Die eine mag gar nicht. „Freiheit soll die Losung sein“ singt sie mit furienhafter Emphase. Die andere ziert sich weniger heftig. Dann gewinnt sie dem Gedanken doch etwas ab: Lieben, Heiraten, mit einem Mann leben – derweilen die beiden Männer fast zu Tode sich quälen. Am Ende ist alles im Lot. Die Widerspenstigen sind gezähmt. In seiner Frankfurter Zeit zwischen 1712 und 1717 schrieb der Komponist Georg Philipp Telemann diese Musik. Schäferspiele nannte man solche Einübungen in die Liebe: Liebe exterritorial, an einem exotischen Ort des Probierens in einem mythischen Arkadien.
So Peter Huth. Er hat diese „Pastorelle en musique“ herausgefischt aus dem Konvolut von Manuskripten der Berliner Singakademie, die 1945 von der Roten Armee beschlagnahmt und, 1999 in einem Archiv der Ukraine von dem Bach-Forscher Christoph Wolff wieder entdeckt, jetzt in der Berliner Staatsbibliothek lagern.
Voller musikalischer Perlen steckt dies fast zweistündige Operchen. Ein Gelegenheitswerk gewiss der Sonderklasse. Die Berliner Komische Oper hat die szenische Erstaufführung nach fast drei Jahrhunderten einem jungen Team anvertraut. Man spielt in einem der so genannten „Meistersäle“ nahe dem Potsdamer Platz. Als Groteske mit viel Ausstattungsmüll haben der Regisseur Vegard Vinge und seine Ausstatterin Nicole Riegel das auf die Minibühne gestemmt. Grimassierend muss sich die als heftigste Heiratsgegnerin gebranntmarkte Caliste von Evelien Asberg durch das Stück quälen. Immerhin musikalisch ist das mit dem Belgischen Barockspezialisten Florian Heyerick am Pult auf sehr hohem geglückt. Szenisch bleibt das Werk weiterhin zu entdecken, vielleicht auch mit einer etwas zupackenderen Bearbeitung der oft allzu länglichen Wiederholungen. Die Produktion wird auch gezeigt bei den Telemann-Festtagen Magdeburg 2004 (14.März).
Musikalisch
gold geht’s hier den Bösen. Aspasia etwa, einer vom Librettisten als
eifersüchtelnde Thraker-Königin eingefügten Figur. Sie will Orpheus für sich
und schickt der Rivalin Eurydike gleich nach der Hochzeit die Schlange
und den Tod. Oder Pluto; Amor ist hier sein handlangender Dunkelmann.
Nur widerwillig macht der Fürst der
Unterwelt das Theater mit um den Sänger, der ungebeten alle Gesetze
von Leben und Tod brechen will. Natürlich muss er letztlich an seiner
Rebellion scheitern. Der Orfeo von Friedrich des Zweiten
Hofkapellmeister Carl Heinrich Graun ist eine noch tief im
barocken Intrigen-Netz befangene Version des Stoffs: Italienische Oper
mit einem Schuss Rameau in den
Wahnsinnsszenen, wo Eurydike spürt, irgendetwas geht vor mit ihr. Aber
noch weit entfernt von der holzschnittartigen Klarheit, in der
Gluck und Calzabigi den Stoff
bearbeiteten zehn Jahre später in ihrer bis heute berühmten Wiener
Reformoper.
1752 in
Berlin wurde Grauns Orfeo uraufgeführt. Ein kleines Highlight
bei den Potsdamer Musikfestspielen. Vor allem musikalisch mit der
silbrig-glänzenden Akademie für Alte Musik
im Graben und Ralf Popken am Pult.
Szenisch ist es historisierend brav gelöst von Hinrich Horstkotte
im beengten Hof-Theater des Neuen Palais von
Sanssouci; geschickt lässt der Regisseur auch über die Rampe spielen.
Und mit Alexander Plust als Orfeo
und Joanne Lunn als Euridice hat man stimmlich ausgesuchte
Protagonisten. "Europäische Brücken" zwischen
Utrecht-Potsdam-
St.Petersburg wollen die Musikfestspiele
Potsdam-Sanssouci bauen im
300.Jubiläumsjahr von
Sankt
Peterburg. Die Preußenkönige pflegten bekanntlich gute Kontakte
sowohl nach Ost wie West. Und der Hofkapellmeister von Preußens
anfänglichem Musenkönig, Friedrich II, hat heuer ebenfalls
300.Geburtstag - wahrscheinlich; denn ganz genau weiß man das
Geburtsjahr von Carl Heinrich Graun nicht.
Seine Orfeo-Oper jedenfalls war
ebenfalls eine Geburtstags-Oper, nämlich eine für die Königin-Mutter.
Und wenn man sich das Libretto so durch den Kopf gehen lässt, eine
nicht eben schmeichelhafte.
Unzählige Bearbeiter hat
der Don Juan-Stoff des Tirso de Molina
gefunden. Die wohl früheste musikalische Bearbeitung datiert aus dem
Rom des 17.Jahrhunderts. Alessandro Melani heißt der Komponist.
L’empio punito – zu deutsch etwa: der
bestrafte Ruchlose, oder Gottlose, was damals das Gleiche war – heißt
das gestrenge Stück. Drei Jahrhunderte schlummerte es in den Archiven,
bis es in den 1980iger Jahren in Schweden mal schon ausgegraben wurde.
Jetzt hat es der französische Barockspezialist Christophe
Rousset für das Leipziger Bachfest eingerichtet.
An diesem Verführer hatte selbst der Papst sein Vergnügen. Clemens IX
gab das Werk in Auftrag beim Kapellmeister von Santa Maria Maggiore. Am
17.Februar 1669 zu Karneval erblickte dieser Bestrafte Gottlose
des Alessandro Melani das Theaterlicht in einem Römischen Palazzo.
Es ist ein Don Juan, der – echt
barock – den Tod als geradezu Erotik-Kick sich herbeisehnt. "H
e has a very special view of life, he wants experiments of death"
sagt Christophe Rousset. Er hat die
Drei-Stunden-Oper in den Vatikanischen Archiven ausgegraben, um alle
Balli, Chöre, Divertissements gekürzt auf erträgliche zwei Stunden und
instrumentiert. Mit seinen exzellenten
Talens Lyriques bringt er sie auch auf die Bühne
des Leipziger Schauspielhauses als Kooperation von Bach-Fest und
Oper.
Die Aufführung ist eine Information darüber, was war im Musiktheater
zwischen den Großmächten Monteverdi und Händel. Dramatik
pur freilich ist L’empio punito nicht, eher ein klingender
Besinnungsaufsatz mit auch heiteren Noten. Acrimante (Marguerite Krull),
wie der Schwerenöter hier heißt, muss gleich zweimal
sterben: erst mit einer Gift-Scheinattacke der betrogenen Gattin, dann
auf Höllenfahrt mit einem steinernen Gast. Und endlich darf
Atamira (Marika Schönberg), wie die Elvira hier heißt, auch den
um sie werbenden König Atrace heiraten.
Ipomene (Kathrin Göring), nach der der Sinn ihm steht, bekommt er nicht. In
Eric Vigners steifem szenischem Arrangement wirkt das auf der
terassenförmig gestuften, gold ausgeschlagenen Bühne wie ein sittsames
Konzert in Kostümen. Voller Überraschungen aber immer wieder die in
Rezitativen, Arien, Duetten aufblitzende Musik.
Reinhard Keisers Opern haben oft politische Hintergründe. Seine zweite Oper
Der Tempel des Janus entstand ganz explizit als Friedens- und
Huldigungsoper. Uraufgeführt wurde sie am 31. Januar 1698 in der
Hamburger Bürger-Oper am Gänsemarkt, später dann wiederholt 1712 und
1729. Anlass war der 1697 geschlossene Frieden zwischen Frankreich,
England, Spanien und den Niederlanden, dem der Deutsche Kaiser und das
Reich später beitraten. Er beendete den Pfälzischen Erbfolgekrieg
1688-97, an dessen Beginn Frankreich die Pfalz verwüstet hatte, die
reichste Provinz des Reichs. Im Frieden gab Frankreich rechtsrheinische
Gebiete zurück, die es annektiert hatte. Für Hamburg bedeutete der
Friedensschluss zwischen seinen wichtigsten Handelspartnern und dem
Reich die Aufhebung zahlreicher Handelsbeschränkungen. Der Titel bezieht
sich auf eine Toranlage eines dem doppelgesichtigen Gott Janus geweihten
Tempel im Forum Romanum, deren Türflügel bei
Krieg offen standen, im Frieden geschlossen wurden. Das geschah in der
Antike acht Mal, davon drei Mal unter Augustus, zuletzt im Jahre 9 vor
Christus, worauf die längste Friedensperiode folgte. Auf dieses Ereignis
bezieht sich die Oper, die jetzt die Berliner Kammeroper wieder
aufbereitet und aufgeführt hat im Berliner Hebbel-Theater.
Frieden wird beschworen im Schluss-Ensemble. Es ist ein erzwungener, ein
brüchiger Frieden. Die, die miteinander wollen, dürfen nicht. Die, die
zusammen müssen, werden es nicht lange bleiben. Das nächste Schlachtfeld
ist schon bereit.
Reinhard Keisers und seines Librettisten Christian Heinrich Postel
Friedens- & Huldigungs-Oper von anno 1698, Der Tempel des Janus,
ist ein Wunschprodukt. Was der einfache
Bürger einer Freien Hansestadt wie dem damals reichsunmittelbaren Hamburg,
erwartete von der hohen Politik: Keine, schon gar keine dynastischen
Streitereien der Regierenden auf dem Rücken ihrer Untertanen, das nämlich
ist Gift fürs Geschäft - hier wird’s gesagt. Der moralisierende
Appellcharakter dieses zweitfrühesten Werks des die Hamburger
Gänsemarktoper prägenden Autorenpaars ist evident. Politische Intrigen
werden auf die menschliche Ebene projiziert mit Rückgriff auf die römische
Geschichte. Tiberius und Agrippina, das Liebespaar soll aus Gründen
dynastischer Machterhaltung auseinander dividiert und mit neuen Partnern
neu koaliert werden mittels eines Tricks. Sie seien ein heimliches
Zwillingspaar enthüllt die die Intrigenfäden spinnende Kaiserin Livia
ihrem amtsmüden Gatten Augustus am Ende. Der nämlich möchte seine Macht an
Tiberius weitergeben, den Sohn aus 1.Ehe seiner Frau. Aber damit die Macht
in der Familie bleibt, soll Tiberius des Augustus Tochter ebenfalls aus
einer früheren Ehe, Julia, heiraten, eine ebenfalls eher aufs
Intrigen-Spinnen erpichte junge Dame. "Tu felix Austria nube!" Der
zynische Wahlspruch der zu Keisers Zeiten regierenden Habsburger zum
Heiraten unter dem Aspekt des Machterhalts und über die seelischen
Befindlichkeiten der Menschen in diesen Ämtern hinweg ist ein aktuelles
Thema sogar noch heute in republikanischen Zeiten, das Mitempfinden der
Opern-Autoren groß mit den Betroffenen. Tiberius, der künftige Kaiser,
wird als Kaiser ohne seine Geliebte Agrippina an seiner Seite ein
unglücklicher Mensch bleiben. Das Unglück des Herrschenden an der
Spitze wird zu dem der gesamten Nation.
Wie immer in seinen Werken überrascht der Komponist Reinhard Keiser auch im
Tempel des Janus mit einer Fülle klanglicher und harmonischer
Raffinessen. Die Arie des die Schatten herauf kriechen fühlenden Tiberius
hat ein Pendant auch in einer Arie der Agrippina, seiner eigentlichen
Geliebten, dann als Zwillingsschwester von ihm getrennten
Seelen-Verwandten. Die finnische Sopranistin Eeva Tenkanen
mit ihrer so innigen wie
ausdrucksstarken Stimme ist der eigentliche Star dieser Produktion der
Berliner Kammeroper. Erneut bereichert die auf Erst- und Uraufführungen
spezialisierte Truppe mit ihrem Griff in die Barockoper den Spielplan und
schärft den Blick auf die frühe deutsche Oper - auch wenn dieses Werk
Reinhard Keisers nicht ganz die Kraft hat wie der spätere
Croesus oder der vor einigen
Monaten in Stuttgart neu erprobte
Masaniello,
jene Oper über den Fischeraufstand von Neapel, deren Plot vor allem durch
Aubers Stumme von Portici im Gedächtnis haftet. Keiser folgt
in dieser frühen Oper über den zu schließenden Janustempel noch nicht so
frei den dramaturgischen Wendungen des Librettos in seinen Rezitativen,
lässt sich noch allzu bereitwillig pressen ins Seria-Schema der ABA-Arien. Kaum über
Routine sich hinauswagend auch die Inszenierung von Matthias Remus.
Etwas hilflos sein Versuch, durch Einfügen einer Turnschuhfigur in Jeans,
die als Leserin durch die Szene stolpert, dem Stück den evident heutigen
Blick überzustülpen. Nicht immer koloraturenfest auch die jungen
Sängerinnen und Sänger. Flexibel aber das Spiel der kleinen
Capella Orlandi Bremen im Graben des Berliner Hebbeltheaters unter Thomas
Ihlenfeldt, der die Aufführung an der Chitarrone leitet. Ein schöner Erfolg für die
finanziell um ihre Existenz bangende Kammeroper. Auch vom Publikum
honoriert.
Potsdam hat derzeit kein "richtiges" Theater, man
behilft sich mit Provisorien - Gelegenheit zu experimentieren. Auf
Juditha triumphans, ein Vivaldi-Oratorium, kam man so, und zwar
szenisch. Ein sogenanntes "sacrum militare oratorium", ein
"Kriegs-Oratorium", ist die Geschichte von der "triumphierenden Judith".
Beschworen werden sollte mit diesem patriotisch-religiösen Werk ein Sieg
im Kampf Venedigs gegen den türkischen Rivalen im Osten. Wieder mal war
Krieg. 1716, im Uraufführungs-Jahr des Oratoriums, konnte dann endlich
auch bei Korfu der Sieg gefeiert werden. Die apokryphe Geschichte von
Judith und Holofernes wird hier beansprucht für den Kampf des Abendlandes
gegen das Morgenland. Ein der Partitur vorangestelltes Gedicht
parallelisiert die handelnden Personen des Stücks allegorisch mit
aktuellen Figuren der damaligen Historie. Judith steht für die Adria und
damit Venedig, Holofernes für den Sultan Ali Pascha. Judiths Gefährtin
Abra allegorisiert den Glauben, der Hohepriester Ozias die Stadt Bethulien
und die Christenheit, des Holofernes Diener Vagaus den Feldherren des
Sultans. Stimmlich hat er die virtuoseste Partie.
Reizvoll ist dies Oratorium zum einen durch seine quasi
opernhafte Form mit Rezitativen, Arien und nur ganz sparsamen Chören. Seit
1713 hatte Vivaldi seine zweite Karriere begonnen als Opernkomponist und vor
allem auch Opernimpresario erst in Vicenza, dann in Venedig und darüber
hinaus. Besonders besticht dies Werk aber durch seine außerordentliche
klangliche Raffinesse. Im "ospedale della pietà", jenem
Mädchen-Findlingsheim, in dem der wegen seiner auffallend roten Haare als "prete
rosso", als roter Priester, bekannte Komponist seit 1703 - erst als
Violin-Lehrer, dann als Konzertmeister, und mit Unterbrechungen - Dienst
tat, legte man Wert auf besondere Vielfalt der Instrumental-Ausbildung.
Konzerte mit dem eigenen Orchester und den Mädchen-Solisten gehörten zur
Haupt-Einnahmequelle dieses auf frühen Kultur-Tourismus spezialisierten
"Konservatoriums". Vivaldis Partitur fordert neben dem vierstimmigen
Streichorchester doppelt besetzte Blockflöten, Oboen, Chalumeau, Trompeten,
frühen Formen von Klarinetten, Pauken, Viole d’amore, Mandoline, Theorben,
Cembalo und obligate Orgel. Wie in einem "großen Laboratorium", sagt der
Dirigent der Aufführung, der musikalische Leiter der Karlsruher
Händel-Festspiele, Andreas Spering, hat Vivaldi hier
fokussiert, womit er sonst in seinen Instrumentalkonzerten verstreut
klanglich experimentierte.
Die szenische Ausdeutung des Potsdamer Intendanten
Ralf-Günter Krolkiewicz akzentuiert sparsamst den
Konflikt zwischen dem draufgängerischen Mann und dieser Jeanne
d'Arc-artigen jungfräulichen Witwe Judith, die todesmutig ins Lager des
assyrischen Eroberers Holofernes geht, um ihn zu betören, den Trunkenen im
Schlaf zu enthaupten und ihre kleine jüdische Stadt Bethulien vor der
Gefahr zu erretten. Am Ende feiert man sie und den wiedergewonnenen
Frieden. Gespielt wird in der Friedenskirche am Park von Sanssouci. Die
Bühne ist breit in die Längsachse der Kirche gebaut. Genutzt werden vor
allem die akustischen Möglichkeiten des Raumes. Einzige gravierende
Veränderung: während in Vivaldis ospedale die solistischen Partien von
fünf jungen Frauen gesungen wurden, singt den Holofernes hier ein Mann,
der Counter Gunther Schmid. Etwas deutlicher werden soll
so der Geschlechterkonflikt.
Im Zentrum allerdings
steht die Judith, eine Partie möglicherweise für
Vivaldis "Muse" Anna Girò. Ann Hallenberg, eine junge schwedische
Mezzo-Sopranistin, singt diese Partie ausdrucksstark und mit wunderbar
weicher Stimme. Besonders eindrucksvoll eine Arie mit Begleitung des alten
Hirteninstruments Chalumeau, klanglich eine Mischung aus Klarinette und
Flöte, wenn Judith einsam sich auf den Weg macht ins gegnerische Lager. Von
stupender Virtuosität Johanna Stojkovic als
Holofernes-Bedienter Andaus, darstellerisch etwas unglücklich geführt.
Weitere deutende Zugabe der Regie: Judith hat als gleichsam alter ego und
innere Stimme eine Tänzerin zur Seite, Jutta Deutschland, die frühere
Primaballerina der Komischen Oper; zum rechten Augenblick serviert sie
Judith das Schwert. Insbesondere musikalisch vergegenwärtigt diese
Aufführung mit Wolfgang Katschners versierter
LauttenCompagney und dem neuen Kammerchor Potsdam einen Vivaldi wie man ihn
sonst nicht kennt. Von Vivaldis über vierzig Opern und Pasticci wird heute
ja kaum noch etwas gespielt, vieles ist auch verschollen. Eine überaus
lohnende Rarität.
Beziehung Bach, das Thema der
Musikfestspiele in Potsdam Sanssouci: Im Bach-Jahr 2000 wollte man den
vielfältigen Verknüpfungen der Bach-Familie mit dem Potsdamer Hof
nachgehen. Johann Sebastians Musikalisches Opfer auf ein Thema
König Friedrichs II ist die berühmteste Hinterlassenschaft. Der älteste
Sohn Carl Philipp Emanuel war lange Jahre Cembalist in Potsdam. Nach dem
Tode des Vaters lebte der jüngste Sohn Johann Christian bei ihm. Dass er,
der "Mailänder" und "Londoner" Bach, auch Opern schrieb, wissen heute nur
wenige. Aber Mozart, der ihn besuchte, schätzte seine Kunst; sie hatten
zum Teil den gleichen Lehrer. Johann Christians für Neapel komponierte
Oper Alessandro nell’Indie / Alexander in Indien wurde im
Schlosstheater des neuen Palais in Potsdam-Sanssouci jetzt neu aufgeführt
als Koproduktion mit dem Hans Otto Theater.
Auch ein großer
Welten-Eroberer hat so seine schwachen Sekunden. Da legt
er den Brustpanzer ab und will nur Mensch sein. Statt Pauken, Trompeten und
ratternde Koloraturen die sanften Lüftchen von Flöten und Geigen: Beziehung
pflegen zu Cleo, die als Königin eines Teils von Indien eigentlich Poros,
den König des eben mal vomn ihm eroberten anderen Teils von Indien, als
Geliebte erhört. Ohnehin ist dieser Alexander ein schon grässlich
aufgeklärter Herrscher. Ständig schmeißt der Mazedonier mit seiner Güte um
sich, will verzeihen wie sein späterer Opernkollege Titus. Für alles hat er
Verständnis, während der Exot Poros bis zum Schluss, wo auch er das
Verzeihen lernen muss, allweil schäumt und wütet, seinen Gefühlen und
Regungen allzu freien Lauf lässt.
1762 schrieb Johann Christian, der jüngste und
begabteste der Bach Söhne, Alessandro nell’Indie. Abstand vom
großen Bruder Carl Philipp Emanuel und dem Preußen-Hof zu gewinnen, hatte
der 1735 Geborene, volljährig geworden, sich nach Italien aufgemacht. Dort
wollte der von CPEB zum "besten Klavierspieler seiner Zeit"
Herangebildete sich vervollkommnen auch in den "galanten" Künsten des
Komponierens. Im berühmten Padre Martini, den auch Mozart später
konsultierte, fand er seinen Mentor. Sein Brot verdiente er als Organist
am Mailänder Dom, wozu er allerdings vorher noch seinem Lutherischen
Protestantismus abschwören musste. Seinen ersten Opernauftrag bekam er vom
Theater in Turin, einen Ataxerxes. Sogleich meldete sich auch
Neapel zunächst mit einem Cato-Auftrag. Das Werk über den
Indien-Eroberer Alexander nach einem Text Metastasios ist Johann
Christians dritte Oper. Sprungbrett wurde sie für ein Angebot ans King’s
Theatre in London. Dort wurde die aus Mecklenburg-Strelitz stammende
englische Königin Sophie Charlotte für den "Saxon Master of Music", den
Sächsischen Musikmeister, neue Gönnerin.
Cleofide, die Königin eines Teils Indiens - sie ist im Stück und in der
Produktion der Potsdamer Musikfestspiele mit dem Hans Otto Theater im
Schlosstheater des Neuen Palais die eigentliche Zentralfigur. Olga
Pasychnik verleiht dieser Cleofide nicht nur majestätischen Glanz. Auch
stimmlich ist sie mit ihrem perlend leichten und lichten Sopran die
eigentliche Königin der Aufführung. Auch wenn Cleofide als Frau dem Eros der
Macht in Gestalt Alexanders zeitweise zu erliegen droht, stets wahrt sie
doch Würde, ganz im Unterschied zu Erissena, der anderen Frauenfigur. Die
Schwester des Poros kokettiert ganz offen mit den Männern hin und her. Mit
ihrem leicht ins Mezzo gefärbten Sopran gibt Johanna Stojkovic dieser
Figur flattrige Züge.
Alexander in Indien - als genuines
Theaterblut zeigt der jüngste der Bache jedenfalls in diesem Werk sich
nicht. Während sogar Händel, der das Sujet (mit Poros) auch mal
am Wickel hatte, schon in der mittleren Periode längst vom Prinzip der
steifen Seria abgegangen war, was in Hamburg ihm Reinhard Keiser mit
Erfolg vorexerziert hatte - hier finden wir noch die korsettierten
ABA'-Arien mit einem meist kontrastierenden kurzen Mittelteil und
ausladenden Wiederholungen. Nur ganz ausnahmsweise, wie im erbitterten
Streit zwischen Poros und Cleofide um ihre jeweiligen Treuegelübde, gibt
es Ansätze zu offeneren theatergemäßen Ensembles.
In der Potsdamer Produktion mit der vorzüglichen
Akademie für Alte Musik unter Andreas Sperings
stringenter Leitung mochte man zu kraftvollen Schnitten sich nicht
entschließen, die aus dem etwas trägen Bach von braven Rezitativen und
Arien einen mitreißenden Theater-Fluss gemacht hätten. Die Regie von
Jakob Peters-Messer ist trotz einiger Modernismen ebenfalls nicht
angetan zu einer Straffung. Übers Kunstgewerbliche im szenischen Bereich
ist man in Potsdam bei den Sanssouci-Produktionen ja in all den Jahren
nicht hinausgekommen.
So vermag die Aufführung im Bach-Jahr 2000 bloß zu
erinnern an eine verloren geglaubte Seite der Bach-Söhne. Aber Johann
Christian hat ja auch für London und dann vor allem für Mannheim Opern
geschaffen, dazu Pasticci, also Einlagen für andere Opern, unter anderem
für Glucks Orfeo. Vielleicht gibt es doch noch Interessanteres zu
entdecken anderswo.