden grünen Engeln eingegebenen Messkomposition den Segen zu erteilen. Stefan Hageneiers Ausstattung pointiert ungewollt das Schematische dieser Inszenierung mit modisch-designerhaftem Schwarz-Weiß und knalligen Neon-Farbtupfern.
Mit Roberto Saccà hat man in Hamburg immerhin einen Sänger, der der Titelfigur stimmlich glanzvolle Präsenz verleiht. Herausragend in dem Riesenensemble auch Katerina Tretyakova als Palestrina-Sohn Ighino. Simone Young dirigiert das Werk mit Klangsinn und Engagement. Das Hamburger Publikum applaudierte allen Beteiligten freundlich. Viele Plätze allerdings blieben schon bei der Premiere leer und leerten sich weiter in jeder der beiden Pausen. Die Skepsis an der Programmpolitik des Hauses mit ihrem ins Provinzielle abgleitenden „Opernammergau“ wächst offenbar. Gleichwohl – Gelegenheiten, sich ein eigenes Urteil über Pfitzners streckenweise durchaus sensible Musik mit ihren freilich merkwürdig sentimental-jammernden Kadenz-Formeln zu bilden, sind rar.
Musikalisch der packendste Teil des Abends ist sicher der Schluss: die Musik zu Wolfgang Rihms „Gehege“, eine „nächtliche Szene“ nach Texten aus Botho Strauß‘ „Schlusschor“. Eine Frau will sich vereinigen mit dem Künstler einer Adler-Skulptur. Doch der hat sich’s, eingefriedet von einem Richard-Serra-Eisenplatten-Zaun, gemütlich gemacht im Baumhaus seines Vogel-Gerippes. Und als er dann doch reagiert und herabsteigt, wird er von der Frau mit dem Vorschlag-Hammer bearbeitet. Eine von drei Frauen an den „Grenzlinien der Liebe“, die die neue Produktion der Hamburgischen Staatsoper vorstellt.
„Trilogie der Frauen“ nennt sich nüchtern der Einakter-Abend. Eröffnet wird er mit Arnold Schönbergs berühmter „Erwartung“ aus dem Jahre 1909. Nach einem Text der Marie Pappenheim hat Schönberg die Fieber-Fantasien einer Frau komponiert, die ihren Mann (vermutlich) aus Eifersucht erschlagen hat. In der Hamburger Inszenierung von Matthew Jocelyn sieht man sie, wie sie präpariert wird wohl für die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl. Ganz klar wird das nicht. Zwei Wärterinnen waschen ihr die Arme, rasieren die Beine, legen ihr einen blütenreinen Anstaltskittel um. Ärzte prüfen den Puls – bis sie dann auf dem Stuhl festgeschnallt wird.
Eingeschoben zwischen Schönberg und Rihm ist eine Uraufführung, das Auftragswerk „Le Bal“. Nach einer Erzählung der erst vor einigen Jahren wieder entdeckten, in Auschwitz ermordeten jüdischen Schriftstellerin Irène Némirovsky hat der in Argentinien geborene, jüdisch-ukrainische Komponist Oscar Strasnoy eine knapp einstündige Farce geschrieben. Im Mittelpunkt steht hier eine Frau (in angestrengter Hysterie: Miriam Gordon-Stewart), die mit einem großen Ball ihren Aufstieg in die Pariser Gesellschaft der Zwanziger Jahre feiern will. Aber die 14-jährige Tochter (Trine W. Lund), die die Einladungen verschicken sollte, hat diese bis auf eine alle in die Seine entsorgt. Sie will sich rächen an der Mutter, die sie vom Ball ausschließen wollte. So wartet man vergeblich auf Gäste. Die Diener laufen ins Leere mit ihren Tabletts. Die Combo-Musiker machen immer mal wieder Ansätze für einen Charleston, verdrücken sich dann nicht ohne die Hummern und Kanapees und ganze Tabletts mitgehen zu lassen. Auch der Ehemann verdrückt sich. Die Tochter feixt hinter dem Sessel. Und die Hausfrau braucht jetzt sicher eine ganze Packung Aspirin auf ihrem Kanapee.
Mit lockerer Hand, aber doch auch eher karikaturistisch grob ist das von Regisseur Jocelyn, der auch das Libretto einrichtete, in Szene gesetzt als Kontrapunkt zu den klassisch-modernen Schwergewichten im Umfeld. Und das Publikum goutiert durchaus mit Lachern einige szenische Gags. Über den doppelten Boden der Geschichte, dass die erhofften Ball-Besucher wohl ohnehin nicht der jüdischen Außenseiter-Familie die Ehre gegeben hätten, rattert die Inszenierung hinweg. Auch musikalisch ist das eher leichtgewichtig mit Schnellsprechgesang über repetierenden Akkorden und zahlreichen Zitaten. Offenbach, an den Strasnoy anknüpfen will, ist denn doch sehr weit weg. Und der Komponist muss am Ende einige Buhs einstecken.
So bleibt von dem Abend vor allem die starke Ausstrahlung von Deborah Polaski, die die Frau in Schönbergs „Erwartung“ verkörpert, und die großartige Helen Kwon, die die Frau in Rihms „Gehege“ mit souveräner Stimmbeherrschung darstellt. Simone Young am Pult ihrer Hamburger Philharmoniker gelingt zumal in Rihms Partitur ein überzeugender Auftritt. Mit mehr als drei Stunden Dauer bei zwei umbaubedingten Pausen für das ästhetisch allzu belanglose Bühnenbild von Alain Lagarde zieht sich der Abend sehr in die Länge, und man sieht schon in den Pausen Besucher abwandern. Den zwiespältigen Eindruck, den man von Hamburgs Oper in letzter Zeit bekommt, kann der mehr ambitionierte denn inspirierte Abend nicht zerstreuen trotz des schönen Akzents am Vorabend des Weltfrauentags. Immer noch ist man in Erwartung, dass das Hamburger Haus sich seiner einstigen Stellung in der Opernwelt erinnert.
Es buh-gewitterte mal wieder kräftig. Schon nach der Pause wurde die Hamburger Opernchefin Simone Young mit heftigen Unmuts-Äußerungen am Pult begrüßt. Dabei hatte sie der, freundlich gesprochen, als etwas „linear“ geltenden Partitur Gaetano Donizettis durchaus einiges an Farbe und Dramatik abzugewinnen gewusst. Aber gezielt war offensichtlich auf die Intendantin Young, nicht die Dirigentin. Und das obwohl man seit der letzten „Siegfried“-Premiere die Stimmung im Haus für etwas entspannter halten durfte.
Freilich „Lucia di Lammermoor“ ist primär eine Sänger-Oper. Und mit allerersten Kräften kann die Hamburgische Staatsoper derzeit nicht aufwarten. Ha Young Lee in der Titelpartie vermag zwar das bis in den Wahnsinn getriebene Somnambule der Figur glaubwürdig zu verkörpern. Stimmlich mangelt es ihr aber doch an Leichtigkeit. Mehr mit Kraft versucht sie die höllischen Koloraturen zu meistern. Die kommen zwar auch klar und schlierenfrei über die Rampe, aber nicht immer ganz sauber. Auch Saimir Pirgu als ihr heimlicher Liebhaber Edgardo versucht sich in seiner Partie eher mit Kraft. Bemerkenswert in der Figurenentwicklung vor allem George Petean als Lucias Bruder Enrico, wie er sich vom stämmigen Präzeptor dessen, was zu tun ist, um das Geschlecht derer von Lammermoor vor dem finanziellen Untergang zu retten, hin zum einfühlsamen Menschen entwickelt und am Ende zusammen friedlich mit Erzfeind Edgardo sich auf Lucias Grab hockt. Am überzeugendsten mit sonorem Bass Alexander Tsymbalyuk als Lucias Erzieher Raimondo, der der Braut das Opfer abringt, den ungeliebten Lord Arturo (Jun-Sang Han) zu heiraten, um den Lammermoors eine Bluttransfusion mit frischem Geld zuzuführen. Wie eine leblose Puppe wiegt er die Gemarterte da in seinen Armen.
Das Problem ist Sandra Leupolds Inszenierung. Sie traut Donizettis Belcanto-Figuren nicht, hält sie für lediglich als Anlass zu „intensivem Musizieren“ erfundene Kunstfiguren, ohne Bezug zur Realität. Dabei hatte die nach Walter Scott gestrickte Geschichte über die menschlichen Probleme verarmenden Alt-Adels gegenüber dem neuen Geld-Adel nicht nur in der damaligen Zeit sehr reale Bezüge. Es ist heute ja eine mit globalen Dimensionen. Aber die junge Sandra Leupold, die seit ihrem Heidelberger „Don Giovanni“ sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zog, liebt das Spiel mit dem Als-Ob. Sie zeigt ihre „Lucia“ in einer Theater-Remise, wo die Kulissen einer früheren „Lucia“-Inszenierung abgestellt sind (Bühne: Stefan Heinrichs); wo man in Kostümen aus dem Fundus (Esther Bialas) Szenen der alten Inszenierung nachstellt und ein Mitspieler, der sich weigert, schon mal gleich bis auf die nackte Haut entkleidet wird; wo Kulissenwände umfallen mit Totschlaggefahr und Ölbilder plötzlich transparent werden, um dahinter die realen Figuren aufleben zu lassen.
Das ist zwar interessant konzipiert, aber es wird im Spiel auf der Bühne nicht lebendig. In einem Programmheft-Interview wähnt Leupold gar den Belcanto situiert am Vorabend der „folgenschweren Erfindung des Realismus“. Der hat freilich in die Opernwelt seit der Buffa Einzug gehalten und trug nur in der Restaurations-Zeit um 1835 naturgemäß etwas clam-heimlichere Züge. Aber nicht umsonst strebte Donizetti aus dem stickigen Italien ins offenere Paris. Dennoch gelingen Leupold in ihrer gleichsam Off-Inszenierung einige bemerkenswerte Bilder. Wenn etwa Lucia bei ihrer heimlichen Verlobung mit ihrem Herzens-Prinzen Edgardo einen Wagen mit dichtem Grün auf die Bühne zerrt und die beiden Verschworenen in die Wipfel der Palmen klettern, um sich gegenseitig ihre Treueschwüre zuzuschunkeln. Oder wenn der von der Reise zurückkehrende Edgardo sich um seine Braut betrogen sieht und einem Klammeräffchen gleich auf den erst wie ein Geschenk verpackten Brautbett-Alkoven springt. Oder wenn Lucia aus dem verhängten Brautbett kriecht, in dem sie soeben ihren Zwangs-Ehemann Arturo erstochen hat, und mit dem blutigen Messer die Riesen-Hochzeitstorte anschneidet und dann auch noch mit dem blutigen Finger im Sahnehäubchen wühlt, um sich die süße Fracht in den Mund zu schieben.
Dennoch am Ende prasselt auf das Inszenierungsteam, Simone Young inklusive (und obwohl sie bei der Wahnsinnsarie eine von Donizetti einst angedachte aber nicht realisierte Glasharfe mitspielen ließ, was das Geisterhafte dieser Musik noch gespenstischer macht), ein Sturm von Buhs. Nicht ganz unverständlich.
Zwei schmale Eisenbetten in einer Elektrowerkstatt. Krempel drunter und daneben: Kocher, Kisten, Spielsachen, Teddy, Waschmaschine, Schweißapparat. Es ist das öde „Zuhause“ von Mime und Ziehsohn Siegfried. Nein, riechen können die beiden einander nicht, der etwas dicke Junge in seien khakibraunen Shorts und der ständig Pillen einwerfende Alte, diese Mischung aus schusseligem Heinz Erhardt und Napoleon. Beider Betten stehen meterweit auseinander. Siegfried hat einen Heidenspaß, Mime zu schrecken mit selbstgebastelten Masken übern Kopf und fuchteligen Stablampen wie ein wandelndes U-Boot. Wenn er Nothung neu schmiedet, reißt er die Waschmaschine auseinander und benutzt die Trommel als Schleifstein. Das Schmiedefeuer entzündet er mit allem möglichen Krempel aus der Bude, inklusive Mimes Bücherkisten und seiner eigenen Puppe. Das Feuer facht er an mit Drehen am Pressluftschlauch.
Fafners Höhle ist ein gekacheltes Terrarium mit dichtem Grün, die Glasscheibe zersplittert. Wenn Fafner erwacht, steigen Dampfwolken aus dem Blattwerk. Alberich im speckigen braunen Lederzeug hält Wacht davor, eine Batterie Schnapsflaschen neben sich. Siegfried, der kommt, das „Fürchten zu lernen“, macht sich Mut, indem er sich auf mitgebrachten Kupferrohr-Windungen von der Waschmaschine einen bläst. Das Waldvöglein, das ihn Blut lecken lässt, ist sein Alter Ego. Und hier scheint der Kern der Inszenierung von Claus Guth und Ausstatter Christian Schmidt, das Erwachen zum Erwachsen-Werden durch das Sich-Lösen aus dem narzisshaften Sich-selbst-Bespiegeln. Auch Brünnhilde auf dem Walküren-Felsen betrachtet sich ausgiebig und immer wieder in einem ziemlich blinden Spiegel, ehe sie Siegfried zur Kenntnis nimmt.
Wirklich erwachsen wird Siegfried aber nicht. Zwar lässt er die beiden Toten, Fafner und Mime, zurück, indem er sie wie Puppen vor dem Terrarium aufrecht sitzend drapiert und Mime ein goldenes Krönchen aus dem Nibelungen-Schatz aufsetzt, Fafner ein goldenes Hämmerchen in die Hand drückt. Erdas dem Walküren-Felsen als letzte Barriere vorgelagertes Reich, eine Büchergruft, in der der Wanderer nochmal seinen brüchigen Speer dem jungen Wilden entgegen reckt, lässt Siegfried mit einem Nothung-Hieb krachend zerspringen. Oben in Brünnhildes zerschossener Walküren-Wohnküche bringt er kaum ein vernünftiges Wort über die Lippen, will nur ran an die Frau, die Mühe hat, sich ihrer selbst zu vergewissern und auf Distanz bleibt. Bis Siegfried den Spiegel mit einem Hieb aus der Wanderhalterung liftet.
Besonders glücklich gestartet war der neue Hamburger „Ring“ mit Simone Young am Pult und dem Regie-Team Guth-Schmidt ja nicht. Jetzt am dritten Abend mit „Siegfried“, von Wagner ja einst als Scherzo im Vierteiler konzipiert, scheint der Knoten geplatzt. Buhs gab es am Ende wenig. Gefeiert wurden dennoch in erster Linie die Sänger. Und das Hamburger Ensemble ist aller Achtung wert. Zumal Peter Gaillard als kiffiger Mime, Wolfgang Koch als sein in den Suff abgestürzter Bruder Alberich, Falk Struckmann als Haltung zu wahren suchender Wanderer. Catherine Foster ist eine eher mütterliche Brünnhilde. Christian Franz als Siegfried hat zwar einige Mühe, in den dialogischen Partien saubere Töne zu produzieren, findet aber immer wieder auch zu sehr leisen, intimen Klängen. Auf klangliche Differenzierung achtet auch strikt Simone Young. Fast aus dem Nichts lässt sie die beiden ersten Akte „werden“, wie man bei Wagner sagen muss. Überraschend langsam, fast schleppend nimmt sie die Verwandlungsmusik des 3.Akts, wenn Siegfried die letzte Sperre durchbricht.
Dass Guth & Schmidt viele ihrer szenischen Klischees hier nicht bemühen, bekommt dem Abend gut. Nun darf man der für Oktober 2010 geplanten „Götterdämmerung“ doch gelassener entgegen sehen.
Göttervater Jupiter wandelt mal wieder auf Freiersfüßen. Mit der Schönen, in die er sich diesmal verguckt hat, hat er freilich Pech. Calisto, die Nymphe, hat Treue geschworen der Keuschheits-Göttin Diana. Nur ihr ist sie verpflichtet. Was tun? Götterbote Merkur rät seinem Chef zu einem Trick. Er solle sich einfach verwandeln in die Gestalt der Diana. Und schon fluppt’s. Calistos Herz und Sinnen sind entflammt. Und die Musik, die Francesco Cavalli für die Liebes-sehnsüchtige Calisto erfunden hat, ist vom Feinsten in dieser über 350 Jahre alten, im Opernmekka des 17.Jahrhunderts, Venedig, uraufgeführten Partitur.
Man muss wohl unterscheiden zwischen der Bedeutungsebene, die diese Geschichte bei Ovid in den Metamorphosen hatte, dem, was sie für die Zeit Cavallis bedeutete und was sie heute vielleicht bedeuten kann. Juno, die Ehefrau Jupiters, mischt sich ein, verwandelt die schöne Nymphe in einen zottligen Bären. Und Jupiter muss klein beigeben. Er verpflanzt das Tier an den Sternenhimmel, um so seiner Geliebten doch nahe zu sein. Daneben gibt es in dieser eigentlich vierstündigen Oper noch zahlreiche weitere Liebeshändel. Diana kommt auch plötzlich auf den Geschmack der körperlichen Liebe mit einem Mann und wendet ihr Herz momentweise dem um sie werbenden Endimione zu. Andere Männer, die ebenfalls entflammt sind von ihr, müssen dagegen weiterhin darben. Auch die Amme Linfea ist ihr männerloses Dasein satt und versucht sich auf Freiersfüßen – mit wenig Erfolg.
In der Opera Stabile, der kleinen Bühne der Hamburgischen Staatsoper, hat man das in einen intimen, dem Gestus der Musik sehr entgegen kommenden Rahmen gesetzt. Alexander Soddy leitet mit Verve vom Cembalo aus ein 7-köpfiges, solistisches Instrumentalensemble. Die Musiker spielen in der Mittelachse einer wie ein Karussell der Liebe von Anja Hertkorn entworfenen Bühne. Regisseurin Aldona Farrugia lässt die Figuren immer wieder auf- und abspringen von diesem Karussell. Als weitere Spielebenen sind der Beleuchterumlauf unter der Decke des kleinen Theaters und der mit Luken bestückte Unterboden der Bühne einbezogen. Mittels Feuerwehrstange rutschen die Göttlichen auch schon mal hin und her zwischen gleichsam Himmel und Erde. Eine eigene Körpersprache zu entwickeln gelingt der Regisseurin allerdings nicht. Man merkt die vielerlei Anleihen bei bekannten Vorbildern. Farrugia versucht es mit Turbulenz und Tempo. So bekommt sie den auf etwa zweieinhalb Stunden gestrafften Abend mit einiger Spannung über die Zeit.
Die Aufführung ist eine Produktion des internationalen Opernstudios von Hamburgs Staatsoper, ein mit privaten Mitteln unterstütztes Forum vor allem für Nachwuchskräfte. Einige der hier präsentierten jungen Sängerinnen und Sänger können indes schon auf manche Bühnenerfahrung verweisen, wie vor allem Christiane Karg, die Sängerin der Titelfigur, die die Calisto mit einem strahlenden, kernigen und Koloraturen-sicheren Sopran ausstattet. Auch der Jupiter von Frederick Jackson kann punkten mit einem klangschönen, ausdrucksstarken Bass, der, um die Diana zu imitieren, gelegentlich auch ins Falsett wechseln muss. Aber auch die Sängerinnen und Sänger der kleineren Rollen, von denen sich vor allem der Counter Michal Wajda-Chlopicki als Diana-Liebhaber hervor tut, zeigen Niveau – auch wenn das Piano-Singen, zumal in dem kleinen Raum der Opera Stabile, nicht allen Sängern so ganz geläufig mehr scheint. Großer Beifall am Ende für die jungen Interpreten – aber auch für ein Stück zwischen Lieben und Entsagen, das viele Ventile der Sinnlichkeit öffnet und auch wieder schließt.
Menschen im Hotel:
Eigentlich der perfekte Ort für eine musikalische
Komödie. Es ist ein Kommen und Gehen. Jeder kann jedem was vormachen
–solange keine Rechnung kommt. Man kann beobachten und abwarten.
Arabella, die älteste Tochter des waldlosen Pleitiers Graf Waldner,
wartet auf „den richtigen“, der sie heiraten und die Kasse füllen soll.
Schwester Zdenka, die sich verkleiden muss als Zdenko, treibt’s derweil
nächtens in ihrem Namen als heimliche Geliebte eines Matteo, der sich
wundert, dass die Arabella am Tag immer die kalte Schulter zeigt, die er
nicht küssen darf – was folgerichtig zu fast tödlichen Verwicklungen
führt. Und dann kommt ER, Mandryka, der ziemlich reiche Neffe vom
Balkan, der wie Tamino dem Bildnis von einer schönen jungen
Frauensperson nachrennt, die er nie in natura gesehen hat, aber um so
rascher in zweiter Ehe heiraten will, auch wenn er dafür noch rasch
einen Wald verkaufen muss, damit genug Bargeld in der Kasse klingelt.
Eine gehobene Operette sollte das werden, was Hugo von Hofmannsthal und
Richard Strauss mit ihrer beider letzter Arbeit schaffen wollten. Und
der schon vom Tod gezeichnete Hofmannsthal gab dem auf den Erfolg des
Operetten-Großmeisters Franz Lehár eifersüchtigen Strauss noch ein paar
dezente Hinweise, wie er selber ein größeres Stück vom gewachsenen aber
auf mythische Tragödien nicht so erpichten neuen Publikum sich
abschneiden könnte. Mehr liedhafte Melodik, nicht soviel symphonische
Verarbeitung in der Orchesterfaktur, auch wenn Strauss so recht aus
seiner Haut nicht konnte. Selbst streute der Librettist vielerlei
Elemente zumal aus beider früher erfolgreicher Zusammenarbeit ins neue
Buch: wie die der gereiften Schönheit Arabella als verjüngter
„Rosenkavalier“-Marschallin, die aber endlich zu ihrem Glück finden soll
samt der jüngeren Schwester.
Oder die permanente Störung der ersten Annäherung Arabellas mit dem
neuen Liebhaber Mandryka durch die Truppe von „Freunden“ samt der
Bartänzerin „Fiakermilli“ auf dem Fiaker-Faschingsball – wie die
Komödianten-Truppe um Zerbinetta aus der auf den fernen Geliebten
wartenden Ariadne, die auf Naxos eigentlich den entschwunden Theseus
erwartet und dann den Genuss-Menschen Bacchus zu fassen kriegt. Und ein
bisschen hat das erotische Endspiel Arabellas mit den Freunden auf dem
Ball, bis dann der „richtige“ ran darf, auch vom frivolen Treiben der
Hanna Glawari, die als Landpomeranze vom Balkan und nun reiche „Lustige
Witwe“ nach Paris kommt und sich den früher verhinderten, nun
überschuldeten Liebhaber Danilo angelt fürs Ehebett. Also Lehár mit
umgekehrten Vorzeichen.
Die Strukturen
dieser „Arabella“ kann man in dieser ansonsten nur korrekten Inszenierung „nach“
Sven-Eric Bechtolf in der Art-déco-Ausstattung von
Rolf und Marianne
Glittenberg in der Hamburgischen Staatsoper sehr schön erkennen.
Allerdings – diese „Arabella“ ist eine zusammen mit Wien produzierte,
für die als Regisseurin zunächst Andrea Breth vorgesehen war, die aber
die Regie zurück gab, weil ihr das Stück zu sentimental vorkam. Bei
dieser Hamburger Premiere (szenisch einstudiert von einer Assistentin) hat man nun lange den Eindruck, man wohne
einer x-beliebigen Repertoire-Vorstellung bei. Es fehlt an Spannung auf
der Bühne, lange auch in Simone Youngs Graben. Erst nach der Pause
belebt sich das Spiel, zumal wenn der immer über-erregte Bo Skovhus als Mandryka ins Spiel kommt, Vater Waldner
(Artur Korn) die Spielkarten immer wieder neu
mischt, Tochter Arabella zur ehebereiten Frau wächst und Zdenko endlich
Zdenka (Kari Postma) sein darf. Am Ende, wenn
Emily Magee als Arabella mit ihrem Mandryka das gemeinsame Glas Wasser
des Vergessens als verbürgerlichtes Lethe-Wasser trinkt, hat die
Aufführung ihre höchste Innigkeit und Intensität. Und der Jubel im
Publikum ist groß.
Nach den vielen szenischen Fast- oder Totalpleiten der bisherigen
Hamburger Spielzeit kann die Generalmusikdirektorin und Intendantin
Simone Young das auch gut brauchen. Dankbar lächelt sie am Ende von der
Bühne ins stehend applaudierende Publikum.
Ein Ehekrieg, ein Plädoyer für ein gerechtes, gewaltfreies
Herrschertum: Beides ist Georg Friedrich Händels „Radamisto“.
1719 zur Eröffnung seiner „Royal Academy“, dem vom englischen König
privilegierten neuen Opernhaus, komponierte er diese Oper. Und ein Jahr
später, als er noch bessere, koloraturgewandtere Sänger hatte, arbeitete
er das Stück um. In dieser Fassung spielt man es nun auch in Hamburg.
Die Geschichte ist relativ einfach und doch mit unendlichen
Verwicklungen und Umwegen versponnen. Ein alter König verteilt sein
Reich auf seine beiden Kinder: Radamisto, seinen Sohn, und Polissena,
seine Tochter. Ein bisschen ist das wie bei King Lear. Es geht nicht gut
mit dieser Güterteilung. Tochter Polissena ist verheiratet mit einem
machtgierigen und gewaltbereiten Mann, Tiridate. Und der nimmt sich
frech, was er kriegen kann, mehr als ihm zusteht, will dazu noch die
Frau seines Schwagers, Zenobia. Die eigene Frau demütigt er in einem
fort. Doch die kann sich fast bis zum Ende der dreistündigen Oper nicht
entscheiden, ob sie gehen soll oder nicht. Und als sie dann geht, ist
das wie ein emotionaler und auch musikalischer Orkan, der aber schnell
wieder sich besänftigt und in friedlichere Bahnen gleitet oder gelenkt
wird. Denn der Bösewicht Tiridate kann zwar von der versammelten Familie
überwältigt werden, seine Soldaten haben abgerüstet. Aber er wird es
wieder versuchen, die anderen zu übervorteilen – so ist zu befürchten.
Regisseur
und Bühnenbildner Marco Arturo Marelli will vor allem den
häuslichen Krieg zeigen. Auf der Bühne sieht man Innenräume aus hohen
schmalen wie moderne Scheibenhochhäuser verfahrbaren Teilen, die sich zu
immer neuen Konstellationen fügen. Die Welt Tiridates ist mit getigerten
Mustern gekennzeichnet, die des friedlichen Dulders Radamisto mit
solchen aus dem Pflanzenreich. Etwas preziös wirkt das alles, wie meist
bei Marelli; auch die Kostüme von Dagmar Niefind-Marelli. Ewig toben
Soldaten in getigerten Kampfanzügen, mit Stahlhelmen und Pistolen im
Anschlag, durch die Szene. Bösewicht Tiridate drapiert sich wie Kaiser
Bokassa selig mit Krone und Hermelin überm braunen Lederdress und ewig
chargenhaftem Grimassieren vor dem Spiegel. Mit solchen eher äußerlichen
Mitteln versuchen Regie und Ausstattung Spannung zu suggerieren. Eine
innere aus der Personenführung wachsende Spannung gibt es kaum. Das
liegt auch an der ungenügenden dramaturgischen Aufbereitung dieser Oper.
Auf dem Programmzettel findet sich für diesen Aufgabenbereich überhaupt
kein Name. Dirigent Martin Haselböck und der Regisseur haben das
offenbar unter sich ausgemacht. Und so fehlt es dem Abend doch erheblich
an dramatischer Stringenz. Arie reiht sich an Arie in einem Ablauf, der
ohnehin vor allem auf die Präsentation von Sängern gerichtet ist. Dabei
gerät auch die Koordination zwischen Graben und Bühne nicht selten aus
dem Lot.
Immerhin hat man in Hamburg doch sehr gute Stimmen zu bieten. Nicht nur
mit der Lettin Inga Kalna als Polissena, die mit ihrer Wutarie beim
Publikum den Vogel abschoss. Auch das „gute“ Paar mit dem kanadischen
Counter David Don Qyu Lee als Radamisto und der Spanierin
Maite Beaumont
als Gattin Zenobia ist trefflich besetzt. Lee verfügt über eine in den
Lagen recht ausgeglichene, weiche Stimme. Beaumont kann brillieren mit
einem so leichten wie auch markanten Mezzo. Aleksandra Kurzak
und Hellen
Kwon in den Nebenrollen fügen sich nahtlos ein. Den Bösewicht
Tiridate gibt augenrollend Florian Boesch. Es setzte zur Pause ein
paar schüchterne Buhs. Am Ende überwog der Jubel. Aber es ist auch bei
diesem Abend wie meist, seit die Dirigentin Simone Young das
Intendanten-Zepter führt: szenisch können die Aufführungen den
Ansprüchen eines Hauses wie dem Hamburger kaum genügen. Mehr gefällig
als spannend. Auf Dauer reicht das nicht.
Im
Schlussakt geht’s mit der U-Bahn dann ins Heute. Per Lift werden die
Färbersleute in die Geisterwelt spediert. Der versteinerte Kaiser liegt
da schon im Streckverband. Aber die Kaiserin bleibt standhaft. Sie will
sich den Schatten der Färbersfrau, Insignie ihrer Menschwerdung, nicht
erkaufen. Sie will nicht ihr eigenes Glück durchsetzen zu Lasten einer
anderen. Eigentlich eine höchst aktuelle Botschaft. So kommt’s auch zum
doppelten Happyend. Freilich in einem Kitschbild, das man sich
kitschiger kaum vorstellen kann. Wabernde Nebel, eine rote japanische
Holzbrücke, ein blühender Kischbaum, zwei wieder vereinte Paare. Die
Frauen gucken guter Hoffnung in einen Kinderwagen. Und da schallt noch
in den Schlussakkord vom Rang ein erleichtertes „Gott sei dank“, dass es
zu Ende ist. Der Buhsturm danach hat sich gewaschen. Und er umfasst
nicht nur das Inszenierungsteam sondern auch das Gros der Sänger und die
Chefin des Hauses, Simone Young. Leider nicht zu Unrecht. Ein großer
Abend war diese Hamburger Neueinstudierung der Strauss-Hofmannsthalschen
Frau ohne Schatten (1919) nicht.
Das eigentliche Thema dieses Opern-Märchens über ein Feenwesen aus der
Geisterwelt, das Mensch werden will, die Kaiserin, war eines nicht bloß
der Entstehungszeit am Beginn des 20.Jahrhunderts: versteinerte
Strukturen verflüssigen, ohne in blindes Fortschrittsdenken zu
verfallen. Hier wird es gezeigt an der Färbersfrau zum einen, die, weil
sie die Liebe noch nicht recht erfahren hat, gern ihren Schatten also
sich selbst verkaufen würde. An der Kaiserin zum anderen, die Menschsein
trotz aller Leiden erfahren will, aber eben nicht um jeden Preis. Und
auch wenn sie ihren liebenden Mann, den Kaiser, damit verlieren würde.
Eleganter und schlackenloser hatten Strauss und Hofmannsthal dies
generelle Thema in der etwas vorher (1917) vollendeten Kammeroper
Ariadne auf Naxos angegangen, wo auch die beiden mythischen Figuren,
Ariadne und Bacchus, am Beispiel der Komödiantentruppe um Zerbinetta
sozusagen in die Moderne herüber geholt werden. Nicht zufällig spricht
die Färberin ja mal fast wortwörtlich einen Satz, den Lehár-Léons als
Prototyp einer neuen, selbstbewussten Frau geltende Hanna Glawari (Die
Lustige Witwe) immer wieder repetiert, wenn sie etwas so gemacht haben
will, wie sie es will: so ist es und so soll es sein. Auch musikalisch
war Strauss zu der Zeit über seine tradierte Klangwelt schon weit hinweg
geschritten, hatte den Wagnerschen „Musikpanzer“, den er in der „Frau
ohne Schatten“ noch einmal anlegt, schon abgestreift. Und ohnehin hätte
er in jener Zeit des 1.Weltkriegs am liebsten eine Offenbachsche Farce
über Schieber und Militaristen geschrieben. Aber Hofmannsthal, selber im
Krieg eingezogen, konnte ihm dazu das passende Buch nicht liefern.
Die Hamburger Neuinszenierung der Frau ohne Schatten von Keith Warner
versucht sich im ersten Akt mit pantomimischen Stilisierungen, die in
ihrer Unbeholfenheit zumal in der Heimstatt eines John Neumeier sich
eigentlich verbieten. Kaiserpalast und Färberhütte werden von
Bühnenbildner Kaspar Glarner mit ineinander verschachtelten Wänden
angedeutet. Wie in einem Dame-Spielbrett. Auch Eva Desseckers Kostüme
haben einigen Pfiff. Das Desaster bringt die weitgehende Abwesenheit
einer Personenregie. Ärgerlich zumal Gabriele Schnaut (vor zwanzig
Jahren bewunderte Isolde in Ruth Berghaus' Hamburger Inszenierung) in
der zentralen Mittlerfigur der Amme. Mit ihrem hilflosen Armfuchteln
bewegt sie sich auf der Bühne, als wolle sie eine Brünnhilde noch einmal
erwecken. Stimmlich ist sie leider auch weit über ihren Zenith. Einen
besseren Eindruck hinterlässt Lisa Gasteen als die hier (durchaus
triftig) als etwas orientierungslose Emanze aufgemachte Färbersfrau.
Daniel Sumegi als Färber ist mit seinem knödeligen Organ ein stimmlicher
Komplettausfall. Brillieren können lediglich Stuart Skelton als Kaiser
und vor allem Emily Magee als Kaiserin. Simone Young am Pult gelingt es
nur partiell, den gleißenden Strauss-Klang, den die von ihr so geliebte
Partitur braucht, zu erwecken. Sie kommt ihm näher gegen Ende des
freilich mit weit über vier Stunden Spieldauer völlig überdehnten
Abends.
Der Unmut des Publikums entlud sich duellartig schon zum Ende der ersten
Pause. Viele Leute sah man in den Pausen abwandern. Hamburg ist eben
nicht London oder Sydney. Simone Young dürfte das allmählich
realisieren. Oder hofft sie in Gedanken schon auf einen Sprung nach
Wien, wo sie als mögliche Kandidatin geflüstert wir?
Fast wie
ein Besuch von Alice im Harry-Potter-Wunderland wirkt dieser
Abend. Knaben baumeln da, wenn der Vorhang sich öffnet, auf luftigen
Stühlen. Sie umrahmen ein schräg gehängtes Bett, in dem ein
dunkelhäutiger Lockenkopf videoprojiziert schlummert. Das Kind, nach dem
der Elfenkönig Oberon begehrt und das ihm sein Faktotum Puck, ein
tätowierter Alleskönner aber auch Durcheinanderbringer, besorgen soll,
zaubert der aus der Verbindung von Titania, der Elfenkönigin, mit dem
zum Esel-Monster mutierten Handwerker Bottom. Eine Retorten-Geburt.
Als einen Versuch über Liebe, über die unendlich vielen Varianten der
mentalen und körperlichen Begegnung zwischen Menschen, Männern und
Frauen mit ihren auch animalischen Instinkten, ihren häuslich gezügelten
und auch naturhaft wilden Trieben, dachten sich der wegen seiner
sexuellen Neigungen lange angefeindete Benjamin Britten und sein
Künstler- und auch Lebens-Partner Peter Pears ihre Bearbeitung von
Shakespeares „Sommernachtstraum“ 1960. In der Neuproduktion der
Hamburgischen Staatsoper mit ihrer musikalisch nach neuen Ufern
strebenden aber szenisch bislang nicht sehr trittsicheren
Generalmusikdirektorin Simone Young wird aus diesem „A Midsummer Night’s
Dream“ eine Art Maschinentheater, mehr an Musical denn an kraftvolles
Musiktheater erinnernd.
Von „downunder“ hat sie den aus Neuseeland stammenden, in Australien
erfolgreichen Regisseur Simon Phillips mitgebracht. Eigentliche
Darsteller, die körperlich in Vorgängen erzählen, werden hier kaum noch
gebraucht. Das besorgt die Ausstattung von Es Devlin. Ihren Zauberwald
der Sinne deutet sie an durch grüne Leuchtstreifen, die vom Bühnenhimmel
herabhängen. Der Ausbruch von einem der jungen Paare aus ihrem rigiden
Athenischen Zuhause wird imaginiert durch in den Lüften schwebendes
Mobiliar. Die Wider-Einsargung der Paare ins traute Heim wird zelebriert
als Zuckerbäcker-Doppelhochzeit mit dem tölpeligen und ansatzweise
durchaus komischen Handwerker-Theater als G(e)leitschutz.
Musikalisch verdient diese Aufführung alle Ehren. Zumal der Oberon von
Alexander Plust ist ein Altus mit glasklarer, wunderbar timbriert in den
Registern ausgeglichener Stimme und souveräner Bühnen-Ausstrahlung. Und
auch Ha Young Lee als seine zu neuen Erfahrungen strebende Gattin Tytania macht gute Figur. Von den beiden ihren Weg zwischen Zank,
Streit, Verliebtheit und Versöhnung noch irrenden jungen Paaren kann vor
allem Miriam Gordon-Stewart als zickige Helena punkten. Daniel Sumegi
ist ein klotzig-übereifriger Bottom, Simon Trinder in einer Sprechrolle
ein vor allem akrobatisch höchst präsenter Puck. Simone Young am Pult
kostet die Nuancen der Brittenschen Partitur voll aus zwischen
glissandierenden Elfen- und quadratisch, bei auch bei vielen
Komponisten-Kollegen andockenden Handwerker-Tönen. Den Knabenchor der
Hamburger Alsterspatzen hat sie gut im Griff.
Ein packender Opernabend wird daraus allerdings nicht, auch wenn das
Hamburger Premierenpublikum nach anfänglicher Reserviertheit am Ende
doch einhellig jubelte. Zu sehen bekommen hatte es eine nette, teilweise
auch eher alberne Belanglosigkeit. Neue Pfähle in den Elbsand zu rammen
nach der Wegmarken setzenden Metzmacher-Konwitschny-Ära ist der auch
Intendantin Simone Young bisher nicht gelungen. Und sollte sie, wie zu
hören, tatsächlich einen ganzen Britten-Zyklus realisieren wollen, wäre
ihr zu einem szenisch kompetenteren Team dringend anzuraten. Allein die
gemeinsame Herkunft tut’s denn doch nicht.
Gelegentlich
ist es ja gut, den Rauch des Premierenfeuers erst mal
verziehen zu lassen. Aber was noch bei der dritten Aufführung sofort in
die Ohren sticht, ist das unbändige Feuer, mit dem die neue Chefin im
Graben zu Werke geht, wie sie alle Sänger zu Höchstleistungen reizt und
aus dem Werk, mit dem sie sich einführen wollte, die Funken eines
Wagnerschen Musikdramas zu schlagen versucht. Aber Paul Hindemiths doch
eher retrospektive Mathis-Partitur einer verhaltenen Moderne ist nun mal
keine sozusagen Meistermaler-Überoper. Sie beschreibt auch nicht die
Götterdämmerung deutschen Künstlertums – auch wenn der von Kollegen als
„Primadonnerich“ gern bespöttelte Dirigent
Wilhelm Furtwängler durch
sein Kräftemessen mit der NS-Kulturbürokratie um die Uraufführung oder
Nicht-Uraufführung dieser Oper 1933/34 das Werk zu dem adelte, was als
„Fall Hindemith“ Geschichte machte.
Mathis der Maler ist weniger eine Künstler- denn eine „Bekenntnisoper“.
Und darin liegt ihre Crux. Eher langatmig geht’s da schon im Libretto
zu. Der Komponist bastelte es damals selber, nachdem er sowohl mit
Brecht als auch mit Benn sich überworfen hatte. Hindemiths Angst, er
könne die Geschehnisse um den Maler Mathis Gothart Nithart, den man
fälschlicherweise Matthias Grünewald nannte, und seine Verwicklung in
die Bauernkriege nicht genau genug beschrieben haben, scheint aus
heutiger Sicht obsolet. Eher umgekehrt fehlt es der Oper an dramatischer
Stringenz und psychologischer Verdichtung. Die müsste eine kompetente
Regie wenigstens ansatzweise leisten. Doch bei Christian Pahde und
seinem Ausstatter Alexander Lintl ist kaum etwas davon zu spüren.
Hart am Kunstgewerblichen streifend schon das erste Bild: Der Maler vor
einem schwarzgelben Riesenporträtkopf nach Art eines Linolschnitts, aus
dem er dann und wann schwarze Streifen löst. Ein bei den Kämpfen
getöteter Soldat wird auf einer Bahre herein getragen mit Spießen in der
Brust wie ein Stück Party-Käse. Bei des Malers Vision, die ihn der
Legende nach inspiriert haben soll zum „Isenheimer Altar“, sieht man
kitschig weiß drapierte Figuren, die sich in seine Altarfiguren
verwandeln. Hilflos der Umgang mit den Chören. Sie werden kaum
individualisiert, stehen selbst als rebellische Bauern nur in Gruppen an
der Rampe, sind darstellerisch untergefordert. Dennoch oder gerade
deswegen kommt es immer wieder zu Koordinationsproblemen mit dem
Orchester.
Lediglich in der Figur des den Maler schützenden Kardinals Albrecht hat
das Inszenierungsteam sich offenbar einige Gedanken gemacht. Ihn lässt
es als Göhring-Parodie auftreten. Und als der sich später von der Macht
zurückzieht, sieht man als Bühnendekoration eine Adaptation des Plakats
für die berüchtigte Ausstellung der „Entarteten Musik“.
Umso
deplatzierter die Anspielung auf die Moses und Aron-Inszenierung des
Hauses aus der letzten Spielzeit, bei der Moses im Hirtenfell als
Schönberg-Alias seine Grübeleien über den wahren 12-Ton-Gott unterm
Sternenzelt zum Besten gab. Hier nun durchwallt Mathis als
Hindemith-Alter-Ego in grauer Filzdecke und mit Hirtenstab seine
Werkstatt.
Erklärtes Ziel der neuen Hamburger Generalmusikdirektorin ist es, ihr
Haus, das in den vergangenen Jahren durch die künstlerische
Zusammenarbeit von Ingo Metzmacher und Peter Konwitschny zur Hype und
zum Opernhaus des Jahres gekürt wurde, neu zu positionieren. Freilich
Neuigkeit ist kein Wert an sich. Musikalisch hat Simone Young sicher
einen zu Metzmacher konträren, manchmal vielleicht etwas zu
emphatischen, weil die Sänger erdrückenden Zugriff auf die Partituren.
Szenisch allerdings scheint sie nicht gut beraten, wie man schon aus
ihren Ankündigungen befürchten musste. Immerhin hat sie mit Falk
Struckmann als Mathis oder insbesondere Scott MacAllister als Kardinal
Albrecht Sängerdarsteller der ersten Reihe zur Verfügung, auch wenn die
meist nur an der Rampe singen dürfen. Auch die beiden den Maler
umschwärmenden Frauen-„Groupies“ Ursula und Regina waren mit Susan
Anthony und der kreglen Inga Kalna gut besetzt. Ihnen allen und Simone
Young jubelte das Publikum anhaltend zu.