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Film-Adaptation M
Leitungswechsel 2022
Tote Stadt
Die Nase
Blaubart
Gezeichneten
Satyagraha
Pelleas et Melisande
Konzert
Mirga Gražinité-Tyla
Zoroastre
Medea
GMD ab 2018 Rubikis
Jahrmarkt von Sorotschinzi
Il barbiere di Siviglia

Hörspiel? Theater? Warten

Kosky-Eggerts Film-Adaptation „M“ als Auftragswerk

05.Mai 2019

Eine interessante Idee. Und das Interview im Programmheft macht einen gespannt. Die Geschichte von Fritz Langs legendärem Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) ganz aus der Sicht des Mörders, seiner Befindlichkeit und Emotionalität zu erzählen. Die Sicht des Mörders kommt zwar durchaus auch im Film nicht zu kurz. Die Kamera allerdings zeigt vor allem ihn in der Sicht der Verfolger.

Freilich von den schönen Vorsätzen ist auf der Bühne wenig zu sehen. Beeindruckend was die Regie (Hausherr Barrie Kosky) aus den Kindern aller Altersgruppen herausholte. Sie singen (vorzugsweise im Graben), tanzen, hopsen. Dazu gibt es eine kleine Gruppe von Schauspielstudent*innen, die ebenfalls aus dem Graben Texte einsprechen. Alles wird über die (allerdings nur begrenzt rundum wirkende) Surround-Anlage verstärkt. Hörspiel ist das passende Stichwort der formalen Anlage in einer revue-artigen Aufmachung. Aber wir sind doch im Theater?

Der größte Schwachpunkt ist die Musik von Moritz Eggert. Routiniert, eher Hintergrundgeräusch-Kulisse, die sich aber fast ständig grell und laut in den Vordergrund drängt; durchaus in modernem Klangkleid mit Live-Orchester und Elektronik (Ltg.: Ainārs Rubiķis). Verarbeitet werden da alle möglichen Kinderlieder („warte nur ein Weilchen“), zum Teil mit Texten von Walter Mehring. Oft auch in Brecht‘scher „Dreigroschen“-Manier angesagt als Arie oder Lied des Soundso. Überhaupt gibt es viele Anleihen bei Brecht-Weill und anderen. Ein bisschen Medienschelte ist praktischerweise auch dabei. Und missverständlich wenn nicht peinlich eine Szene, in der Kinderarme von hinten den Mörder sehnsuchtsvoll umarmen, als hätten die Kinder sich gewünscht, von ihm verführt und ermordet zu werden.

Weiterer Schwachpunkt die Ausstattung (Klaus Grünberg, Anne Kuhn, Katrin Kath). Den Kinderdarstellern werden (gut gemachte) Pappköpfe von alten Leuten aufgesetzt. Nur der Hauptdarsteller des M (Scott Hendricks), der meist, wenn überhaupt, Sprechgesang-Ähnliches von sich gibt oder dumpf brütend, anfangs auch kindlich hopsend gezeigt wird, ist in voller Leibesgröße zu sehen – was vermutlich die Perspektive verdeutlichen soll, aber doch bald sich totläuft, weil nur auf eine Figur fokussiert wird und die von ihm Beobachteten nur laienhaft wie Puppen agieren. Auch das Bühnenportal, ganz in weiß perspektivisch ausgekleidet, soll die (Film-)Perspektive akzentuieren.

Es gab am Ende prasselnden Beifall, zu Recht für die konzentriert spielenden Kinder. Der Komponist bekam ein (arg) zaghaftes Buh zu hören. Nicht wirklich erfährt man allerdings was über das Innenleben dieses M. Und ein häufiger Schwachpunkt in der Dramaturgie (Ulrich Lenz) solcher Stücke: kein stringenter Schluss. Er läppert sich so hin bis zu den 105 Minuten, statt der im Programmheft versprochenen 90 Minuten emotionaler „Achterbahn“. Dabei ist es ein Auftragswerk der Komischen Oper, also reparierbar. Erfreulich genug, dass man überhaupt was wagt.

Ein Roman-, Schauspiel- oder, heute, Film-Stoff als Opernsujet? Kein Problem. Allerdings mit einem Verdi-Piave/Somma/Ghislanzoni/Boito-usw-Gespann bekommt man’s hier leider nicht zu tun. Also warten...


Kosky geht – und bleibt (als „Haus“-Regisseur)

Pressekonferenz, 31.01.2019

2022 will Barrie Kosky zurücktreten von seinem Amt als Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper. 10 Jahre Intendanz seien genug, sagt er. Und das ist gut so. Er wolle wieder Künstler sein, ohne administrative Verpflichtungen. Die sollen dann seine bisherigen Mitarbeiter Susanne Moser, die Verwaltungschefin, und Philip Bröking, der Opernchef, übernehmen als Ko-Intendant*in. Ab 2022 nämlich soll das Haus 5 Jahre lang grundsaniert werden. Und ob man dafür einen Intendanten gefunden hätte, ließ Kultursenator Klaus Lederer (Linke) auf einer eilends einberufenen Pressekonferenz offen. Ob man’s überhaupt versucht hat?

Lederer, Bröking, Moser, Kosky

Kontinuität und Stabilität jedenfalls sind der neuen Leitung wichtig. Und dafür soll auch Kosky mit zehn Neuinszenierungen als „Hausregisseur“ in den fünf Jahren stehen. Das Haus in der Behrenstraße wird für den Theater-Betrieb in der Zeit zugesperrt, bekommt dann auch einen Anbau in der Glinkastraße. Auf 225 Mio € sind die Kosten taxiert. Die Verwaltung wandert ins Schillertheater. Und auch geprobt werden soll dort. Spielen will man an unterschiedlichen Orten in der Stadt in kleinerer und größerer Besetzung. Einige Produktionen will man auch mitnehmen. Das meiste wird aber wohl neu erarbeitet.

Genau ausgetüftelt ist alles noch nicht. Kosky betonte, dass er von Anfang an seine Intendanz auf zehn Jahre beschränkt wissen wollte. Nur sagen sollte er’s noch nicht, bis man klarer sehe. Ein Angebot aus München hat er 2017 ausgeschlagen. München sei eine schöne Stadt zum Inszenieren, leben wolle er lieber in Berlin. Wer also dachte, hoffte oder fürchtete, ab 2022 werde wieder alles anders mit der Komischen Oper, wird eines anderen belehrt. In der Berliner Kultur bleibt immer gern alles wie es ist, wenn auch ein bisschen anders. Welche Freiheiten die neuen Ko-Intendant*innen sich nehmen gegenüber ihrem einstigen Mentor Kosky, wird man sehen, und auch wie es weitergeht mit seiner Kreativität.

Dass da vielleicht wieder etwas Luft nach oben ist, könnte man schon schließen aus Kritiken über seine letzten Produktionen.

Foto: gfk

Zwischen Heiliger und Hure

Erich Wolfgang Korngolds „Tote Stadt“ zur Spielzeiteröffnung

30.09.2018

Musikalisch ist diese Oper des als Wunderkind gefeierten 19-jährigen Erich Wolfgang Korngold durchaus ein Wurf von erstaunlicher Eigenständigkeit. Man erkennt zwar nicht nur musikalische sondern auch dramaturgische Anleihen bei Meister Richard Strauss, etwa aus der „Ariadne“ oder dem „Rosenkavalier“; oder auch ganz ungenierte wie die beim ungarischen Ton von Franz Lehár in dem sinnstiftenden Lied vom „Glück, das mir verblieb“. Aber gegenüber der kürzlich in der Deutschen Oper Berlin ausgegrabenen schwulstigen „Heliane“ (1927) hat diese „Tote Stadt“ (1920) immerhin mehr Härte und Kontur in der Harmonik. Das Sujet allerdings ist doch sehr zeitgebunden, das Libretto nach einem Roman von Georges Rodenbach („Bruges-la-Morte“, 1892) von Vater und Sohn Korngold (Pseudonym: Paul Schott) ziemlich geschwätzig.

Es geht um die Abkehr von der verdrucksten Sexualpsychologie des 19.Jahrhunderts. Freud wird nach allen Richtungen hin ausbuchstabiert. Der gut situierte Mann Paul, der seine angebetete Frau Marie verloren hat und sie wie in einer „Kirche des Gewesenen“ wie in einem Reliquienschrein inklusive blonder Haarpracht im Sterbezimmer verewigt, soll in seinen Moralvorstellungen seziert werden. Und da kommt eine Junge Tänzerin hereingeschneit, Marietta, die der Verstorbenen buchstäblich aufs Haar gleicht. Aber die ungleich vitaler ihre weiblichen Reize ausspielt und diesen in den Erinnerungen schon wahnhaften Mann aus dem Gleichgewicht bringt – bis er sie tötet und seiner Marie vollkommen gleich macht.

Tote Stadt

Robert Carsen hat das in der Komischen Oper zur Eröffnung der neuen Spielzeit mit viel unterhaltsamem Aufwand und Flitter eher routiniert eingerichtet. Die Wände von Pauls Wohnung (Bühne: Michael Levine) fliegen auseinander, als die Neue auftaucht. Beerdigungszüge und Marienprozessionen queren den Raum. Eine Tänzertruppe in Glitzerkleidung à la „Lustige Witwe“ (Choreografie: Rebecca Howell) umschmeicheln Marie, um Paul aus der Reserve zu locken. Dabei verfestigt sich in ihm nur die Vorstellung von frau als Wechselbalg zwischen Heilige und Hure. Am Ende wird er vom zum Medizinischen Dienst gewandelten Freund Frank und der Haushälterin Brigitta expediert in die Geschlossene.

Sängerisch wird den beiden Protagonisten schier Übermenschliches abverlangt, zumal der neue GMD im Graben Ainārs Rubiķis das Orchester meist voll ausspielen lässt. Sara Jakubiak als Marietta/Marie und Aleš Briscein als Paul geben ihr allerbestes, um übers Orchester durchzudringen. Nur selten gewähren Partitur und Dirigent leisere, sanftere Töne, wobei Briscein dann in die Kopfstimme wechselt. Carsen und Peter van Praert haben mehr als sonst üblich am Hause ins Lichtdesign investiert. Ein spannender Abend ist das aber nur momentweise. Das Stück lastet doch wie Makart-Inventar in dieser „Kirche des Gewesenen“.

Foto: © ilko freese / drama-berlin.de

Richtiger Riecher

Barrie Kosky mit seiner Schostakowitsch-„Nase“ als Einstand für den neuen GMD

16. Juni 2018

Eine speziell für die Komische Oper entworfene Inszenierung ist das nicht. Spätestens gegen Schluss merkt man das, wenn eine BBC(!)-Reporterin ins Publikum fragt, wie das eigentlich ist mit dieser Geschichte: Realität? Märchen? Und am Ende nach einem heftigen Niesen fliegt die erst wie ein schlaffer Rüssel/Schwanz dann „natürlich“ angewachsene Nase davon. Black. Tragisch!

Papendell und Tanzgruppe

Ganz eindeutig ist Intendant Barrie Kosky mit dieser frühen „wilden“ Schostakowitsch-Oper in seinem Element: Hohes Tempo, ein bisschen Transen-Halbwelt-Revue, ein bisschen Slapstick-Tralala, ein bisschen zackige Tanzeinlagen etwa mit grünen Polizeimännchen oder Nasenbären (Otto Pichler) – und dann mit dem tragischen Ausgang. Ein großer Teil des Publikums jedenfalls fühlt sich gut unterhalten, klatscht oftmals Szenenbeifall. Das mit der Tragödie aber wird doch recht klein geschrieben. Und ging’s den Autoren Dmitri Schostakowitsch und Nikolai W. Gogol, von dem die Vorlage stammt, nicht vor allem darum?

Vor allem sollte dies aber die Einstands-Produktion des künftigen GMD Ainārs Rubiķis ein. Ab kommender Spielzeit ist er im Amt. Und man merkt, wie gut er mit Schostakowitschs Musik vertraut ist, wie spannend er sie zum Klingen bringen kann. Und auch wenn das Orchesters mit den hingetupften „stochastischen“ Klängen zumal in den hohen Violinen seine Schwierigkeiten hat – es ist eine runde Sache. Und auch der Sänger des kleinen Beamten Platon Kusmitsch-Kowaljow, Günter Papendell – inzwischen die Allzweckwaffe des Hauses – zeigt sich sehr überzeugend in dieser Rolle. Sehr viel passender jedenfalls als sein flattriger Don Giovanni. Den richtigen Riecher hat er.

In einer Stunde und 50 Minuten geht’s hier ohne Pause durch. Umwerfend neue Einsichten erntet man zwar nicht, aber von dem Dreier-„Gipfel“ mit „Il viaggio a Reims“ (Deutsche Oper) und „Macbeth“ (Staatsoper) war es doch der kurzweiligste Abend.

Foto: © ilko freese / drama-berlin.de

Mehr Thanatos als Eros

Stefan Herheims «Blaubart» als gedachte Verbeugung vor Walter Felsenstein

23. März 2018 (mit Nachtrag 03.04.18)

Vor siebzig Jahren gründete Walter Felsenstein in Berlin die Komische Oper. Die damalige sowjetische Militäradministration wollte damit vor allem ein Operettentheater nach russischem Muster ins Leben rufen. Durch seine Operetten-Bearbeitungen hatte sich Felsenstein einen exzellenten Ruf erworben, vor und auch im Schutz von Heinrich George während der Nazizeit. Dass er das Profil des Hauses sanft in Richtung einer deutschen Opéra Comique verschob, war für den österreichischen Staatsbürger ein Balancieren auf der Rasierklinge. Operette interessierte ihn in jenen Jahren eigentlich längst nicht mehr. Amerikanische Musicalfilme fand er viel spannender, auch wenn die nicht so ganz in den engen DDR-Kosmos passten. Mozart und Verdi wurden seine Hausgötter, aber auch Offenbach, mit dessen «Fledermaus» er das Haus einst unter schwierigsten Bedingungen im zerstörten Nachkriegs-Berlin eröffnete. Als er starb bedauerte er indes, nie den «Tristan» inszeniert zu haben.

Die von Barrie Kosky heute geleitete Komische Oper wollte in diesem «Jubiläumsjahr» zwei der an dem Haus meistgespielten Werke mit Aufführungszahlen von mehreren hundert Vorstellungen neu erproben. Der musicalerfahrene Kosky selbst machte den Anfang mit einer neuen «Anatevka», deren osteuropäisches jüdisches Milieu ihm aus der eigenen Biografie nahe ist und die er vor allem mit Möbel-Transporten bebilderte. Offenbachs Opéra bouffe «(Ritter) Blaubart», über jenen Adelsmenschen, der wie der mythische seine Ehefrauen im Keller entsorgt, übertrug er Stefan Herheim zur Neuinszenierung. Der, bekannt auch durch seine Übermalungen, versuchte sich auch hier an einer Neujustierung, die dem Werk mit zwei hinzugefügten Figuren von Eros und Thanatos als gleichsam Rahmenerzähler eine neue Tiefen-Dimension hinzufügen sollte. Gelungen scheint das kaum. Abhandengekommen ist der Witz. Überfrachtet wird der Abend zum aufgeblähten Dramaturgen-Theater.

Zwar ist die auf das Paris der 1860iger Jahre zielende Satire über die flott entsorgten Zweit-, Dritt- bis Sechst-Frauen kaum noch als solche vermittelbar. Herheim und sein Dramaturg Alexander Meier-Därzenbach lassen also – potz blitz und Donner – einen verknitterten Sensenmann (Wolfgang Häntsch) und ein putten-großen cupido (Rüdiger Frank) einen wackligen Thespiskarren auf die Bühne ziehen, aus dessen puppenhaftem Inneren sie das Geschehen entwickeln und immer wieder kommentierend übermalen. Da gibt’s dann operettengemäß auch aktuelle, wenn auch etwas stumpfe Spitzen, etwa gegen die Neubebauung der Berliner Mitte mit dem Humboldtforum als Schloss-Attrappe. Die Bühnenästhetik (Christof Hetzer, Esther Bialas) orientiert sich mehr an der von klobigen Computerspielen. Der Ritter kommt in historisierender Ritterrüstung daher. Sein Verlies ist ein steinquader-gemauerter schwarzer Keller. Der Hofstaat des glatzköpfigen König Bobèche wird mit hellebarden-bewehrten Soldaten bewacht. Und Prinz Saphir und Prinzessin Hermia sind ausstaffiert wie man sich Prinzessinnen und Prinzen so ausstaffiert vorstellt.

Dreieinhalb Stunden zieht sich der Abend hin. Keine Operette hält das aus. Kosky selbst, wie er auf eine entsprechende Frage beim Pressegespräch zum neuen Spielplan (03.04.18) freimütig einräumte, hatte noch vor der Premiere dem Kollegen Herheim empfohlen wenigstens eine dreiviertel-Stunde zu kappen. Auf die Schnelle vermochte Herheim das nicht, sodass man diesbezüglich auf die neue Spielzeit vertröstet wird. Mittlerweile war auch noch der musikalische Bearbeiter und eigentlich vorgesehene Dirigent des Abends, Clemens Flick, abhandengekommen. Der Premierentermin musste wegen bühnentechnischer Probleme um fast eine Woche verschoben werden. Stefan Soltesz sprang immerhin für Flick ein, versuchte es mit einem eher symphonischen als operettig-spritzigen Herangehen an die Partitur. Von den Interpreten sind vor allem das junge Paar Vera-Lotte Böcker als Fleurette/Hermia und Johannes Dunz als Daphnis/Saphir zu nennen, auch Peter Renz als quäkiger Bobèche und die zupackende Sarah Ferede als Boulotte, passend zu Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als am Ende gezähmter Ritter. Die Feinheiten der Figurenzeichnung, die ein Felsenstein verlangte, sind hier nicht einmal gefragt.

Zur Pause gab’s mal ein schüchternes Buh, am Ende Beifall, aber so knapp wie möglich.


Vor die Wand

Calixto Bieito verhebt sich in der Komischen Oper an Franz Schrekers „Die Gezeichneten“

21. Jan. 2018

Vergesst Bieito, bye bye Calixto. Da kommt nur noch heiße Luft. Es hat sich ausprovoziert. Und auch des Spanischen Regisseurs Calixto Bieito Lieblings-Bühnenbildnerin Rebecca Ringst mit ihren massiven Metallgitter-Aufbauten kann da nicht helfen. Trotz einiger zusätzlicher LED-Lichterketten und viel Sexspielzeug.

Die Männer

Franz Schrekers Oper über die am Marquis de Sade sich abarbeitenden Sexnöte des untergegangenen Wiener K&K-Reichs „Die Gezeichneten“ (1918) lässt Bieito im ersten Teil vor einer mit weißen Tafeln geschlossenen Wand spielen. Die Männer, die in einem unterirdischen Liebesraum angeblich nach der Erfüllung ihrer Träume gieren, lässt er wie Strich-Männlein mit ihren Opfern auf den Schultern vor dieser Wand paradieren. Auf die Wand projiziert: Gesichter von Kindern, die im Städtchen auf geheimnisvolle Weise verschwinden. Bieito erlaubt sich da eine (aktualisierende?) Erweiterung, indem er nicht nur junge Mädchen, sondern auch Knaben von den Lüstlingen als Missbrauchs-Opfer suchen und „verspeisen“ lässt.

Alviano, der bucklige Edelmann, der den Bunker organisiert hat, darf immer nach einem Knaben im blauen Hemd und kurzen Hosen schielen, der am Bühnenrand steht (Kostüme: Ingo Krügler). Später entpuppt sich dieser Knabe als die knabenhafte Malerin Carlotta, die, anfangs als irrlichternder Junky, sein höchstbegehrtes Liebesobjekt ist. Die aber ist an ihm nur wegen seiner Figur und seines Gesichts, das sie malen will, interessiert ist. Hingezogen fühlt sie sich mehr zu dem Grafen Vitelozzo Tamare. Und sie erwürgt den am Ende, als der sich ihrer ganz sicher glaubt. Da befinden wir ins dann im sogenannten „Elysium“, einem Neverland vollgestopft mit Kindern und übergroßen Stoff- und Plastiktieren. Sogar der „Himmel“ hängt da voller Stoffbären, und eine Spielzeug-Eisenbahn dampft durchs Gelände.

Man muss den etwas unverdauten Freud, den Franz Schreker da einst als sein eigener Librettist aufbereitet hat, nicht mehr sonderlich ernst nehmen wie das noch Hans Neuenfels in seiner beispielgebenden Frankfurter Inszenierung vor drei Jahrzehnten tat, bei Bieito versteht man bei dem ganzen Aufwand nur Bahnhof – vielleicht ja deswegen die paffende Lok mit den toten Kindern am Ende. Aber es geht vor die Wand. Einfach nur langweilig.

Immerhin wird unter Stefan Soltesz grandios musiziert, wenn auch manchmal etwas weniger Forte-Fortissimo den Sängern gutgetan hätte. Zumal Peter Hoare, der sich des Öfteren die Hand ans Ohr halten musste, um seine eigene Stimme zu kontrollieren. Mit ihm als Alviano hat man allerdings einen Tenor von wunderbarer Strahlkraft. Die gesamte Männerriege ist hervorragend besetzt, insbesondere der Graf Tamare mit Michael Nagy. Ein stimmlicher Fehlgriff allerdings ist Ausrine Stundyte als Carlotta. Ihr überstarkes Vibrato, zumal wenn sie forciert, lässt zweifeln, welchen Ton sie nun gerade meint. Nur im Piano und Pianissimo ist ihre Stimme erträglich. Andererseits war sie wegen ihres knabenhaften Äußeren und ihrem Bewegungstalent wohl für die Partie als Idealbesetzung gecastet worden.

Hört man Schrekers schwelgerisch-süffige Musik mit dem Abstand der vielen Jahre, kommt einem doch zumal bei dem Hauptthema des Alviano die starke Erinnerung an Richard Strauss und insbesondere an manche Stellen in der „Elektra“. So ganz weit her ist es ja nicht mit Schrekers Originalität. Gleichwohl geht man gern „baden“ in diesem Orchesterklang. Schön wäre halt, auch den Augen würde was geboten, was sich zu sehen lohnt. Am Ende fürs Team: massive Buhs.

Foto: © ilko freese / drama-berlin.de

Friedfertig

Phil Glass‘ „Satyagraha“ als Kooperations-Projekt

27.10.2017

Ist Phil Glass‘ „Satyagraha“ Oper, ist es Ballett? Zunächst mal ist es Teil einer Trilogie mit „Einstein on the Beach“ und „Echnaton“. Mit „Einstein“ wurde Robert Wilson in den 1970iger Jahren in Europa berühmt. Die Trilogie hat etwas später Achim Freyer in Stuttgart/Ludwigsburg zu einem grandiosen Gesamtkunstwerk über herausragende Persönlichkeiten der Weltgeschichte geformt. Jetzt haben sich das Theater Basel (Premiere war dort im Frühjahr), die Vlaamse Opera und die Komische Oper an eine kooperative Neu-Produktion gemacht mit dem Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui als Regisseur.

Gandhi mit Tänzern

„Satyagraha“ (U 1980), was so viel heißt wie „Kraft der Wahrheit“ ist eine Annäherung an Mahatma Gandhi und seine Bewegung des gewaltlosen Widerstands in Südafrika mit Seitenblicken auf den Lebensweg der Friedensprediger Tolstoi, Tagore, King. Dabei werden vor allem Verse aus dem in Sanskrit verfassten „Bhagarvad Ghita“ zitiert, einer heiligen Schrift der Hindus. Gott Krishna dialogisiert hier mit dem Kriegerfürsten Arjuna. Daneben aber müssen auch die – so das Libretto – verschiedenen Stationen dieser Lebens-Geschichten erzählt werden: Tolstoi (1.Akt), Tagore (2.Akt), King (3.Akt).

Dem aus Marokko stammenden Belgischen Choreografen gelingt davon eher wenig. Wirklich plastisch wird davon fast nichts. Cherkaoui konzentriert sich vor allem auf seine Tänzer von der Eastman-Company, hält sie in fließender Bewegung, angelehnt wohl an Glass‘ besonders am Anfang sehr monospektral-minimalistische Musik. Dekoration des Dekorativen könnte man böse sagen. Immerhin steigert sich zumal ab dem zweiten Akt doch etwas die Intensität des Ausdrucks. Die Wahl der Mittel aber bleibt beschränkt. Und wo der körperliche Ausdruck nicht reicht, werden Bretter beschrieben oder diese zu Halskrausen-artigen Gebilden zusammengeschoben.

Stefan Cifoletti als unerschütterlicher Gandhi im weißen Gewand hat sängerisch die dankbarste Aufgabe. Gelegentlich wird er von den Tänzern bzw. Choristen auf den Kopf gestellt oder auch auf Händen getragen. Der amerikanisch-deutsche Dirigent Jonathan Stockhammer, sehr vertraut mit der Moderne, hält das Orchester der Komischen Oper erstaunlich exakt zusammen. Die Partitur verlangt ja vor allem gutes Zähl-Training. Das Publikum war’s – wie meistens in dem Haus – zufrieden, wenn auch einige Besucher*innen eher sich in die Arme von Morpheus als in die Ideen Gandhis versenken wollten. Friedfertigkeit garantiert ja aber beides. Wie schön.

Foto: © Monika Rittershaus

De-de-konstruiert

Debussys „Pelléas et Mélisande“

15. Oktober 2017

Maschinentheater wird jetzt wieder Mode. Nach dem, was ein russisches Team mit Aribert Reimanns neuer Oper „L’Invisible“ vor einer Woche an der Deutschen Oper veranstaltete, versucht Barrie Kosky an der Komischen Oper mit Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ (1902), wobei er sogar auf Erfahrungen zurückgreifen konnte, die er mit einem englische Team vor Jahren an seinem Haus bei der „Zauberflöte“ erprobte. Nicht die Figuren bewegen sich eigentlich und zeigen durch Vorgänge etwas von ihrer inneren Befindlichkeit, sondern eine Mechanik wird in Gang gesetzt. Oder einfach Technik, modern.

goloaud, pelleas, melisande

In die Bühne eingelassen sind drei Transportbänder, mithilfe derer die darauf Liegenden nach links oder rechts ins Blickfeld oder aus dem Blickfeld gefahren werden können. Auf der Rückseite der von Klaus Grünberg als klaustrophobisches Theater im Theater gebauten Bühne eine halbrunde Sitzbank, die wie die Spindel eines Karussells sich ebenfalls drehen kann und auf die Figuren rein oder raus transportiert werden können. Das heikelste Bild, wenn am Schluss die getötete Mélisande in den gleichsam Abfall-Bottich hinausgeschoben wird, zusammengeknickt wie ein Stück lebloses Schlacht-Vieh. Das ist gewiss bewusst provokativ-abschreckend gemeint, aber auch nötig?

Indes, sehr einfühlend geht die Regie mit Mélisande ohnehin nicht um. Nadja Mchantaf muss immer wieder mit etwas hysterischen Gebärden oder maskenhaftem Grinsen auf sich aufmerksam machen, auch schon mal, den Schritt zum Publikum gewandt, sich am Bode wälzen. Aber es gibt auch einen ziemlich widerlichen Vergewaltigungsversuch von Altkönig Arkel (Jens Larsen), dem sie zu entkommen sucht. Dafür wird sie mit fast von Szene zu Szene wechselnden Kostümen (fantasievoll: Dinah Ehm) als Modepüppchen gezeichnet. Die Männer sind eher schlicht kostümiert: Golaud (Günter Papendell) tritt meist in dunklem Grau und dessen jüngerer Halbbruder Pelléas (Dominik Köninger) in Violett auf. Freilich eigentliche Auftritte gibt’s hier nicht, nur Ein- und Ausschübe der Figuren auf bzw. von der Bildfläche. Manchmal auch machen sich die Figuren bemerkbar, indem sie die Hände durch die wie Henkel gebeugten Arme ihrer Zielfigur stecken. Hallo hier bin ich.

Immerhin musikalisch hat das unter dem jungen Jordan de Souza durchaus französischen Flair. Sanft-schwebend gestaltet Souza die fließenden Übergänge. Und die Stimmen der Protagonist*innen fügen sich geschmeidig ein. Es gibt am Ende denn auch viel Beifall für Sänger und Dirigent, einige Buhs aber fürs Team. Im Programmheft hatte Kosky allerdings vehement gegen andere Interpretations-Ansätze polemisiert. Was er dekonstruierend dagegen setzt, funktioniert aber bei Debussy nicht so recht, auch wenn Debussy ein so bedeutender Dekonstrukteur des Wagnerschen Überwältigungs-Theaters war. Die Staatsoper will in dieser Spielzeit Ruth Berghaus' „Pelléas“, ihre letzte Inszenierung an dem Haus, wiederaufbereiten. Man wird da vielleicht Qualitäts-Unterschiede genauer studieren können.

Foto: © Monika Rittershaus

Filigran geschliffene Klangexplosionen

Mirga Gražinité-Tyla und das Orchester der Komischen Oper

30. Juni 2017

Mirga 30.06.17

Bereits zum dritten Mal dirigierte Mirga Gražinité-Tyla das Orchester der Komischen Oper. Zunächst bei einem Konzert, dann mit einigen Nachaufführungen der eher verkorksten „Carmen“-Inszenierung von Sebastian Baumgarten. Jetzt also als die neue Chefdirigentin des Birmingham Symphony Orchestra und damit Nachfolgerin von Sir Simon Rattle und Andris Nelsons. Und man spürte durchaus eine Vertrautheit mit den Berliner Musikern. Mit ihrem neuen Englischen Orchester ist sie gleich nach dem G-20-Gipfel auch in der Hamburger Elbphilharmonie zu Gast. Ihre Musikdirektorenzeit am Salzburger Landestheater, wo sie u.a. mit einer „Idomeneo“-Produktion brillierte, lief jetzt aus.

Die Akustik in der Komischen Oper kann mit dem Hamburger Prunkbau und auch mit der Symphony Hall in Birmingham nicht im Entferntesten mithalten. Was musikalisch zu hören war, sicher mit vielem, was in Felsensteins Theater bislang erklang. Ungeheuer frisch, durchsichtig, filigran schon das 12-minütige Auftaktstück von Mieczyslaw Weinberg (1919-1996), die „Rhapsodie über moldawische Themen“ op. 47/1. Sie machte deutlich, zu welch geschliffenen Klangexplosionen die junge Dirigentin ein Orchester bringen kann. Überraschend gemächlich ging sie Sergeij Prokofjews „Sinfonie classique“ an, um dann aber auch in einen rasanten Schlussspurt zu münden.

In Tschaikowskis Klavierkonzert Nr.1 nach der Pause war dann mit der Venezolanischen Pianistin Gabriela Montero eine Solistin am Werk, die etwas undifferenziert die Pathos-Bezüge dieses Paradestücks hervorkehrte. Als Zugaben forderte sie am Ende die Zuhörer auf, ihr Themen vorzuschlagen, über die sie improvisieren konnte. Das war durchaus im Bach‘schen Sinn erstaunlich kontrapunktisch gedacht und ausgeführt. Es rundete ihren Auftritt, der zunächst durch eine Einlage Venezolanischer Besucher, die auf die politische Situation ihrer Heimat hinweisen wollten, verzögert wurde, leichtfüßig ab.

Foto: gfk

Schwarze Ameisen im Grünen

Tobias Kratzer vergeigt Rameaus Welten-Drama „Zoroastre“ (1756)

18. Juni 2017

So kann man Rameau auch vernichten: Mit einem die Fallhöhe auf Ameisengröße geschrumpftem Niveau; mit einer musikalischen Ausführung, die vielleicht Stadt-Theater-Niveau bietet, aber Äonen entfernt ist von dem feingliedrig-silbrigen Orchesterklang, der den Partituren des spätbarocken französischen Meister-Komponisten Philippe Rameau eigen ist; und auch mit Stimmen, die kräftemäßig vielleicht für ein Freiluft-Event taugen aber denen die Leichtigkeit, wie sie etwa (zumal im Fall der Titel-Figur) ein zeittypisch hoher französischer Tenor erheischt, gänzlich fehlt.

Es geht um den Kampf von Gut und Böse, Hell und Dunkel, gestrig und zukünftig – wie später in Mozarts „Zauberflöte“. In der Inszenierung des einst von einer unter Peter Konwitschny tagenden Grazer Jury als kommendes Talent prämierten, aber bislang diese Qualitäten eher schuldig bleibenden, dafür jedoch demnächst auf den grünen Hügel von Bayreuth („Tannhäuser“ 2019) eingeladenen Regisseurs Tobias Kratzer wird das herunter gebrochen auf einen Kleingarten-Nachbarschafts-Streit. Die Protagonisten sind: ein Dosenbier trinkender, Base Cup tragender Raufbold und ein schöngeistig tuender Bücherfritze mit Designermöbel-Studio. Sehr „heutig“ soll das sein (Ausstattung: Rainer Sellmaier).

Objekt der Begierden ist eine Frau namens Amélite – mit Katherine Watson besetzt, ist sie die einzig respektable Sängerfigur dieses Abends. Sie wird mehrmals gefangen, schrammt fast am Tod vorbei dank eines von ihrem Liebhaber Zoroastre unter Strom gesetzten, aber vom bösen Nachbarn installierten Gartenzauns. Es wird gehochzeitet und Müll über den Gartenzaun geworfen. Wie lustig. Singend werden Götter angerufen und Königreiche ausgelobt – was nicht so schlimm wäre, wenn wenigstens göttlich gesungen würde.

Aber auch aus dem Graben dringt unter der Leitung von Christian Curnyn nur Sämiges, nichts vom Rameau-typischen durchsichtigen Klang. Stattdessen soll man sich ergötzen an vielbeschäftigten „Ameisen“, die, per Live Video von hinten zugeschaltet, auf einem virtuellen, saftig grünen Rasenstück sich tummeln, Essensreste verzehren, über Lautsprecher die Chöre einsingen und zur Freude des genügsamen Publikums etwas „Ameisenhaftes“ ins eher stumpfe Stellungsspiel dieses eigentlichen Welten-Dramas bringen.

Was mit dem allen gemeint sein könnte? Man müsste man es aus dem Programmheft saugen, so man die Geduld davor aufbringt. Auf der Bühne umgesetzt sieht man wenig. Oder vielleicht ist das ja ein hochpolitischer Wink mit dem Zaunpfahl? Applaudiert wird jedenfalls wie immer. Für Rameau aber, dessen wunderbare Opern es verdienten, dem Vergessen entrissen zu werden, bringt der Abend nichts. Wenn man sich schon an Rameau wagt, bräuchte es Spezialisten, sowohl musikalisch wie szenisch, die viel Einfühlungsvermögen mitbringen für diese höchst diffizile Klang- und Gedankenwelt der frühen Aufklärung. Eine Tragédie, aber nicht lyrique.

Foto: © Monika Rittershaus

Archaisches Tribunal

Aribert Reimanns „Medea“

21. Mai 2017

Medea, immer wieder Medea. Ihr Mythos ist zur Projektionsfläche für die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Modelle geworden. Ist sie die kalte Rächerin oder die exzessiv Liebende? Ist sie die weise Frau und Zauberin und daher die als Hexe Verfolgte? Was geschah auf der Flucht mit ihrem Geliebten Jason aus dem fernen Land am Kaukasus, Kolchis, wo Jason das goldene Vlies mit ihrer Hilfe raubte? Hat sie auf der Rückreise den Bruder bloß in einen Hinterhalt gelockt, sodass Jason ihn töten konnte, oder hat sie ihn selbst ermordet und Stücke des Leichnams ins Meer geworfen, um die Verfolger auszubremsen?

Medea gräbt

Für den Komponisten Aribert Reimann ist sie vor allem die Fremde, die in ihrer neuen Umwelt Korinth angefeindet, ausgegrenzt wird. Sogar Jason faucht sie an, sich der Landessitte anzupassen und endlich das Kopftuch abzulegen. Beide sind sie noch immer auf der Flucht. Insbesondere Medea ist verdächtig, Schuld zu sein am Tod von Jasons Onkel, dem König Pelias im thessalischen Jolkos, wohin sie zuerst flohen. In Korinth will Jason zur Ruhe kommen, «Karriere» machen. Er bandelt an mit seiner früheren Freundin, der Königstochter Kreusa. Und die versucht intensiv die Kinder Medeas und Jasons zu bemuttern, sie Medea abspenstig zu machen, was Medeas Eifersucht noch mehrt.

Den «Medea»-Stoff wollte Reimann schon gleich nach seiner höchst erfolgreichen «Lear»-Oper vertonen, fand aber nicht recht den Zugang. Ein Kompositionsauftrag der Wiener Staatsoper – wahrlich eine Rarität –, führte ihn wieder zu dem Stoff und zu dem Tipp, es mal mit Franz Grillparzers bürgerlicher Version aus dessen Trilogie um das Goldene Vlies (1821) zu versuchen. Daraus destillierte er sein Libretto. Die Kinder werden in dieser fast modernen Version zum Erpressungspotenzial im Streit der Eltern. Und dass Medea am Ende das als Macht-Objekt begehrte Goldene Vlies nach Delphi in den Apollo-Tempel restituiert, gemahnt wie der Flucht-Aspekt an heute, von Grillparzer damals wohl als Reflex auf die Napoleonischen Kulturgut-Raubzüge eingefügt.

In Berlins Komischer Oper hat man nun Reimanns «Medea» erstmals seit der Wiener Uraufführung 2010 neu herausgebracht, inszeniert von dem Australier Benedict Andrews. Im minimalistischen Bühnenbild von Johannes Schütz zeigt er Medea vor allem als gnadenlose Rächerin, angeklagt in einer Art Prozess. Der Fluchtaspekt bleibt peripher. Der Raum ist nackt bis auf die schwarzen Brandmauern. Vorn ist mit dünnen Fäden ein Haus imaginiert mit einem kleinen Mäuerchen dahinter. Die Figuren, wenn sie aufgerufen sind, treten einzeln nach vorn. Anfangs gräbt Medea maulwurfartig eine Grube für die Kiste mit ihren Wertsachen: ein Gefäß mit dem Gift, das sie später Kreusa verabreichen lässt, und das Vlies.

Die Kinder im Sorgerechts-Streit sind bloße Puppen, die aber nicht so streng stilisiert geführt werden, wie man es erwarten müsste. Mal werden sie von Medea, mal von Kreusa geherzt und geküsst. Der Ankläger, den ein imaginäres Gericht nach Korinth geschickt hat, ist ein Transvestit im türkisgrünen Glitzerkleid (Kostüme: Victoria Behr). Reimann hat ihn als Counter (Eric Jurenas) komponiert. Medea wird von Anfang an im weißen Unterkleid gezeigt. Den blutroten Schleier, den sie als «Barbarin» anfangs auf dem Kopf trägt, gräbt sie am Ende wieder aus und stülpt ihn sich über, wenn sie zur Rache schreitet, der Kreusa als Hochzeitsgeschenk das Gift von der Amme (Nadine Weissmann) überreichen lässt, auf die kleinen Söhne einsticht und schließlich die Haus-Fäden kappt.

Reimanns Musik versucht die expressiv gesteigerten Emotionen in diesem Stellungskrieg vor allem mit einer Melodieführung in gezackten Koloraturen auszudrücken. Vielfach fühlt man sich bei dieser Art von Stimmführung an barockisierende Vorhalt-Technik erinnert. Am extremsten bei der Titelfigur, die Nicole Chevalier höchst beeindruckend profiliert. Eine Perle der Partitur die erste Begegnung von Medea mit ihrer Rivalin Kreusa (Anna Bernacka). Textlos in Vokalisen geben sie einander zu verstehen, dass sie sich nicht verstehen. Die Regie platziert sie dazu face à face auf von Medea aufgeschichtete Backstein-Sitzen. Beeindruckend auch der Endkampf Medeas mit ihrem Mann (Günter Papendell), aus dem sie beide als mit Kalk oder Kreide Gezeichnete hervorgehen. Und auch König Kreon (Ivan Turšić) macht in diesem Prozess keine souveräne Figur.

Steven Sloane lenkt im Graben das Riesenorchester mit seinem zwischen gedämpften Tönen und Blechbläser-gesättigten Klangballungen changierendem Instrumentarium. Einiges Schlagwerk ist im Parkett angeordnet, was zumal im finalen Mord besonderen Effekt macht. Der Applaus des Publikums war einhellig, besonders auch für den 81-jährigen Komponisten, dessen neueste, dann neunte Oper «L’invisible», schon im Oktober an der Deutschen Oper uraufgeführt werden soll. In der Pause lichteten sich die Reihen allerdings doch etwas. Das Dauer-Espressivo dieses ehelichen Endkampfs kann auch ermüden.

Und es klärt auch wenig von dem Widerstreit zwischen weiblicher und männlicher Psyche, der dahinterliegt. In den frühesten Überlieferungen ist Medea die «weise Frau», Teil der dreifaltigen weiblichen Urmutter-Gottheit, eine immer sich Verjüngende, Erneuernde – ganz und gar positiv besetzt. Zur Verbrecherin wird sie erst sehr viel später etwa bei Euripides, Zeichen der Ablösung des Matriarchats durch das Patriarchat. Dass sie ungerecht behandelt wird von den Männern, erzeugt den Ehe-«Krieg», macht sie zur Mörderin. Insofern wirkt dies Tribunal in seiner Archaik durchaus auch modern.

Über allem kreist als gleichsam Auge Gottes eine Riesen-Lampe. Oder ist es Zeichen für das Vlies, das im Mythos das Fell eines flug- und sprachfähigen Widders, einer Art Rettungsflieger, ist. Golden, weil am Kaukasus mit Schaf-Fellen Goldsand ausgewaschen wurde. Aber wie kam es in dieser Form in den Apollo-Tempel nach Delphi?

Foto: © Monika Rittershaus

Neuer GMD: Ainārs Rubiķis

An der Komischen Oper ab der Spielzeit 2018/19

08. Mai 2017

Ainars Rubikis - GMD ab 2018/19

An allem Neuen vor allem sei er interessiert, sagt der künftige GMD der Komischen Oper, Ainārs Rubiķis [zu sprechen in etwa: einárs rúbitjs]. An der Finnischen Oper sei er derzeit beteiligt an einem Ballettabend, für den ein HipHop-Sänger-Komponist Musik beisteuert. Aufgefallen war er dem Orchester der Komischen Oper bei einem Konzert mit Werken des Barock, Strawinskys „Pulcinella“-Suite und Beethovens „Eroica“, die er nach seinen ganz eigenen Vorstellungen aufführen wollte. Der Intendant der Komischen Oper, Barrie Kosky bot ihm den Job spontan an nach einem „Onegin“-Gastdirigat in seiner Inszenierung, letzten Winter.

Ainārs Rubiķis ist Lette, Jahrgang 1978. Nach dem Studium in Lettland und Meisterkursen u.a. bei Mariss Jansons gewann er einige renommierte Wettbewerbe: den Young Conductors Award in Salzburg (2011) und den Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb der Bamberger Symphoniker (2010). 2012 bis 2014 war er Musikchef des Staatlichen Theaters Nowosibirsk. Inzwischen hat er an zahlreichen anderen Häusern gearbeitet, neben seiner Heimatstadt Riga u.a. in Basel, Chicago, Moskau. Demnächst auch an der Welsh National Opera Cardiff.

Seinen Einstand in Berlin noch vor seinem offiziellen Amtsantritt in der Saison 2018/19 gibt er mit Schostakowitschs „Nase“, die Hausherr Kosky als Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden am 18.Juni 2018 in Berlin herausbringt. Der Vertrag ist wie üblich zunächst auf drei Jahre terminiert. Es gibt eine Option zur Verlängerung bis zu Koskys Vertragsende im Juli 2022. Seine Agentur ist in Askonas Holt in London.

Foto: © Victor Dmitriev

Schweinskopf mit Sahne

Mussorgskis unvollendete komische Oper „Der Jahrmarkt von Sorotschinzi“

02. April 2017

Sehr schön, einfühlsam, wie aus dem Nichts kommend der Anfang. Auf der noch dunklen Bühne der erweiterte Chor. Sanft erklingt zur lautenartigen Bandura ein sehnsüchtiges Liebeslied. Dann flammen kleine Lichtlein auf, bis schließlich die eigentliche Oper beginnt.

Schweinefraß

Seine letzte Oper „Der Jahrmarkt von Sorotschinzi“ konnte der Komponist Modest Mussorgski nicht vollenden. Als Vorlage für das Libretto, das Mussorgski wie gewohnt sich selbst einrichtete, diente eine gleichnamige Erzählung Nikolai Gogols (1832). Geschildert wird von dem auf Skurriles abonnierten Dichter das dörfliche Leben in seiner ukrainischen Heimat. Es geht um einen Teufel, der angeblich alljährlich in dem Ort auftaucht und seinen dort versetzten roten Rock zurückhaben will. Mussorgski suchte diese Volksmär zu versinnlichen unter anderem durch Volkslieder aus der Region. Für die Inszenierung des Torsos nutzte das Team der Komischen Oper um Chefregisseur und Intendant Barrie Kosky einige dieser Lieder wie das von Rimski-Kosakoff stammende Chorlied zu Beginn. Die von Pawel Lamm und Wissarion Schebalin „vervollständigte“ Fassung benutzt daneben auch anderes musikalisches Material. Zumal der unvollendete dritte Akt lässt den Abend aber dann doch ziemlich flickenteppichhaft erscheinen.

Dabei hat der erste Akt, die Schilderung des Jahrmarkttreibens, einen dramaturgisch durchaus stringenten Zug. Wenn allerdings bei den beiden ewig betrunken über die Bühne torkelnden männlichen Hauptfiguren Tscherewik (Jens Larsen) plus Gevatter (Tom Erik Lee) die Hosen fallen, gleitet das Spiel mehr und mehr von der mehr oder minder derben Komödiantik hinüber in den Klamauk. Insbesondere die Bliny-backende Bäuerin Chiwrja (Agnes Zwierko) darf/muss (2.Akt) auf dies Gleis abbiegen. Ihren pompösen Haaraufbau tunkt sie in eine Sahnetorte ein, den geilen Popen Affanassi steckt sie statt ins eigene ins Hinterteil eines gerupften Riesen-Geflügels. Im Schlussakt wir dann noch ein monströses Schweine-Ritual aufgetischt. Schweinsköpfe wanken auf Stelzen. Fürs jüdische Schtetl damals ein Affront.

Recht froh kann man an diesem Abend nicht werden. Für Regisseur Kosky gab’s am Ende auch einige Buhs, für die er sich bedankte, indem er seinerseits den Buhern sein Hinterteil zukehrte. Aber auch die doch recht einspurige Choreografie mit Hopsen und Armrecken wirkt auf Dauer wenig animierend. Auch hat Mussorgskis Komposition gegenüber den recht eindrücklichen Chorgesängen und Tänzen keinen leichten Stand. Gewiss ist diese Oper nicht seine stärkste Hinterlassenschaft – so „komisch“ wie Wagners „Meistersinger“, die Kosky als nächstes in Bayreuth inszeniert. Und man kann sich gut vorstellen, dass Mussorgski sich lieber dem Alkohol hingab, als das Werk zu vollenden. Immerhin – man hat dies nur etwa zweistündige Werk mal auf der Bühne kennen gelernt. Und sogar in Russisch. Der scheidende GMD Henrik Nánási gab seine letzte Premiere mit Verve.

Felsenstein hatte es übrigens im ersten Jahr seiner Intendanz auf dem Spielplan. Die sowjetische Militär-Administration, die ihn an der Behrenstraße ins Amt hievte, wollte ja vor allem Unterhaltungstheater. 70 Jahre ist’s nun her – was in der kommenden Spielzeit mit weiteren Neuauflagen erfolgreicher Felsenstein-Inszenierungen ausgiebige gefeiert werden soll. Wie sagte Kosky jüngst im Pressegespräch über die kommende Spielzeit, man sei Felsenstein zutiefst dankbar, dass die leichtere Oper plus Operette und Musical zum Repertoire des Hauses zähle. Felsenstein selbst war darüber gar nicht beglückt. Aber er wollte dieses Haus mit diesen besonderen Möglichkeiten des Ensembletheaters. Und auch er musste die Kasse füllen – und das fiel je länger je schwerer…

Foto: © Monika Rittershaus

Smartphone-Flachsinn

Rossinis „Barbier“ als Smartphone-Oper

09. Okt. 2016

Er gilt als eine der interessantesten Moskauer Theatermacher, hat das auch schon im Westen bewiesen bei Arbeiten an der Komischen und der Stuttgarter Oper. Jetzt war er wieder zu Gast in Berlin. Eine Komödie sollte es sein, ungewohnt für ihn, wie er sagt, habe er doch in letzter Zeit sich vor allem mit Mord und Todschlag befasst. Und so richtig froh wird man bei diesem Rossinischen „Il barbiere di Siviglia“ auch nicht. Ziemlich flach die Scherze, und nur an der Oberfläche „heutig“.

Der Graf und sein Staenderchen

Der Orchestergraben ist zu Beginn hochgefahren. Die Bühne mit einer weißen Wand verrammelt. Die Musiker in Alltagsdress. Der Dirigent und Almavivas Diener kommen herein. Der Diener eifrig am Handy fummelnd, während die Ansage ertönt: keine Handys während der Vorstellung. Dann auch der Conte, ebenfalls mit Handy. Und immer wollen sie irgendwelche Selfies schießen. Oder sie lümmeln auf Polsterstühlen, die vorn an der Rampe stehen Richtung Bühne. Während der Dirigent mit der Ouvertüre beginnt, wird er immer wieder von den beiden angerempelt: schneller, kürzer das. Der Conte verkriecht sich unter die Stühle.

Wenn dann der 1.Akt beginnt, flimmern Handy-Fotos auf der weißen Bühnenwand auf. Chat- Texte, SMS. Des Conte Flirt mit Rosina, die man später mit gebrauchten Mänteln auf einem Markt auftauchen sieht. Daneben ihr Onkel Bartolo, ebenfalls mit Second-Hand-Ware. Regisseur Kirill Serebrennikov (auch sein eigener Bühnenbildner und Ausstatter) sieht in ihm einen Mann der alten Schule, der nur mal mit einem einfachen Handy telefoniert, zuhause in seinem Antiquitätenladen brav seine Suppe löffelt, während Rosina bei ihrer großen Arie mit Stock und Messer scheinbar attackiert. Almaviva kommt später dann als IS-Kämpfer ins Haus, wenn er den Einquartierungs-Befehl zeigt.

Ach ja, der Figaro. Er tritt auf – ganz in Schwarz und mit einem schwarzen Sonnenmal als Brustschmuck – zu seiner ersten Arie aus dem Off im 1.Rang, kommt über eine Eisentreppe auf die Bühne herabgestiegen, von einer Hand-Kamera begleitet. Er ist hier die Zentralfigur, der auch später den Muslim-Almaviva aus dem Laden von Bartolo schmeißt samt seinen drei Double-Kumpanen, die auch immer mal wieder mit der Rauchmaschine wedeln, wenn es irgendjemand zu bejubeln gilt. Etwa den Conte, der sein Ständchen für Rosina übt. Oder auch Rosina. Etwas tiefer gehend ist das Finale des ersten Akts. Bartolo erlebt da einen Albtraum mit allerlei finsteren oder tierischen Gestalten, in die der Chor hier verkleidet ist. Und so weiter und so fort.

Gesungen wird leider nicht so besonders gut. Ernst zunehmen wirklich der Bartolo von Philipp Meierhöfer mit einem sehr gut geführten Organ. Dominik Köninger als Figaro macht ebenfalls stimmlich eine recht gute Figur. Tansel Akzeybeks Stimme als Graf Almaviva klingt auch hier eher blechern. Nicole Chevalier hat ihre Koloraturen und ihre Grimassen zwar locker im Griff, singt aber leider selten wirklich sauber. Das Orchester unter Antonello Manacorda klingt arg pauschal, ohne die instrumentale Finesse und Durchsichtigkeit, die man für Rossini bräuchte. Alles in allem ein enttäuschender Spielzeit-Auftakt, auch wenn Regisseur Serebrennikov meint, mit seiner Inszenierung den Smartphone-Flachsinn der jüngeren Generation heute gegeißelt zu haben. Er fällt nur selber darauf herein.

Foto: © Monika Rittershaus
Wie einer Mitteilung aus der Komischen Oper zu entnehmen ist, sollte der Dirigent der Produktion, Antonello Manacorda, künftiger GMD werden. Wegen Meinungsverschiedenheiten hat er jedoch abgesagt - was sicher kein Fehler ist.
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