Affen und Nagetiere grinsen einem anfangs vom Bühnenprospekt entgegen. Dann eine steinzeitliche Menschheit, die von einer rätselhaften Krankheit bedroht ist. Aber ein Drache hilft. Er erklärt ihnen, das Wasser sei Cholera-verseucht. Sie sollten nur abgekochtes Nass trinken. Und er hält sogleich seinen giftig-heißen Atem-Strahl wie einen Tauchsieder ins Wasser. Nun ist das Wasser keimfrei und jeder Urmensch bekommt einen kleinen Privat-Tauchsieder. Dann sieht man Mädels in blau-weißer Kleidung (Rock-Bluse) bei „Elektro-Müller“ einkaufen – wohl mit ihrem 100-DM-Nachwende-Begrüßungsgeld in der neuen Zeit. Und alle fühlen sich irgendwie pudelwohl. Nur eine nicht, Elsa. Sie soll mit dem Drachen verheiratet werden. Stattdessen wünscht sie sich einen Lohengrin oder Siegfried oder sowas Ähnliches als Befreier. Denn der Drache, der einst half, hält noch immer seine „schützende“ Hand über die kleine Menschheit. Alles ist geordnet, geregelt. die Menschen angeblich glücklich. Nur Freiheit – was immer das sei – gibt’s nicht.
„Lanzelot“ von Paul Dessau wurde 1969 uraufgeführt an der Berliner Staatsoper. Das Auftragswerk war ein Geschenk an den Komponisten zum 75.Geburtstag. Das Sujet nach Jewgeni Schwarz‘ „Der Drache“ ließ sich Dessau von Heiner Müller, als Schriftsteller damals verfemt, zum Libretto verarbeiten. Dessaus Frau, Ruth Berghaus, realisierte das Stück. Selbst gesehen habe ich diese Inszenierung nicht. Sie war nach Beschreibungen eine mit Puppen, märchenhaft auf die Bühne gebracht. Peter Konwitschny, einstiger Assistent bei Ruth Berghaus, hat das schon fast vergessene Werk in einer knapp dreistündigen Produktion nun am Weimarer Nationaltheater mit Weiterreichung an die Oper Erfurt neu herausgebracht. Ich sah eine spätere Vorstellung. Die Produktion ist perfekt, der Aufwand immens, ein wahrer Kraftakt.
Das Märchen ist auch eine Parabel auf all diese Regime, die „für“ die Menschen alles regeln und dabei ihre Freiheit verstümmeln, die DDR eingeschlossen. Und es ist eine Frage an die Menschen: wie gefeit sind sie solchen Verlockungen vermeintlicher „Sicherheit“ gegenüber? Gerade heute wieder verkünden rattenfängerische Populisten solche „Sicherheit“ und kassieren die Freiheit aber auch die Unbill eines selbstbestimmten Lebens. Etwa in Ungarn. Zum Glück gibt es auch Gegenbewegungen. Und Dessau hat listigerweise in seine Schlagwerk-schwangere Partitur auch jenen Song eingebaut, den einst die sozialistischen Thälmann-Brigaden im Kampf gegen die Franco-Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg als Losung auf den Lippen hatten: „Freiheit!“
Elsas Retter ist der Ritter Lanzelot. Aber die Menschen sind skeptisch ihm gegenüber. Es war doch alles so schön geordnet, so sicher unter dem Regime des „Drachen“. Dennoch tötet Lanzelot den „Drachen“. Und sogleich versucht sich der Bürgermeister als neuer Drachen. Die Menschen sind weiter unsicher, wem sie folgen sollen. Was ist mit dieser „Freiheit“, die Elsa wollte und Lanzelot ihnen brachte? Was können sie damit anfangen? Der Zuspruch von Presse und insbesondere Publikum zu dieser Inszenierung war euphorisch, wie es die Theaterleitung sich kaum erträumt hatte. Konwitschnys Inszenierung erinnert etwas an seine frühen Brechtischen Verfremdungs-Versuche zum Beispiel mit Offenbach und Lortzing. Sie gerät eher plakativ als witzig und leicht. Recht warm wird man damit nicht.
Zudem ist der Bühnen-Aufwand (Helmut Brade) so immens, dass die fünfzehn Bilder noch zerstückelt werden in einzelne Szenen. Ständig sind Umbauten nötig. So fehlt der Fluss, die Spannung. Unglücklich gelöst auch die Text-Übertitelung mit einer fast winzigen Schrift unterhalb der Bühne. Über der Bühne prangen dagegen Szenentitel, auf die man gern verzichtet hätte. Der Überwachungs-Film, an dem als Blick in seine Waffenkammer der Drache sich ergötzt, gerät überdeutlich zum Arsenal von Mini-Drohnen bis zu Raketen. Und Lanzelot bringt nach seinem Sieg über den Drachen auch noch Boots-Flüchtlinge mit; nach dem Kampf begegnete er überrascht seinem Alter Ego. Und Elsa, karikaturhaft immer in den allerhöchsten Höhen eher quiekend (Emily Hindrichs), erwartet von ihrem glatzköpfigen Retter (Máte Sólyom-Nagy) schon ein Kind – die Jungfrauengeburt, denn mit lebendigen Figuren hat man's hier kaum zu tun.
Blitzblank die musikalische Aufführung unter Dominik Beykirch, wobei die Schlagzeuger in zwei Musik-„Käfigen“, wenn sie gebraucht wurden, auf die nicht allzu große Weimarer Bühne hereingeschoben werden. Zum Drachenkampf rücken beide Käfige in der Mitte zusammen als wehrhafte Burg, die Lanzelot umkreist. Bei der (ausverkauften) Aufführung, die ich besuchte, gab es zur Pause allerdings auch einige Besucher, die den in der Tat etwas holprigen Schluss nicht mehr abwarten wollten. Der Schlussbeifall dennoch herzlich und langanhaltend. Immerhin eine Rückblende, die zeigt, dass die Avantgarde auch in der DDR zuhause war, wenn auch gegen immer neue „Drachen“ kämpfend. Und es gibt weitere Opern von Dessau, die der Wiederentdeckung harren. „Lanzelot“, von der spielbares Notenmaterial teilweise erst erarbeitet werden musste, ist nicht Dessaus stärkste.
Von Beginn an gehörte das Gedenken an die örtliche NS-Vergangenheit zum Programm des Weimarer Kunstfests. Nike Wagner tat das vor allem mit ihren „Buchenwald-Konzerten“. Die neue Leitung unter Christian Holtzhauer hat in Kooperation mit dem Partner Deutsches Nationaltheater in diesem Jahr anlässlich des siebzigsten Jahrestag von Kriegsende einen besonderen Akzent gesetzt: mit der szenischen Recherche von Hitlers „Mein Kampf“ und der Deutschen Erstaufführung von Frederic Rzewskis „Triumph des Todes“. Rzewski, Amerikaner heute in Brüssel lebend, schrieb sein Stück 1987 nach Materialien von Peter Weiss‘ „Ermittlung“. Ihm folgend gliedert er die Protokolle des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963-65) in elf Gesänge mit Prolog und Epilog. Es ist eine Art szenisches Oratorium, in dem Zeugen-Aussagen und Verhöre der Angeklagten rezitativisch oder im Ton von Litanei oder Sprechgesang mit unterlegter Pattern-Musik eines Streichquartetts vorgetragen werden. Rzewski, aus dem Umfeld Stockhausens kommend und vor allem durch seine politisch engagierte Musik bekannt, nutzt, Kurt Weills amerikanischen Schulopern folgend, auch deutsche Volkslieder, Arien, Walzer oder amerikanische Folkmusic als gleichsam Verfremdungselemente, um das Grauen der Erzählungen zu verdeutlichen: Von der Selektion an der Rampe bis zum Tod in den Feueröfen.
Besonders eindringlich der Gesang über das „Ende von Lili Tofler“, einer Sekretärin in der Lagerverwaltung, die in einem Brief an einen Häftling ihr Herz ausschüttete, wie sie das Leben noch ertragen könnte nach dem im Lager Erlebten; sie wurde erschossen, der Name des Häftlings blieb geheim. Oder der Gesang über den „Unterscharführer Stark“, der alle Schuld mit höhnischem Gelächter abstreitet – und die erste Geigerin zertrümmert einen Stuhl. Oder der Gesang über das „Phenol“, mit dem ein Hilfssanitäter, um die Zahl der Toten „aufzurunden“, eigenmächtig Spritzen setzte, ebenfalls begleitet von irrem Lachen. Zum Gesang über das „Zyklon B“, bei dem ausgerechnet wird, wieviel die Ermordung von zweitausend Häftlingen kostete, spielen die Sänger Federball: 40 Mark kosteten die 16 Dosen. Beim „Gesang von den Feueröfen“ setzt Rzewski auch Banjos und die singende Säge ein, und Regisseur Alexander Fahima lässt das Quartett von Sängern Quadrille tanzen an den Zuschauern der Aufführung entlang. Im Epilog schauen die Angeklagten zum Fenster der kleinen Apsis des Spielorts hinaus, plädieren dafür, die Vergangenheit einfach zu vergessen – jetzt wo Deutschland sich wieder Ansehen in der Welt verschafft habe. Dazu höllisches Gekreische vom Tonband.
Der Spielort, das „Schießhaus“ ist ein 1803/05 von dem Architekten Heinrich Gentz auf Anregung von Goethe erbautes „Lustgebäude“ am Rande von Weimar, jetzt ziemlich verfallen, aber einen schönen Tanzsaal mit Tonnengewölbe und Musikempore beherbergend, das man wieder herzurichten begonnen hat. Das Publikum sitzt an der Breitseite, nahe am Geschehen. Als Bühne ist ein Oktogon mit Innenloch wie ein überdimensionales Ewiges Feuer aufgebaut (Julia Schnittger). Aus dessen Innerem kriechen anfangs die fünf Sänger-Darsteller. Etwas viel sinnleeres Umeinander-herum-Laufen lassen Regisseur Alexander Fahimi und Choreografin Dorothea Ratzel sie exerzieren. Frederic Rezwski bezeichnete die Aufführung gleichwohl als die eigentliche szenische Uraufführung. An der Yale-Universität war das Stück von Studenten erstmals szenisch erprobt worden. In Weimar spielen Mitglieder des DNT unter Leitung von Martin Hoff. Auch wenn szenisch Wünsche offenbleiben, ist es eine wichtige Tat des Kunstfests, das Stück vorgestellt zu haben. Kaum ein Komponist heute erinnert sich noch solcher Themen.
Blau ist der „Kunstsenf“, den Studenten der Kunsthochschule zum diesjährigen Weimarer Kunstfest kreiert haben: passend zum Thema „Ideale“. Die würzige Thüringer Spezialität Bratwurst kann man als obligatorischen Pausensnack natürlich auch ohne den blauen Mostrich geniessen. Tuben dieses blauen Wunders stehen gleichwohl überall an den Verkaufsständen des Kunstfests bereit. Und Studenten haben auch zeitweilig die Weimarer Denkmalheiligen Goethe, Schiller, Herder, Wieland verfremdet. Überall lugt jetzt statt ihrer oder mit ihnen ein Liszt-Kopf aufs kunstpilgernde Publikum. „Pèlerinages“, Pilgerreisen, nennt Intendantin Nike Wagner ihr Kunstfest. Und ihr Ur-Ur-Grossvater Franz Liszt darf dazu jeweils das Motto liefern. „Ideale“ heisst das diesjährige. Die vom Meister so titulierte Sinfonische Dichtung war gleich im Eröffnungskonzert des MDR Sinfonie-Orchesters zu hören, im Unterschied zu Schillers skeptischem Gedicht eine apotheotische Beschwörung. In ihrer alljährlichen Rede zur Eröffnung hielt Nike Wagner es indes eher mit einem Aphorismus von Karl Kraus, dass an einem Ideal „nichts erreichbar“ sein solle „als ein Martyrium“.
Bild gewordene Ideale hat in der kleinen ACC-Galerie am Burgplatz Frank Motz zusammen gestellt. Von Fernando Calveria zeigt er aus Schwemmholz gezimmerte Serviceleitern, wie afrikanische Boatpeople sie sich herstellten, um ihr Traumziel Europa zu entern; sechs Meter hoch lehnen die Leitern an der Hauswand und laden ein ins labyrinthische Innere. Gleich am Eingang begrüsst einen dort Michelangelo Pistolettos Venus, die in einem Haufen von Lumpen wühlt. Guy Ben-Ner hat in einem filmischen Selbstporträt sich eine Robinson-Insel in die Küche gebastelt. Ho-Yeol Ryu zeigt einen Vogelschwarm startender Ferienflieger, um deren Absturz man ernstlich fürchten muss. Sebastian Brandt baut eine Waldrandidylle mit Reh, Fuchs, Eichhörnchen, Hase und Marder. Cornel Wachter stellt unter dem Motto „Meine ideale Welt – zimmere ich mir selbst“ eine Art Klohäuschen mit Spitzweg-Schirmen in den Raum. Und erinnert wird an einen sächsischen Abenteurer, der im 18.Jahrhundert zu den Chirokee-Indianern floh, um bei ihnen ein „Königreich Paradies“ zu gründen.
Ein musikalisches „Utopia“ fürs Fest hat Thomas Kessler ersonnen. Die grandiose Uraufführung mit der Weimarer Staatskapelle leitete Heinz Holliger. Man ist dazu in die Viehauktionshalle gegangen, einen scheunenartigen Bau mit hohem Wellblech-gedeckten Spitzdach, in dem zuletzt das Tanzprojekt und zu DDR-Zeiten der Konsum untergebracht waren. Die Immobilie liegt gleich hinter dem Bahnhof auf halber Höhe zum Ettersberg, der düstersten Stätte Weimars mit dem ehemaligen KZ Buchenwald. Das Rattern vorbei rauschender Züge stört gelegentlich die sonst für Konzerte erwartete Ruhe. Aber man hatte hier Platz für das räumliche Konzept Kesslers.
Das Hauptorchester ist zwar wie gewohnt auf dem Podium an der Stirnseite des Saals postiert, davor aber rechts und links und an der Rückseite der Halle je zwei kleinere Gruppen von Musikern, geordnet nach Klanggruppen, Holz, Blech, Streicher, Schlagzeug-Keyboards. Für die rückwärtige Musikergruppe war mit dem jungen Christian Schumann ein zweiter Dirigent von Nöten. Jeder der insgesamt 70 Musiker ist zugleich angeschlossen an einen Computer. Über die Software wird der Klang elektronisch verändert. 56 verschiedene Einstellungen sind programmiert. Die Musiker rufen die Programm-Schritte nach den Markierungen in ihren Noten selber ab. Sie selbst haben in begrenztem Umfang auch Einfluss auf die Dynamik. Abgeschafft ist der von Stockhausen einst inthronisierte Klangregisseur an einem zentralen Mischpult.
Als Anbruch der totalen „Demokratie“ in der Elektronik, wie vorab verkündet, darf man das freilich nicht werten. Die jeweiligen Klangveränderungen legt der Komponist fest, und auch wann Änderungen erfolgen. Die erzeugte klangliche Vielfalt des halbstündigen Werks ist stupend vom schnarrenden Grummeln zu Beginn über ins Schrille mutierte Violinen, rauschende Bässe, aufreizende Bläsermixturen und flirrende bis zwitschernde Klangwischer; sie spricht für dies sehr viel differenziertere Verfahren klanglicher Veränderungen im traditionellen Orchester. Der Aufwand freilich ist immens. Siebzig Laptops samt Verstärkertechnik hat nicht jedes Orchester in der Instrumentenkammer. Die Sponsoren-Kette von der Pro Helvetia, über die Siemens-, die UBS-Kulturstiftung bis zur Berliner MaerzMusik ist beachtlich. Und der Erfolg beim Publikum war schlicht überwältigend.
Eingebettet war dies Stück in delikate Orchester-Transkriptionen des als Meister der Klavier-Transkription bekannten Franz Liszt. Zahlreiche Bonbons hält das Programm noch bereit für das sehr gemischte, vor allem jugendliche Publikum. Als Motto für 2010 ist geplant „Irrlichter“, bis dann 2011 das Liszt-Jahr anhebt. Doch vieles ist unsicher, finanziell, auch wegen der baldigen Wahlen im Land. Ein Gutteil ihrer Zeit verbringt die Intendantin schon jetzt mit dem Einwerben von Sponsorengeldern.
Soll man es als ein Omen nehmen? „Unstern!“, mit Ausrufungszeichen, ist das Motto des diesjährigen Kunstfests von Nike Wagner in Weimar. Wie immer ist das Motto entlehnt einem Musikstück Franz Liszts, ihres Ururgrossvaters und einstigen Weimarer Weltbürgers. Nach Liszts Klavierzyklus „Années de pèlerinage“ hat sie auch ihr Musikfest genannt. Wander- und Pilgerfahrten sollen die Programme sein. „Souvenir“, „Schlaflos“, „Liebesträume“ waren frühere Motti, und beim Programmmusiker Liszt gibt es ja davon reichlich. Der grossen Linie ordnet Nike Wagner jeweils mehr oder weniger zwanglos alles unter. So durfte Heinz Holliger eine orchestrale Fassung von Liszts spätem Klavierstück „Unstern!“ anfertigen, die in einem Konzert mit der diesjährigen „artist in residence“, der Bratscherin Tabea Zimmermann, erklingt. Der spätmittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen „ordo virtutum“, sehr frei übersetzt hier mit „Spiel der Kräfte“, wird im Programm gedacht. In einer Ausstellung „Unstern.Sinistre.Disastro“ werden Katastrophen-Visionen zeitgenössischer Künstler präsentiert. Das traditionell dem Gedächtnis an das ehemalige KZ Buchenwald gewidmete Eröffnungskonzert erinnerte mit Lothar Zagrosek als kompetentem Dirigenten an Hanns Eislers 1935 begonnene „Deutsche Sinfonie“, die die freilich sehr menschengemachte deutsche Katastrophe beschwört.
Das zentrale Auftragswerk war der jungen österreichischen Komponistin Olga Neuwirth anvertraut. Erstmals hat sie sich mit der ihr fremden Musik-„Maschine“ Klavier befasst, und in einer Weise, dass eine Art Hybrid-Reproduktions-Klavier entsteht. „Kloing!...“ nennt sie das Stück. Dabei benutzt sie Walzen eines mechanischen Welte-Mignon-Klaviers und kombiniert sie mit der modernen (mit MIDI-face) computerisierten Variante von Bösendorfer namens „Zeus“. Einspielungen von Arthur Nikisch mit einem Walzer aus Delibes „Coppélia“-Walzer und von Ferruccio Busoni mit Liszts „La Campanella“-Etude werden so überlagert mit in Tonfolgen „gemappten“ Daten aus der italienischen Erdbebenwarte Grotta Gigante in Triest. Die hier ausgewählten Daten stammen von dem Tsunami vor Sumatra 2004. Drei Ebenen werden von Neuwirth überlagert. In einem Video sieht man das originale Welte-Mignon-Klavier des Hotels Waldhaus in Sils-Maria übergeblendet in das live gespielte Playerpiano. Davor sitzt ein Pianist, Marino Formenti, der gleichsam in die Austastlücken der von der Maschine gedrückten Tasten hinein seine Kabinettstückchen virtuoser Klavierkunst zu platzieren versucht. Die „Unfälle“ sind programmiert. Da die Oktaven der Mittellage des Playerpiano um einige Cent verstimmt sind, ergibt sich eine zusätzliche Manipulierung des Klangs.
Anfangs beansprucht der Computer nur bestimmte enge Regionen des Klaviers, mal oben, mal unten. Aber die Tonlandschaft weitet sich aus, wird immer dichter bis hin zu einem totalen Gewoge der Tastatur, den seismischen Daten wohl vom Ausbruch des Tsunami. Die Überhöhung, darin ein Menetekel vom Sieg der Maschine oder der Natur über den Menschen zu sehen, taugt aber nur bedingt. Neuwirth und ihre Medienpartner Lillevan Pobjoy und Peter Plessas mischen neben historischen Filmdokumenten berühmter Pianisten auch „Tom&Jerry“-Trickfilm-Schnipsel ein. So entsteht eher eine moderne Version der musikalischen Gerard-Hoffnung-DonQuijoterien, auch wenn der Live-Pianist am Ende sozusagen „fix und foxi“ kapitulieren muss. Lautmalerisch „kloing“ geht er gleichsam zu Boden – eine Anspielung auf den Troubadour in den „Asterix und Obelix“-Comics, wenn der die Saiten anschlägt und dabei eher verzerrte Töne produziert. Im kommenden Jahr darf dann ja unter dem Motto „Die Ideale“ wieder nach den Sternen gegriffen werden. Es wäre dann das fünfte und letzte Kunstfest von Nike Wagner in Weimar, sofern die Sterne sich nicht anders „konstellieren“.
Den tiefsten Eingriff in die Buchvorlage umwölkten die Autoren bis
zuletzt mit viel Geheimnis: Wer ist die Kindliche Kaiserin? Bedroht
von einer Wolke des „Nichts“ ist bei Michael
Ende ihr Land Fantásien. Gesucht wird ein junger Held oder eine
junge Heldin, der/die diese zerstörerische Wolke beiseite schöbe, sodass
die Menschen in dem Reich der Fantasie wieder aufblühen könnten. Bastian,
der die Geschichte erfindet, indem er sich in ein geklautes Buch vertieft,
ist hier von Anfang an nicht der nur Rezipierende. Er erfindet das Land
Fantásien neu, indem er sich neu erfindet und aus der Sprechrolle aussteigt.
Mit seiner Stimmbruchstimme singt er für die Kindliche Kaiserin ein
schüchternes Lied. Als „Mondenkind“ schenkt er ihr und damit auch sich
ein neues Sein.
In weit schwingenden Vokalisen aus dem Off, die in dieser Oper von Siegfried
Matthus an bestimmten dramaturgischen Scharnierstellen immer wieder
auftauchen, bekommt das Stück seine poetische Dimension. Auch die Weimarer
Uraufführungsinszenierung streift hier jener Hauch von Poesie, die ihr
sonst so abgeht. Auf einer Schaukel sieht man ein Double der Kindlichen
Kaiserin in einem silbrig weiß fluoreszierenden Kleid schweben, sich
lösend von fesselnder Erdhaftigkeit. Die Kindliche Kaiserin hat sich
hier längst zu erkennen geben müssen als jener Atreju, der sich aufmachte,
das Land Fantásien zu retten, und dabei Abenteuer zu bestehen hat im
Kampf mit der Giftspinne Ygramul, dem Werwolf Gmork oder der phlegmatischen
Morla in den Sümpfen der Traurigkeit.
1979 erschien Michael Ende mittlerweile vielmillionenfach gedruckter
Roman.
Das ins Fantastische ausufernde Personal haben Siegfried Matthus und
sein hinter dem Pseudonym Anton Perrey als Librettist sich verbergender
Sohn Frank, seines Zeichens Regisseur und Schauspieler, bühnentauglich
ausgedünnt. Noch zu Endes Lebzeiten erwarb der Komponist die Vertonungsrechte.
Kurt Masur hatte den Freund und erfolgreichen Opernkomponisten auf das
Buch aufmerksam gemacht. Matthus, der sein dramaturgisches Handwerk
an Felsensteins Komischer Oper erlernte, komponierte daraus zunächst
eine Ballettmusik, die er auch in die Opernpartitur integrierte. Wie
immer bei Matthus ist eine sehr plastische Musik entstanden, die, zurückgreifend
auch auf historische Modelle, gleichwohl ihre ganz eigene Atmosphäre
kreiert. Der Komponist feierte am 13.April seinen 70.Geburtstag.
Immer hat sich Matthus’ kompositorische Fantasie besonders entzündet
an Sujets einer Identitätsfindung. Das trifft für den von Ruth
Berghaus zur Wiedereröffnung der Semperoper grandios hintergründig
inszenierten Cornet (1985). Das war ähnlich im 1999 von Götz
Friedrich zur Eröffnung des Schlosstheaters Rheinsberg als eine
seiner letzten Regiearbeiten inszenierten Kronprinz
Friedrich. Matthus’ Werben für die Wiedererrichtung dieses in
den letzten Kriegstagen zerstörten Theaters als Zentrum seiner nach
der Wende gegründeten Kammeroper
Schloss Rheinsberg gehört zu den herausragenden Verdiensten des
Komponisten, der im Krieg aus Ostpreußen ins Märkische geflohen war
und als Schüler von Rudolf Wagner-Régeny und Hanns Eisler
die Musikkultur der DDR wesentlich mit prägte. Er zählt auch heute zu
den meistaufgeführten deutschen Komponisten.
Die unendliche Geschichte ist bereits Matthus’ zehnte Oper. Um
die Uraufführung konkurrierten die Theater in Trier
und Weimar, wo Matthus schon einige Werke herausbrachte. Wie schon bei
Graf Mirabeau (1989) einigte man sich auf eine parallele Doppel-Uraufführung.
Die Inszenierung in Weimar, die Matthus auch selbst besuchte, hat der
Opernchef des Hauses, Michael Schulz, freilich eher fantasielos
mit viel Pappmaché und von Jenoptik gestiftetem Laserlicht eingerichtet
(Bühne: Kathrin Brose & Corinna Gassauer; Kostüme: Martina Feldmann).
Aus einem aufgeschlagenen Buch spazieren hier die aufwendig aber nicht
sehr geschmackvoll kostümierten Figuren. Der Drache Fuchur immerhin
hat luftige Leichtigkeit. Und mit Marietta Zumbült als Atreju
und Kindliche Kaiserin hat man eine Sängerdarstellerin von Profil. Die
Sprechrolle des am Bühnenrand lesenden und immer wieder die Szene kommentierenden
Knaben Bastian gestaltet Paul Stange mutig und eindrucksvoll.
Jac van Steen leitet Chor und Staatskapelle mit Verve und Akkuratesse.
Ein flottes Musical, das einige erwartet haben mögen, ist dies nicht.
Das Kunststück, eine Oper für die ganze Familie geschaffen zu haben,
scheint Matthus aber gelungen. Das Premierenpublikum, darunter auch
einige Kinder, zeigte sich begeistert. Weitere Inszenierungen oder Übernahmen
sind schon anberaumt in Hagen, Linz, Hof, Poznań – ein fetter Happen
vor allem für die beteiligten Verlage, weniger für den Komponisten-Jubilar.
Es ist eine Oper, die es so eigentlich gar nicht gibt. Aus vielen
Fundstücken zusammengesetzt nach Art der Zeit ist das eher ein
"Pasticcio", eine Opern-"Pastete". Angeregt von Reinhard Goebels
Einspielungen der sechs Ouvertüren Francesco Maria Veracinis hatte der
junge Weimarer Regisseur Michael Dißmeier
sich auf die Suche gemacht, was es von diesem in seiner Zeit als "wild"
- so der Musikreisende Charles Burney - geltenden Florentiner Komponisten an Opern gibt. Zum Beispiel eine
Rosalinda. Erhalten sind davon in diversen Bibliotheken zehn Arien
und das originale Libretto von Paolo Rolli. Fehlende Arien wurden für
die Weimarer Produktion ergänzt aus einer früheren Oper Veracinis,
Adriano. Die Rezitative werden gesprochen, praktischer Weise auf
Deutsch und etwas ergänzt aus der originalen Vorlage von Shakespeares
Was ihr wollt. Unter diesem Titel zeigt man das Stück auch in
Weimar. Und Reinhard Goebel, eingeladen zur musikalischen Leitung und,
wie er sagt, ein lautes "Ja! brüllend", als er gefragt wurde, macht
daraus ein barockes Feuerwerk von atemberaubenden Koloraturen und
schwellenden Klängen.
Den
Namen
des Komponisten Francesco Maria Veracini (1690-1768) kennt sonst
heute kaum einer. Als Geigen-Virtuose bereiste er Europa, lebte lange am
Dresdner Hof. Berühmt war er als derjenige, der es wagte,
Corellis Violin-Sonaten „verbessern“ zu
wollen, der sich in Wut oder partieller Umnachtung
aus dem Fenster stürzte und fortan humpelte. Einen Giuseppe Tartini
lehrte er das Fürchten, sodass der, nachdem er ihn gehört hatte, sich
erst mal für ein paar Monate zurück zog zum Üben. Vier Opern hat
Veracini geschrieben, daneben einige Oratorien und Instrumentalmusik.
Mit der 1744 im Londoner Königlichen Theater uraufgeführten Rosalinda
nach Shakespeares Was ihr wollt riskierte er einen Skandal, als
er einer der Arien ein schottisches Volkslied zugrunde legte. Für Goebel
ist er ein "Kinski" der damaligen Musikszene und ein "Chamäleon".
Janusköpfig blickt er nach hinten mit zopfig abgespultem Kantaten-"Zwirn".
Und daneben gibt es auch mit rauschenden Unisoni im Orchestersatz oder
hoch sich aufzwirbelnden Koloraturen wie für die Kehle eines
Farinelli - etwa in einer Arie des heimtückischen Despoten Martano -
Zukunftsweisendes.
Bemüht versucht Regisseur Dißmeier
das Stück über Rollen- und Geschlechtertausch "draußen im Wald", wohin
die beiden Schwestern Rosalinda und Clelia vor dem machtgierigen Martano
sich flüchten, zu aktualisieren: mit Selbstgesprächen per Mikrofon und Geräusch-Inserts. Den Robin-Hood-artigen
Wald-Lords werden Songs aus der Zeit des Rächers der Wälder wie auch vom Der Mond ist
aufgegangen-Komponisten Johann Abraham Peter
Schulz zugeordnet.
Den Schluss dieser Geschichte über das Neu-sich-Finden der Paare in der Fremde
lässt Dißmeier offen als Denkanstoß. Man
spielt auf einer von Bettina Merz transparent eingerichteten
boxringartigen Bühne in der Dependance des Nationaltheaters, dem E-Werk.
Erstaunlich das sängerische Niveau mit Heike
Porstein als glänzender Rosalinda, Franziska Gottwald
als durchtriebener Schwester Clelia, die das
Bäumchen-wechsel-dich-Spiel der Liebe in Schwung bringt. Johan Weigel
als Ernesto gibt, klangschön und koloraturenfest, den unbeirrbarsten der
Liebhaber.
Auch wenn man Goebel nicht folgen mag, der Veracini weit über
den Klangexperimentator
Vivaldi stellt, erstaunlich, was er herausholt an klanglichen
Finessen aus der Weimarer Kapelle; platziert ist die hinter der Bühne.
"Ich weiß inzwischen, wie ich moderne Orchester zu nehmen habe", sagt
Goebel, "diese Burschen da zu packen, wo’s klingt". Warum man ihm nun
ausgerechnet in Weimar erstmals in Deutschland als Dirigenten auch einer
Opernaufführung begegnet? Die Frage beantwortet der Leiter der Kölner
Musica Antiqua mit einem Unterton von Bitterkeit und Spott. Oper habe er
schon öfter gemacht. "Aber da wir in Deutschland mehr auf fremde Kräfte
stehen", mache er das in der Schweiz, in Amerika, in Frankreich. "Und
wir holen dafür dann Kräfte von dort", was man ja auch braucht, wo man
inzwischen "so billig fliegen kann - zwar manchmal dahin, wohin man
gerade nicht möchte, aber wenigstens ist man dann in New York."