konw 2001/02

Peter Konwitschny 

 

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Intolleranza
Falstaff

Ritter, Retter, Rattenfänger

Peter Konwitschny diskutiert mit den Meistersingern von Hamburg

3.Nov.2002

 Das Prunkstück dieser Aufführung ist die Festwiese. Keine lausige Shakespeare-Hans-Sachs-Bretterbude wie davor. Ein Liliput-Wald von Gräsern öffnet sich am Horizont: ein Rousseausches Rasenstück im Maxilook. Die Zünfte wuchten ihre Scheren, Brezeln, Trommeln angepinnt an Riesenschachtelhalmen auf die Bühne in dies Grasmücken- und Libellenstück. Und als Bewohner eines utopischen Paradies und Parnass marschieren auf sämtliche Wagner-Heroinen und -Heroen in ihren 19.Jahrhundert-Kostümen. Ein Holländer-Seemann mit dem Fernrohr, ein Tannhäuser mit der Leier, ein Lohengrin mit dem Schwan, ein Nibelungenzwerg Alberich und sein Widerpart aus Walhall, die Rheinnixen, die Brünnhilden-Walküre und der Spielzeug-Grals-König mit Parsifal.

Ritter Stolzing mit Wallemähne im Dürer-Habit wird nach seinem Preislied und Ent-Rüstung durch Sachs gewiss mit eingemeindet in diesen Olymp. Aber er will das Barett erst nicht tragen wie diese vielen kleinen Wagner-Klone aus der Meistersingerschule von Nürremberg oder Narrenberg in ihren grünsamtenen Gehröcken. Er will nur Eva, die ihm ständig um den Hals fällt, die ihm zu Füßen liegt bei seinem Gesang, die der Preis-Ochse ist dieses Wettsingens. Und dann ab mit ihr ins sinnliche Vergnügen! Doch Sachs hält ihn fest am Schlawittchen. Nur das mit der deutschen Kunst und dem heil'gen deutschen Reich, das da zu zerbrechen droht, wenn man die Meister nicht ehrt – da kommt selbst Widerspruch auf aus den Reihen der Bühnen-Meister.

"Das kannst Du so nicht machen", nur so singen, wie’s da steht, "Wolfgang", rufen welche aus den hinteren Reihen dazwischen. Wolfgang wer? Wolfgang Schöne, der noble Sänger dieses Sachs auf der Hamburger Bühne? Wolfgang Wagner, der Herrscher des Grünen Parnass im fränkischen Bayreuth? Rüttelt der Regisseur Peter Konwitschny wie einst Gerhard Schröder am Kanzleramtszaun nun doch vehement am roten Ziegelfachwerkbau des Wagner-Walhall? Die Leute im Parkett und auf den Rängen mögen den entstehenden Disput auf der Bühne nicht, rufen "aufhören", "Oberlehrer" und Ähnliches, als Eva etwa erklärt, warum der alte Richard wohl das mit der deutschen Kunst so und so gedichtet hat und was dieses "nationalistische Gesinngungsgetöse" damals wohl meinte.

Der Mann am Pult, Ingo Metzmacher, macht schließlich Schluss mit dem 68iger-Disput. "Bringen wir's zu Ende, Freunde – Ziffer 109 mit Auftakt", ruft er übers bereit liegende Mikro, und es geht brav zu Ende im Originaltext. Nur das helle Juni-Festlicht verdüstert sich, und die Lädierten der mitternächtlichen Prügelszene recken ihre Krücken hoch wie beim Defilee vor der Königin in der Dreigroschenoper. Am Ende: Eine Buh- und Bravoschlacht, schon als der Hamburger GMD auf der Bühne sich zeigt, und erst recht, als Konwitschny und sein Ausstatter Johannes Leiacker sich verbeugen. Der mittlerweile obligate Konwitschny-Skandal als Festwiesenzugabe?

Dabei beginnt's eher zäh die ersten zwei Akte der Meistersinger mit kleinen kabarettistischen Aufhellungen. Die Meistersingerkirche ist die von Paumgartner-Altarbildern flankierte Jahrmarkt-Brettelbühne. Eva in der hintersten Reihe der rücklings zum Publikum intonierenden Gemeinde feixt heftig mit dem Neuankömmling in seinem Prachthaarschmuck und -Mantel, Stolzing, wirft ihm Zettelchen zu und flirtet mit ihm auf Deibel komm raus. Auch die Lehrbuben benutzen den doppelten Boden der Kirche als willkommenes Versteck und Souffleurkasten, wenn sie Stolzings ersten Geh- oder vielmehr Sitzversuchen auf dem Meistersinger-Hinrichtungsstuhl beim Probesingen lauschen. Immerhin bringt der Ritter am Ende der Singschule die Meister schon mal regelrecht zum Tanzen. Nur Beckmesser rauft sich die spärlichen Haare und pudert seinen grünen Rock mit Kreide von der Merkertafel, auf der er ständig neu Platz schaffen muss für die vielen Striche.

Im zweiten Akt ist die Bühne umbaut mit einer vergilbten Kitschpostkarten-Nürnberg-Tapete über der Pegnitz, in dem die Lehrbuben ihre Johannisnacht-Tucherparty feiern. Beckmesser kommt mit einem Leiermann-Adjutanten im Matrosen-Anzügel zum nächtlichen Ständchen, von Sachs unsanft mit seinen Hammerschlägen verschustert. Heftig versucht er zu fensterln mit der im Stübchen als Eva verkleideten Magdalena. Die vergnügt sich derweil mit Stolzing schon in heißen Küssen im Bühnen-Unterbett. Die nächtliche Prügel-Orgie dann kündigt sich an mit einem gewaltigen Horntuten als quasi Fermate hinein in die Wagnersche Musik. Wie Gespenster in ihren weißen Nachtkleidern prügeln die braven Bürger besinnungslos aufeinander los. Die Kulisse wird mit Messerstichen zerschlissen, hängt am Ende in Fetzen verbrannt. Beckmesser, zum Krüppel geschlagen mit zerbrochener Leier, schleppt sich als letzter von der Walstatt.

Der wohl eindringlichste Moment ist dann der Beginn des dritten Akts mit der fahlen Wahn-Morgenmusik. Sachs sitzt da, wieder mit dem Rücken zum Publikum, auf einem Schemel im schwarzweißen Handwerker-Dress vor einem Nürnberg-Luftbild-Panorama der Kriegszerstörung zwischen Sebald- und Lorenzkirche. Mit Krücke voran steigt aus einer Luke der lädierte, an Armen und Beinen geschiente Beckmesser. Das von Stolzing als Traumeingebung gefundene Preislied notiert Sachs auf einem Probier-Satz Schuhsohlen, die Beckmesser sich wie einen Luft-Fächer aus höheren Zonen stibitzt. Auf der Festwiese allerdings fällt er mit seinem düsteren Holpergesang nicht so unangenehm auf. Sie alle sind gezeichnet, bandagiert von ihrem nächtlichen Entfesselungserlebnis der wahren Gefühle, aus denen Eva raus will, nur weg; weswegen sie auch wie ein Dummchen sich ran wirft an den Fremden, ohne auch nur zu fragen, ob er ein wirklicher Ritter, Retter oder nur ein Hamelnscher Rattenfänger ist.

Aber geht das alles so? Was ist das für ein Frauenbild, das dahinter steht, was für ein Künstlerbild? Kann man dies Stück, wenn überhaupt, so machen, die eigenen Fragen an dies selbst eingefleischten Wagnerianern Magengrimmen machende Stück nur als gleichsam Fußnote hinzusetzen statt sie szenisch auszuagieren?

Konwitschny, man weiß es, mag keine Bühnenbilder, die selbst auch etwas erzählen, die etwas übersetzen auf eine eigene Bild-Ebene, Er empfindet das als Einengung. Hier freilich ist der dafür in Anspruch genommene Realismus selbst die Beengung, immer wieder zwar aufgebrochen durch karikierende Einsprengsel, aber doch beim Zusehen ermüdend. So schleppt sich die Aufführung bis zum dritten Akt merklich. Immerhin nimmt Ingo Metzmacher den programmatischen Schlachtruf "dies ist eine deutsche Komödie" erfrischend ernst. Schon im Vorspiel hält er sein Philharmonisches Staatsorchester an zu einem luftig-filigranen Ton, der alles Bratwurstfett in die Holzkohle drunter abtrieft. Die Rouladen der Meistersinger versieht er mit ausgefeilt modellierten Schneeball-Trillern. In den Nachtbildern bekommt die Partitur etwas von Mendelssohnscher Zeckenhaftigkeit.

Leider ist der Stolzing des Cornischen John Treleaven (als Einspringer) von nicht so seraphischem Stimmkostüm, wie man ihn sich wünscht, nur ein höchst agiler Darsteller. Er wackelt mit den Tönen, presst sie eher als dass er sie schwingen lässt. Eine umso wunderbarere Eva ist Anja Harteros mit stimmlicher Leichtigkeit wie Kraft und darstellerischer Gelenkigkeit. Hans-Joachim Ketelsen zeichnet einen so skurrilen wie bemitleidenswerten Schreiber Beckmesser, der fühlt, dass die Blüte seiner Jahre welkt und der in Torschlusspanik all seine ehernen Grundsätze vergisst. Wolfgang Schöne, obwohl er sich als leicht indisponiert entschuldigen ließ, gibt einen grandseigneurhaften Sachs, der so weitsichtig ist wie er auch persönliche Gefühle (zu Eva) zurückzustellen weiß. Als Charakterstudie bemerkenswert der Nachtwächter von Andreas Hörl.

Eine wie immer Aufsehen erregende Premiere war das an der Hamburger Staatsoper, deren Bruchstellen allerdings auch nicht zu übersehen sind.


Außerirdisch

Peter Konwitschnys Rosenkavalier in Hamburg als Zeitreise
12.Mai 2002

Es ist alles ganz anders. So anders, dass das Hamburger Publikum die vertrauten Figuren dieser Strauss-Hofmannsthalschen Rokoko-Komödie kaum noch wieder erkennen konnte und am Ende heftig sein Pro und Kontra johlte. Dabei rücken diese Figuren einem, zumindest im ersten Akt, zum Fressen nah. Das Orchester ist auf der Bühne platziert. Man spielt in Livree und Allongeperücke. Mitten drin ein rosenrotes Riesenrundbett wie eine fliegende (Mokka-)Untertasse, auf dem die Marschallin sich räkelt mit ihrem jungen Bi-Liebhaber Octavian. Ob Mann, ob Frau?  Man weiß es bis zuletzt nicht, was für ein "Hosen"-Kavalier das ist oder nur vorgespielt wird. Vetter Ochs kündigt sich an, durchs Orchesterlabyrinth mit handgefertigtem Paukenschlag und Trompetenstoß sich drängelnd, und feiert gleich mit. Das Lever ist fast schon eine Multiorgie mit dem Friseur als früh gealtertem Lustknaben in der Rolle eines Raumschiff-Navigators. Der Tenor kommt als Medaillon aus der Tiefe des Betts halbhoch gefahren wie eine Büste. Nur die Dame des Hauses findet das am Ende gar nicht komisch. Wie die Zeit vergeht. Ihrem Mädchentagebuch vertraut sie an, dass sie nun 34 ist – Zeit, ihrem Leben  ein definitives Ende zu machen: Überdosis Tabletten, Schnitt.

2.Akt: Ankunft in den Zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts. Mondänes Bauhaus-Acrylmöbel-Design. Die Zigarre des ersten Akts, an der Marschallin und Octavian anwechselnd ziehen, ist ersetzt durch einen phallisch ins Bild ragenden Lippenstift. Das Orchester sitzt wieder versenkt ordentlich im Graben. Hausherr Faninal, der seinen Schnitt mit Waffen gemacht hat und nun seine Tochter verkaufen will, furcht wie ein Nestroyscher Stritzi über die Drehbühne. Der Kaffeemohr vom Anfang figuriert nun als stummer Diener und verführerischer Lustspender mit Schoko und mehr für die Hausfrau. Tochter Sophie im königsblauen Matrosenkostüm wartet schon zittrig. Der Brautwerber Octavian stolpert viel zu spät, sternhagelvoll besoffen und immer die Hand am Flachmann, herein wie ein Prinz Orlowsky aus der Fledermaus (vom anderen Strauß). Statt einer Silberrose hat er eine schwellend rote im Futteral. Und Sophie, ob des starken "Dufts", wie betäubt, sinkt ihm gleich zu Füßen. Zusammen verschwinden sie im weißen Flügel, wo der Intrigant Valzacchi die Mausefalle zuschnappen lässt. Der schon leicht etwas befremdete Ochs, der sich in der nun folgenden Bediensteten-Orgie eine Stichwunde einfängt, wird am Ende falstaffartig mit aller vom Fest zurückgelassenen Wäsche wie ein tropfender Kerzenständer voll gehängt.

Akt 3: Ausflug in die Zukunft. In einem Fernsehstudio werden die Beisel-Kulissen einzeln auf die Bühne gefahren. Hauptmarter-Instrument ein Fernseher, über dessen Fernbedienung Octavian regiert, dazu eine Lautsprechersäule, ein Doppelsitzer und ein baldachinumflorter Schubkarren mit Heu, auf dem die umgelegte „Mariandl“ es sich dann gemütlich machen darf. Der Ochs als Außerirdischer aus dem Rokoko versteht diese Welt nicht mehr. Musik aus Säulen tönt da, die er nicht bestellt hat. Bilder dringen auf ihn, die ihn selber spiegeln in dem, was er gerade tut. Live. Schließlich flockt auch noch die Marschallin als Untote im aschgrauen Kostüm herein. Nein, das kriegt er nicht mehr zusammen. Sie drängen ihn weg aus dem Spiel vor den schwarzen Bühnen-Vorhang, und die Walzerstimmen prasseln wie Geschosse aus Lautsprechern auf ihn ein. „Leopold, wir gehen!“ bleibt ihm da nur noch. Aber kaum ist er weg – einer der das Leben noch zu genießen wusste, einer mit Hörnern und Feingefühl –, trauern sie ihm hinterher: "Ist ein Traum". Als Schaufenstermodels für Webpelzmäntel singen die drei Damen das Schlussterzett, tauchen die gerettete rote Rose in flüssigen Stickstoff und lassen sie auf dem Gehsteig zerklirren. Herr Faninal führt sein Hündchen Gassi vorbei und wundert sich. Der zum alten Mann gealterte Mohr als Straßenfeger macht den Kehraus.

Viele Jahre hat Peter Konwitschny sein mit Gabriele Koerbl (Ausstattung) und Jörg-Michael Koerbl (Dramaturgie) entwickeltes Rosenkavalier-Konzept bei sich hüten müssen. Kein Theater wollte daran. Zu radikal bricht es mit den Sehgewohnheiten. Radikaler gewiss auch als die beiden letzten Verdi-Premieren, der Grazer Falstaff und der Hamburger Don Carlos. Und auch mutiger, denn Konwitschny bleibt trotz der Brüche "im Stück". Und das Publikum reagierte denn auch am Ende erwartungsgemäß heftig. Manches klügelt gewiss ein bisschen zu spielerisch-intellektuell mit dem Material, was gewisse Längen bringt. Aber doch ist alles bis aufs i-Tüpfelchen durchdacht. Und Kurt Moll wollte diesen Ochs spielen. Und zwar so. Er war mit die treibende Kraft und die zentrale Figur dieser Aufführung mit seiner sublimen, nie versiegenden Komödiantik und ohne den stumpfen, pausbäckigen Wiener Schmäh.  Dass ihm hin und wieder ein Ton verrutschte – geschenkt. Eine grandios "das Alter bewältigende "Feldmarschallin ist Brigitte Hahn, Liliana Nikiteanu der/die pfiffige Octavia(n), Christiane Oelze die erst backfischhafte dann ihre Mädchenhaftigkeit ins Männliche wegspielende Sophie. Jürgen Freier als neureicher Herr von Faninal macht aus einer sonst kaum belichteten Nebenrolle eine fast schon zentrale Figur.

Ingo Metzmacher am Pult musste am Ende – ungewöhnlich in Hamburg – auch einige Buhs einstecken. Er hält den Klang "trocken", lässt das Orchester kaum "schwelgen", gewinnt dem Schmelz dieser Straussschen Partitur allzu wenig Farbe ab. Dennoch war dies wohl eine der eindrucksvollsten Premieren der Saison und ein Meilenstein in der Rosenkavalier-Rezeption.


Opern-Verbrennung

Verdis Don Carlos (weitestgehend)
in der Pariser Ur-Fassung in Hamburg

4.Nov.2001

Allweil ein wenig lustig - Ebolis Traum nennt Peter Konwitschny eine der Einlagen zu seinem Mostly-Verdi-Don Carlos. Die Prinzessin lädt den Infanten zum Puteressen in ihre Blümchentapete. Schnell noch den Tisch gedeckt, die Knabbersachen am Kamin verstaut. Der Geliebte bringt zwar schlechte Nachrichten aus seinem Büro. Aber es reicht noch, bis die anderen beiden Gäste klingeln, zum Quickie auf der Couch. Für den Puter freilich eine zu lange Strecke. Es dampft und müffelt rabenschwarz aus der Küche. Aber dem Pizza-Service sei Dank, Philipp und Elisabeth, in der wirklichen Oper der König und die dem Sohn als Braut entzogene Königin, haben auch so einen lustigen Treff. Je länger der Abend, je schöner die Geschenke: ein Teddy und ein Kinderbettchen, in dem sich so herrlich Kringel fahren lässt in der Stube wird entpackt für den sich ankündigenden Nachwuchs.

 Tobte das Publikum am Ende dieser Konwitschnyschen Fassung der Ballettmusik des dritten Akts minutenlang im pro und contra mit Anrufungen auch von Schill für Schiller & Verdi - geradezu (leider) Schlingensiefsches Format erreichte die Aufführung mit dem für gewöhnlich als mark- und knochenschneidendes Schauerstück der Oper geltenden "Auto de fe". Aber keine Ketzer werden hier verbrannt. Ein Sekt-Party-Happening wird gestartet im ganzen Haus. Zum allgemeinen gaudium werden Flagellanten durch die Gänge getrieben, von Bild-Reportern umblitzt, bis der König kommt im Abendanzug mit Gattin am Arm und eine Lametta-Ziege, Mischung aus Dietrich und Monroe, den Mädels und Jungs vom Hof per Fotofilm ein paar Schnappschüsse von der heimlichen Front unterjubelt. Derweil der mit seinem Infanten-Status unzufriedene Sohn Flugblätter ins Parkett regnen lässt: Papi, ich will da endlich rein!

Fünf Akte in Französisch - der Ur-Don Carlos sollte es sein, den Regisseur Peter Konwitschny und Hamburgs Staatsopern-Musikchef Ingo Metzmacher sich auserkoren - inklusive auch einiger Szenen, die bei der Uraufführung schon gestrichen waren, damit der Pariser Opernbesucher des Jahres 1867 nicht die letzte Metro versäumte. Vor allem ein Chor von Holzfällern zu Beginn des 1.Akts, des so genannten Fontainebleau-Bilds, wurde damals geopfert. Musikalisch keine tief berauschende Eingebung. Aber dramaturgisch legt sie die Spuren, warum Elisabeth, die Tochter des französischen Königs, bei den einfachen Leuten als Friedensengel im noch tobenden Frankreich-Spanien-Krieg so verehrt wird und weswegen sie auf ihren Geliebten, den spanischen Infanten Carlos, verzichtet und damit auf ihr Lebensglück zugunsten von dessen Vater Philipp, der sie doch nie wirklich bekommen kann.

Mit intensivem Spiel gelingt es Konwitschny und seinen Sängerdarstellern dies eindringlich zu verdeutlichen. Eine überragende Elisabeth ist die junge Danielle Halbwachs mit einem überaus schattenreich aufblühenden Sopran, die bei der ersten Begegnung mit dem Infanten ihr Herz voll verströmt an den etwas zappligen Philipp-Sohn, Gabriel Sadé; die wie eine Katze sich wehrt, in die steifen Kleider der spanischen Hofetikette gepresst zu werden. Ein äußerlich harter Philipp ist Robert Hale, der seinen weichen Kern, seine Zerbrechlichkeit in der Konfrontation durch Rodrigo (Jean-Luc Chaignaud), den Marquis von Posa, aber erschütternd offenbart.  Dass er seine berühmte Geständnis-Arie, Elisabeth habe ihn wohl nie gelebt, in den Armen von deren Rivalin Eboli singt beim Erwachen aus den gemeinsamen Federn, zeigt seine innere Schwäche. Jeanne Piland hat als Eboli freilich nicht die grandezza, eine echte Rivalin zu sein um die Gunst von Infant bzw. König. Die wirkliche Hauptfigur im Konzept Konwitschnys, seines Ausstatters Johannes Leiacker und des Dramaturgen Werner Hintze, ist ein unscheinbarer Mönch (Marcel Rosca) im Kloster San Yuste, in das Karl V, Philipps Vater, sich zurückgezogen hatte Knallfall vom Regierungs-Geschäft. Dort pflanzt er seine Bäumchen und bewässert sie. Am Ende rettet er das junge Paar aus den Klauen der Inquisition.

Was Konwitschny da in Szene setzt, ist ein Tanz auf dem Vulkan, mit leichtem Sinn und in den Chorszenen etwas zu pauschal. Ins Bravo für die Sänger und zumal für den einen wunderbar konturierten Verdi-Ton findenden Dirigenten mischten sich am Ende denn auch erbitterte Buhs für den Regisseur. Dass die beiden Schlussakte mit dem endlosen Abschiednehmen der Figuren nach dem Opern verbrennenden "Auto de fe" nicht die Klimax des Anfangs wieder erklimmen konnten, kein Wunder. Musikalisch bündeln sie noch einmal die schönsten Perlen dieser so unvergleichlich vielfältigen, fast ins Disparate zersplitternden Verdi-Musik.



Formel 1

Peter Konwitschny eröffnet die Zimmermann-Ära an der Deutschen Oper Berlin mit Luigi Nonos Intolleranza

15.Sept. 2001

Langsam, unendlich langsam verlöscht das Licht. Ein Bauarbeiter, der im rot gestrichenen Doppel-T-Träger-Gebälk der Oberbühne seine Brotzeit gemacht hat, schraubt die Thermoskanne zu. Als er sich wieder an die Arbeit machen will, taumelt er in die Tiefe. "Lebendig ist wer wach bleibt", intoniert der Chor dazu einfühlsam aus dem off, "wer das Leben liebt, wer das Licht liebt und nicht aufhört zu lieben".

Plakate werden in Peter Konwitschnys Einrichtung von Luigi Nonos Intolleranza nicht entrollt. Eher unspektakulär kommt bei ihm die 1961 in Venedig mit großem Aplomb uraufgeführte Polit-Parabel daher. Eine "Azione scenica" nannte es der Komponist und überzeugte Kommunist Nono damals. Eine Art szenisches Oratorium ist es hier.  Auf diesen Kern führt es Konwitschny in seiner Inszenierung an Berlins Deutscher Oper konsequent zurück - Auftakt der Amtszeit des neuen Generalintendanten Udo Zimmermann.

Die heute leicht pathetisch und etwas kolportagehaft wirkende Geschichte über einen Fremdarbeiter, den es nach langem Aufenthalt im Ausland nach Hause zieht, der auf der Wanderung dorthin in eine Demonstration gerät, dabei den inquisitorischen Sadismus eines Polizeistaats kennen lernt und der an der Heimkehr schließlich gehindert wird von einer Hochwasser-Flut - Konwitschny fokussiert das Stück auf die Brüche in den menschlichen Beziehungen. Ein rot lackiertes Bett sieht man anfangs im Mittelpunkt auf der Bühne. Der Fremdarbeiter (der wunderbare Chris Merritt) räkelt sich darin mit seiner blonden Geliebten (Yvonne Wiedstruck). Der Pappkoffer steht griffbereit unterm Bett.

Nachdem der kurzzeitig Inhaftierte per Schubkarren Bekanntschaft gemacht hat mit den Folterkammern, findet er eine neue "Gefährtin" (Melanie Walz). Mit ihr teilt er nun das Bett, eisgrau. Einen kleinen "Ehekrieg" zwischen den beiden Frauen, mit Kissenschlacht ausgetragen bis aufs Blut, beendet ein kleines Mädchen. Sie muss, mit den Muskeln spielend, die Erwachsenen zur Vernunft bringen. Und sie hat im Fernsehen gut aufgepasst. Der Autonarr Konwitschny lässt sie die Matadoren à la Methode Formel 1 mit Champagner absprühen. Der generelle Wasserstand freilich steigt. Die Insel, auf der der Arbeiter und seine Gefährtin ihre Zuflucht suchen vor der metaphorischen Flut, wird enger und enger. Wie eine Fotolinse zieht der Bühnenvorhang sich zusammen. "Hier muss man bleiben und hier verändern", erkennt schließlich der Protagonist.

Fast ganz ausgeblendet ist von Konwitschny der Chor. Im Polit-Theater Nonos, mit dem der damals auch etwas kurzsichtig polemisierte gegen John Cages offene Form des Zufalls, ist er als "Masse" zwar ein zentraler, wenn auch musikalisch individuell geführter Kontrahent. Seine Reflexionen, Mutmaßungen, Träume lässt Konwitschny über wie Klang-Stelen auf der Bühne (Hans-Joachim Schlieker) verteilte Lautsprecher einspielen. Optisch präsent gemacht ist er lediglich in einer Szene nach dem Polizei-Verhör. Bei hochgefahrenem Saal-Licht wird das Publikum da direkt konfrontiert in einer Art expressionistischem Schrei mit einem "Und Ihr?".

Souverän leitet Peter Rundel im Graben die gut einstündige Aufführung. Das Publikum feiert am Ende begeistert alle Beteiligten. Fast ein Viertel Jahrhundert ist es her, dass der mittlerweile Erfolgs-Regisseur Peter Konwitschny in Berlin eine Musiktheater-Premiere herausbringen konnte. Dem General-Intendanten Udo Zimmermann, der symbolische Akte über alles liebt, ist mit dem Engagement ein doppeltes politisch-moralisches Ausrufungszeichen gelungen. Mit Konwitschny hatte er zugleich einen Top-Fachmann zur Hand, der gnadenlos die Schwächen eines - nach den fast zwanzig Amtsjahren von Götz Friedrich - auf Unselbständigkeit hin getrimmten Apparats durchleuchtete und in Richtung mehr Eigenverantwortlichkeit der Gewerke öffnete, um das Haus auch künstlerisch endlich wieder in die Formel 1 zu hieven.

Dass der Aufführung durch die Ereignisse dieser Woche eine besondere Aktualität zuwuchs - auch wenn Nonos und seines Textmitarbeiters Angelo Maria Ripellino Überlegungen über Kolonialismus (damals den Algerienkrieg), Gewalt, Faschismus verglichen mit den gespenstischen Verwerfungen heute einigermaßen gemütlich wirken -, in einem stummen Insert wird es mit einbezogen. Auf den quer über die Bühne gespannten Leuchtschrift-Bändern, an denen der gesamte Text in roten Lettern mitlesbar ist, flimmern da die Schlagzeilen vom 11.September. Ein Nachrichten-Sprecher mimt dazu betroffene Anteilnahme – eine Karikatur des heutigen Mediengeschäfts. Ob er unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse diese Produktion heute anders anlegen würde? Die Frage beantwortet Konwitschny im Gespräch mit einem ehrlichen "weiß ich nicht". Aber, fügt er hinzu, er habe nicht das Gefühl, dass man etwas anders habe machen "müssen".


Quicky im Theaterbauch

Verdis letzte Oper: Falstaff in Graz

25.Februar 2001

Den Pendelschlag der Aufführung bestimmt das Wummern der Abrissbirne. Das Bühnenhaus ist bis zur Nacktheit entkernt. Hier geht’s zur letzten Vorstellung auf der "ehemaligen Bühne" sagen Hinweisschilder im mit Bauplanen verhängten Foyer. Gleich am Eingang wird der Besucher vertraut gemacht mit den Umbauplänen eines Investors. Die Fontana und Co KG, Immobilien weltweiz errichtet ein Erlebniscenter der neuen Art. Im riesigen orangenen Entsorgungs-Container auf der Bühne wird der gesamte Theater-Fundus entsorgt. Dessous, Schuhe, ein ganzes Klavier, auf dem jemand eine letzte Melodie zu klimpern versucht. In einer Blechbude am Rande allerdings hat sich dieser Dickwanst eingerichtet und behauptet die Stellung: Falstaff, ein Fossil. Damenbesuch empfängt er dort dutzendweise. Die Damen drängeln geradezu nach ihm auf der Hühnerleiter. Eine "Miss Ehre", Gewinnerin beim letzten Schönheitswettbewerb, streift schnell alle Skrupel und Etiketten ab.

Aber auch die Damen der "Gesellschaft" weiden sich an Falstaffs Theaterbauch - und der ist hier eben nur ein Theaterbauch aus dem Fundus, an- und abgeschnallt nach Belieben. Und wenn Mr.Ford, alias Fontana, den noch so wild in Fetzen zersticht, die Damen Alice und Meg werden ihn wieder stopfen. Sie lieben diesen Bauch, sie lieben seinen Träger. Wie eine angebetete Hostie schwebt dieser Theater-Requisiten-Bauch später im magischen Schwarzlicht über den Häuptern der Begehrenden, die alle sehnsuchtsvoll die Hände danach strecken. Zum Feuerlöscher greift Falstaff kurz entschlossen, als der Bauch in Brand gerät. Und während die Jüngeren vor allem damit beschäftigt sind, Geld zu zählen und ihre Liebesschwüre per Handy und SMS auszutauschen, wollen die Ältern genießen, auch schon mal einen flotten Dreier im Wasch-Körbchen, Größe DDD. Das Schlusswort hat dann die Firma Besenrein. Es ist abgeräumt, nun wird ausgekehrt und ausgewischt. Wo mal Theater war, ist alles glatt geleckt. "Theater war schön" las man in Kreidekrakeln auf dem versinkenden Abfall-Container. "Tutti gabbati", alles Narren, alles Gefoppte - die berühmte Schluss-Fuge von Verdis letzter Oper, hier wird sie auf den Punkt gebracht: alle verarscht.

Wird sonst in Falstaff-Inszenierungen Sir John gezeigt meist als einer, auf dessen abgestandene Geilheit alle verächtlich herabschauen, ist es bei Peter Konwitschny gerade umgekehrt. Alle sind auf Falstaff scharf. Der stammt aus "vorbürgerlicher" Zeit. Der ist für Konwitschny einer, der noch zu leben versteht, der noch nicht vom Besitzstreben und Geldhäufeln "entstellt" ist, der weiß, was Frauen wünschen und wie man lebt und konsumiert. Sein Problem ist das nicht, das die neue Gesellschaft plagt: "Sein, wenn man zu viel hat". Aber Konwitschny dekonstruiert nicht nur Verdis letzte Oper, er zeigt auch die versteckte Poesie. Die Abrissbirne wird zum aufgehenden Mond über dem Park von Windsor. Der Wein, den Falstaff in sich hineinschüttet, ist wirklich trocken, staubtrocken. Der Eisensarg, in den man den letzten Ritter vergattern will, hat keinen oder auch nur einen Theater-Boden. Und das jugendliche Paar Nannetta-Fenton kommt endlich auch auf den Geschmack und "heiratet" - in Senioren-Masken.

Verdis Falstaff ist Peter Konwitschnys siebente Arbeit in Graz binnen zehn Jahren.*) Heimatgefühle sind da gewachsen, wie einst in Halle. Aber diese Produktion ist auch so etwas wie ein Kehraus - auch für den Intendanten Gerhard Brunner, der sich nun, wie zu erfahren ist, berechtigte Hoffnungen machen kann, doch noch mit einigen Rest-Kompetenzen sein BerlinBallett gründen zu können. Allein für drei Verdi-Arbeiten hat Brunner Konwitschny gewonnen. In einem kleinen Festival mit Colloquium im Sommer (29.06.-01.07.2001) sollen die Brunners Grazer Intendanz dann beschließen. Zum Falstaff mochte Konwitschny sich lange nicht durchringen. Er fand keinen Zugang. Es ist Verdis untheatralischstes Stück. Dessen Uraufführung hätte der Komponist sich auch ganz ohne Theater - und jedenfalls ohne die Scala vorstellen können - auf seinem Landgut Sant'Agata. Dessen Libretto nannte Eleanora Duse, seinerzeit dieGeliebte des Textdichters Arrigo Boito, eine "traurige Komödie".

Konwitschny macht daraus ein Endspiel über das Theater, über die Liebe mit vielen gleichsam szenischen Fermaten, Haltepunkten, Reminiszenzen - auch (und vielleicht etwas zu viel) an eigene Inszenierungen: Vom Verkaufte Braut-Pissoir bis zum zugezogenen und auch abgehängten Theatervorhang des Münchner Tristan, unter dem sich’s gut munkeln lässt, dem Aida-Sofa oder dem in die Stadt am Ende sich öffnenden Bühnentor aus dieser Oper, wo zum Schluss denn auch pünktlich die Straßenbahn vorfährt. Dieser Falstaff ist eine Liebeserklärung zugleich an die Liebe und an das Theater. Theater will Konwitschny im Bewusstsein halten als den Ort "unentfremdeten Kommunizierens". Theater als schöner Anachronismus ist Störfaktor in einer technisierten, virtualisierten Welt. "Es ist eben was anderes", sagt Konwitschny im Gespräch, wenn man mit einem anderen Menschen direkt sich austauscht, "wenn man noch spürt, dass der eine Körpertemperatur hat und Emotionen", als wenn man mit ihm mittels einer Maschine kommuniziert. Das präsent zu erhalten sind Theater wichtig in unserer Kultur. Und es ist "ein Politikum, dass die Menschen das nicht verlernen und wissen, was der andere empfindet, wenn man ihn mit Stiefeln ins Gesicht tritt."

Virtuos ist das in Szene gesetzt (Bühne: Jörg Koßdorf, Kostüme: Michaela Mayer-Michnay, Licht: Reinhard Traub). Spritzig leitet Ulf Schirmer das Orchester am Pult. Einen luftigen Verdi lässt er aus dem Graben tönen, auch wenn's manchmal mit der Koordination zwischen Graben und Bühne hapert. Gespielt ist das brillant. Ein verschmitzt-liebenswürdiger und gar nicht so tumber Sir John ist Jacek Strauch. Natalia Biorro und Natela Nicoli geben die auf den Geschmack kommenden Alice und Meg. Und auch die Mrs Quickly der Ildiko Szönyi ist hier mehr als nur die Botin der Liebe. Sie will schon auch selber mal was davon: Einen Quicky im Theaterbauch, kriechen in dies Lustzentrum und "zweite Gehirn". Dass einige im Publikum ihren Falstaff so nicht mehr wieder erkannten, war zu erwarten. Andere dürften ihn da erst richtig lieb gewonnen haben. Spontaner Jubel am Ende, aber für die Regie auch einige Buhs.


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